Das »Modell Riace« beruhte auf der Investition staatlicher Zuschüsse in Maßnahmen, die auf eine nachhaltige Wirkung zielten und Einwanderer langfristig in die Gemeinschaft eingliederten, nicht nur für die Dauer eines Integrationsprogramms.
von Aureliana Sorrento, 27.6.19
Am 2. Oktober 2018 ließ die Staatsanwaltschaft von Locri, einer Kleinstadt an der ionischen Küste Kalabriens, den Bürgermeister von Riace, Domenico Lucano, unter Hausarrest stellen. Zwei Wochen später wurde der Hausarrest in ein Aufenthaltsverbot umgewandelt. Seitdem darf Domenico Lucano Riace nicht betreten. Ihm werfen die Staatsanwälte u.a. Begünstigung illegaler Einwanderung durch die Schließung von Scheinehen, unrechtmässige Vergabe der Müllabfuhr, betrügerische Vergabe von Integrationsprojekten, Betrug gegen den Staat und Gründung einer kriminellen Vereinigung vor.
Riace ist eine kleine Gemeinde an der Sohle des italienischen Stiefels. 1700 Einwohner auf zwei Ortsteilen verteilt, der eine an der Küste, der andere in den Hügeln des Hinterlands. Unter normalen Umständen hätte die Nachricht nur die lokale Presse interessiert. Doch sie hat in Italien und über Italien hinaus einen Aufschrei ausgelöst. Der Schriftsteller Roberto Saviano schrieb, am Verfahren gegen Lucano werde man ermessen können, inwieweit Italien noch eine Demokratie oder in ein autoritäres Regime abgedriftet sei. Denn man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Vorwürfe gegen Lucano viel mehr mit der italienischen Flüchtlingspolitik als mit Verfehlungen des ehemaligen Bürgermeisters zu tun haben. Die Staatsanwälte haben ja selbst eingeräumt, es gebe keinen Indiz dafür, dass Lucano auch nur einen Cent an öffentlichen Geldern in die eigene Tasche gesteckt habe.
Seit dem 1. Juni 2018 wird Italien von einer Koalition aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsnationalen, rassistischen Lega regiert. Das Innenministerium führt der Lega-Chef Matteo Salvini. Hauptthema seines Wahlkampfes waren die Abwehr und die Kriminalisierung von Migranten; als Innenminister Italiens hat er sich vor allem dadurch profiliert, dass er Schiffen privater Seenotretter, die Migranten im Mittelmeer gerettet hatten, das Anlegen in italienischen Häfen verweigerte.
Domenico Lucano ist quasi Salvinis natürlicher Feind. Von 2004 bis zu seinem Arrest Bürgermeister Riaces, hatte er die Gemeinde in ein multiethnisches Dorf verwandelt, das weltweit als Modell gelungener Integration galt. In Riace Borgo, dem alten Ortskern im Hinterland, lebten zeitweise ebenso viele Einheimische wie Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten. Konflikte zwischen der angestammten und der zugezogenen Bevölkerung hat es im Dorf aber nie gegeben, noch irgendein Ereignis, das die öffentliche Sicherheit gefährdet hätte. Das widerlegt Salvinis These, dass Einwanderung ein Sicherheitsproblem darstellt. Im Gegenteil: Riace zeigte der Welt, dass Einwanderung den Einheimischen Vorteile bringen kann.
Das kalabrische Hinterland ist mit Geisterdörfern gespickt, deren Einwohner im Laufe des Zwanzigsten Jahrhunderts an die Küste, nach Norditalien oder ins Ausland zogen, um Arbeit zu suchen. Kalabrien ist die ärmste Region Italiens, Arbeitslosigkeit und Auswanderung sind hier ein altes und immerwährendes Übel. Auch Riace borgo drohte die Entvölkerung, als 1998 ein Schiff voll kurdischer Flüchtlinge vor seiner Küste anlandete. Domenico Lucano, damals technischer Assistent an einer Berufsschule und Linksaktivist, sah in ihnen ein Segen für sein Heimatdorf. Ein paar Telefonate rund um die Welt genügten, und schon hatten er und die Freunde, die seinen Plan unterstützten, um die 30 Häuser beisammen, in die sie die Neuankömmlinge einziehen lassen konnten. Die ehemaligen Arbeitsmigranten – »Wirtschaftsflüchtlinge«, wie man sie heute nennt – stellten den neuen Migranten – in dem Fall Kriegsflüchtlingen – ihre Häuser zur Verfügung.
Das war der erste Schritt zum Aufbau einer Solidargemeinschaft, die von Anfang an als alternativ zu der sie umgebenden Welt gedacht war. Nicht zufällig wurde der Verein, den Lucano mit gleichgesinnten Freunden und kurdischen Flüchtlingen gründete, Città futura, Stadt der Zukunft, benannt. Der Name spielte auf die Utopie einer Civitas soli(Stadt der Sonne) an, die der kalabrische Philosoph Tommaso Campanella Anfang des 17. Jahrhunderts imaginiert hatte: ein universaler – allerdings theokratischer – Staat mit einer kollektivistischen Gesellschaftsordnung. Riace, das später allein wegen der Integration von Flüchtlingen weltweit bekannt wurde, war zunächst ein politisches Projekt, das einerseits an die italienische Tradition der mittelalterlichen Kommunen anknüpfte, andererseits den anarchosyndikalistischen Vorstellungen seiner Initiatoren entsprach.
In den Anfangsjahren konnte sich das Projekt selbst tragen, nicht zuletzt dank der Solidarität immer größerer Kreise. Die verfallenden Häuser des alten Ortskerns richteten Flüchtlinge mit den eigenen Händen wieder her. Das Baumaterial kaufte man anfangs mit Geld, das man unter sich und im Dorf sammelte. Dann sprang Banca etica mit einem Kredit ein. Denn als sich die Kunde davon verbreitete, was in Riace geschah, wurde die Gemeinde von vielen Seiten unterstützt: von der Friedens- und Umweltbewegung, vom italienischen Netzwerk der solidarischen Wirtschaft, von Fair-Trade-Organisationen und eben auch von der nachhaltigen Finanzwirtschaft. »Solidarische Touristen« kurbelten den Kleinhandel an. Manch ein Ausgewanderter kehrte ins Heimatdorf zurück, um dort einen Laden aufzumachen.
Alles änderte sich, als die Anzahl der Migranten zunahm, die in Riace ankamen, oder von der Präfektur von Reggio Calabria, der Provinzhauptstadt, dorthin geschickt wurden. Dann reichte die Mikrowirtschaft des Dorfes nicht mehr aus, um deren Aufnahme zu finanzieren. Die Gemeinde musste auf staatliche Zuschüsse zurückgreifen.
Erst 2001 war in Italien einen rechtlichen Rahmen geschaffen worden, um Flüchtlinge in kleinen Gruppen und normalen Häusern unterzubringen und dafür Fördermittel in Anspruch zu nehmen. Das »System zum Schutz von Asylbewerbern und Flüchtlingen«, abgekürzt SPRAR, sollte nicht nur die Unterbringung und Verpflegung der Gäste gewährleisten, sondern auch deren Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt. Welche Integrationsmaßnahmen tatsächlich finanziert wurden, lag im Ermessen der SPRAR-Betreiber, die allerdings nur öffentliche Anstalten, Gemeinden oder Genossenschaften sein durften. Nachdem Domenico Lucano 2004 zum Bürgermeister Riaces gewählt worden war, verwendete die Gemeinde di staatlichen Zuschüsse für die Integration von Flüchtlingen anders als andere SPRAR-Einrichtungen.
So wurden Werkstätten eröffnet, in denen Migranten und Einheimische alte kalabrische Handwerke ausübten, erstere als Lehrlinge, letztere als Lehrkräfte. Auch in den zwei lokalen Kooperativen, die die Gemeinde mit der Müllabfuhr beauftragte, arbeiteten Kalabreser und Migranten zusammen. Letztere erhielten in Riace, von der Wohnung abgesehen, keine Sachleistungen plus das in Italien übliche Taschengeld von 2,50 € täglich, sondern einen Lohn. Da das Innenministerium die zugeteilten Zuschüsse immer mit ein Jahr Verspätung überwies, führte Lucano Gutscheine ein, um die Löhne zu zahlen. Sie funktionierten wie eine Art Lokalwährung, mit der die Flüchtlinge in den Läden von Riace und Umgebung einkaufen konnten. Die heimischen Händler nahmen die Gutscheine an, weil sie sie im Rathaus in Euro umtauschen konnten, sobald die Gelder vom Ministerium eintrafen. Dieses System stärkte den lokalen Handel und gab den Flüchtlingen die Möglichkeit, selber zu entscheiden, was sie aßen, während sie sich in üblichen Aufnahme-Einrichtungen mit dem zufrieden geben müssen, was ihnen aufgetischt wird. Ein Lehrbauernhof wurde gebaut und eine Ölpresse gekauft, um Öl zu produzieren. Ein Brunnen gebohrt, um Riace von privaten Wasserversorgern unabhängig zu machen und die Bewohner mit kostenlosem Wasser zu versorgen. Die Schule und der Kindergarten, die geschlossen worden waren, wurden wieder eröffnet. Denn die Migranten, die nach Riace kamen, hatten Kinder. Mit ihren Stimmen, die die Gassen füllten, kehrte das Leben ins Dorf zurück. Das scheint vor allem die Ältesten in Riace Borgo erfreut zu haben. Darauf weisen sie als Erstes hin, wenn man sie auf das Zusammenleben mit den neuen Bürgern anspricht. Sie nennen sie auch nicht Migranten, noch Asylbewerber oder Ausländer, sondern »forestieri«: Auswärtige. Und Auswärtige sind in Kalabrien alle, die von auswärts kommen, egal woher; nach alten kalabrischen Traditionen gebührt dem Auswärtigen, der in Not an deine Tür klopft, Kost und Logis.
Diesen Aspekt der kalabrischen Mentalität führt Domenico Lucano gerne als Grund an, weshalb die Integration von Migranten verschiedener Herkunft, Sprache und Hautfarbe in Riace reibungslos funktionierte. Und dass die Küsten Kalabriens schon immer Orte des Durchgangs waren, an denen sich Völker vermischten. Aber eine Rolle dürfte auch gespielt haben, dass die Aufnahme von Flüchtlingen der einheimischen Bevölkerung konkrete Vorteile brachte: Durch sie entstanden in Riace 80 Arbeitsplätze – 80 »saubere« Arbeitsplätze im Herrschaftsgebiet der ‘Ndrangheta, der kalabrischen Mafia.
Das »Modell Riace« beruhte auf der Investition staatlicher Zuschüsse in Maßnahmen, die auf eine nachhaltige Wirkung zielten und Einwanderer langfristig in die Gemeinschaft eingliederten, nicht nur für die Dauer eines Integrationsprogramms. Lange gelobt, wurde dieses Modell in dem Augenblick unerwünscht, in dem die italienische Einwanderungspolitik eine Wende vollzog.
Das geschah nicht erst im Juni 2018 mit dem Einzug von Matteo Salvini ins italienische Innenministerium. Sein Vorgänger, der Sozialdemokrat Marco Minniti war es, der drastische Maßnahmen ergriff, um den Zuzug von Flüchtlingen aus Afrika aufzuhalten. 2017 vereinbarte er mit den libyschen Milizen eine verstärkte Zusammenarbeit mit der libyschen Grenz- und Küstenwache, die seitdem Flüchtlinge im Mittelmeer abfängt und in libysche Lager bringt. Zu diesem Zweck wurden die libyschen Küstenwächter von Italien ausgebildet und mit Gerät und Waffen ausgestattet. Dass in libyschen Lagern Menschen gefoltert, vergewaltigt, als Arbeitssklaven ausgebeutet und getötet werden, bekümmert weder die italienische noch andere europäische Regierungen.
Dieser Politik der Zuwanderungsabwehr entsprechend schickte der Präfekt von Reggio Calabria, der dem Innenministerium untersteht, Inspektoren nach Riace. Sie sollten prüfen, ob die öffentlichen Gelder, die der Staat für die in Riace lebenden Flüchtlinge bereitgestellt hatte, ordnungsgemäß verwendet wurden. In den Berichten der Inspektoren war dann von Misswirtschaft die Rede. Daraufhin stoppte das Innenministerium die Auszahlung der schon zugesagten Mittel – weshalb die Gemeinde Riace, die das Geld vorgeschossen hatte, tief in die roten Zahlen geriet. Zugleich leitete die Staatsanwaltschaft von Locri Ermittlungen ein.
Seit dem 11. Juni muss sich Domenico Lucano mit 26 anderen Angeklagten wegen Anschuldigungen vor dem Gericht von Locri verantworten, die sich im Vorwurf der missbräuchlichen Verwendung öffentlicher Mittel zusammenfassen lassen. Der Bau eines Lehrbauernhofs, die Einrichtung von Werkstätten, der Erwerb einer Ölpresse und vieles mehr stehen für die Staatsanwälte in keinem Zusammenhang mit der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, für welche die Mittel zugeteilt wurden.
Ein politischer Prozess? In der Regel bestehen italienische Staatsanwälte auf die Unabhängigkeit, die ihnen die italienische Verfassung garantiert. Dass sie sich von Politikern lenken lassen, ist eher unwahrscheinlich. Aber dass die Stimmung im Lande auch sie beeinflusst, lässt sich nicht ausschließen. Und die vorherrschende öffentliche Meinung ist im heutigen Italien rassistisch. Die Ansicht, Migranten würden den Italienern Arbeitsplätze wegnehmen und auf Kosten eines Staates leben, der seinen eigenen Bürgern hingegen keinen Schutz bietet, ist weit verbreitet. Solche Ressentiments hat Matteo Salvini im Wahlkampf 2018 – wie auch im Europa-Wahlkampf 2019 – ausgenutzt und bestärkt. Seine Parole lautete: Italiener zuerst!
Am 28. November 2018 passierte ein von ihm entworfenes Sicherheitsgesetz die italienische Abgeordnetenkammer. Danach gelten humanitäre Gründe nicht mehr, um einen Aufenthaltstitel in Italien zu erhalten. Das gilt auch rückwirkend. Artikel 2 erlaubt es, Asylbewerber bis zu 180 Tage in Ausweisungszentren festzuhalten. Artikel 12 schafft das »System zum Schutz von Asylbewerbern und Flüchtlingen« – SPRAR – faktisch ab. Nur anerkannte politische Flüchtlinge und unbegleitete Minderjährige haben noch Anrecht auf Integrationsmaßnahmen. Kurz darauf wurden SPRAR-Einrichtungen reihenweise geschlossen.
Riaces SPRAR-Einrichtungen hatte Salvini schon am 9. Oktober auflösen lassen. Die dort lebenden Asylbewerber und Flüchtlinge wurden in Aufnahmezentren gebracht oder schlichtweg auf die Straße gesetzt. Fast alle Migranten, die über eine Aufenthalts- und eine Arbeitserlaubnis verfügen und in Riace von ihrer Arbeit lebten, sind weggezogen. Die anderen warten darauf, genug Geld beisammen zu haben, um sich auf den Weg zu machen. Derweil überleben sie dank den Zuwendungen, die ihnen das Netzwerk der solidarischen Gemeinden Recosol, dem Riace angehört, zukommen lässt. Die Einheimischen, die in den Integrationsmaßnahmen Beschäftigung gefunden hatten, sind wieder arbeitslos und gedenken ebenfalls zu emigrieren.
Bei den Europawahlen am 26. Mai hat Salvinis Lega mit 34,3% einen Erdrutschsieg eingefahren. In Riace stimmen 30,7% der Wähler für die Europa-Kandidaten der Lega. Bei den Kommunalwahlen, die in Riace am gleichen Tag stattfanden, wurde Antonio Trifoli zum Bürgermeister gewählt – der Spitzenkandidat einer nominell unabhängigen Liste, auf der auch Lega-Mitglieder kandidierten. Er will nun auf Tourismus und Folklore setzen, um die Gemeinde wieder auf die Beine zu helfen. Für die exorbitanten Schulden, die Riace angehäuft hat, ist in seiner Darstellung nicht etwa das Innenministerium verantwortlich, das die Riace zugesagten Mittel verweigerte, sondern die frühere Stadtregierung. Sie habe die Flüchtlinge allzu großzügig versorgt und die wahren Bürger Riaces verprellt. Eine Mär, die wohl bei vielen verfing.
Die Älteren in Riace Borgo haben sich davon jedoch nicht beirren lassen. »Riace ist wieder tot, tot!«, schimpft eine Frau. »Es ist Schluß mit Riace«, klagt eine Greisin. »Zuerst ist die Jugend aus Riace weggezogen. Dann kamen die Auswärtigen. Nun sind auch die Auswärtigen weggezogen, und wir Alten sind alleine geblieben. Vier arme Leutchen, von Gott und den Menschen verlassen!«
Dieser Beitrag ist eine Überarbeitung eines Radiofeatures im Deutschlandfunk: www.deutschlandfunkkultur.de