von Gundolf S. Freyermuth, 26.5.10
Vor unseren Augen vollzieht sich ein doppelter Medienumbruch. Der eine, von dem in der ersten Folge der iPadologie bereits kurz die Rede war, geschieht innerhalb digitaler Technologie: die Ausbildung eines neuen PC-Paradigmas. Neben Desktops und Laptops treten Tafel-PCs.
Sie entfalten ihre Wirkung jedoch zugleich im Kontext eines größeren, zivilisatorisch noch wichtigeren Umbruchs. Er betrifft seit Ende des 20. Jahrhunderts die Vielzahl analoger Medien, die unser zivilisatorisches Wissen bergen. Sukzessive lösen sich deren Gehalte von ihren überkommenen analogen Speichern und wandern ins digitale Software-Medium. Im Bereich der Töne und Bilder ist diese Migration bereits nahezu abgeschlossen: Auditive, visuelle und audiovisuelle Werke, einst auf Hardware wie Schallplatte, Tonband, CD, Zelluloid, Videoband oder DVD abgespeichert, kursieren heute als “Software-Dateien”, die sich mit beliebiger Hardware nutzen lassen, mit Smartphones, Laptops, Desktops oder digitaler Unterhaltungselektronik wie Hifi-Anlagen, Fernseher oder Projektoren.
Die Durchsetzung von Tafel-PCs scheint nun den – für unsere Kultur weiterhin zentralen – Bereich des Schriftlichen in den Sog der Digitalisierung zu ziehen. Ohnehin werden Texte seit einem Vierteljahrhundert überwiegend an Computern produziert. Endlich aber beginnen sie, sich auch in Distribution und Rezeption von ihrem überkommenen Hardwaremedium Papier zu befreien. Als Software gelangen sie in immer größerer Zahl auf die Displays tafelförmiger PCs, auf Smartphones wie Apples iPhone oder Googles Android, E-Book-Reader wie dem Sony Reader oder Amazons Kindle und vernetzte Touch-Tafel-PCs wie dem iPad.
„Diese neuen Tafel-PCs“, prognostizierte etwa Daniel Akst in der Los Angeles Times, „werden Tinte auf Papier einen kräftigen Schubs in Richtung Papierkorb der Geschichte geben und zur Neuerfindung nicht nur von Büchern beitragen, sondern auch von Zeitungen, Magazinen und anderem Lesestoff, den wir traditionell als Druckware konsumiert haben.“
Papier: Von der Liebe zur Allergie
Bevor ich die Indizien vorstelle, die für einen solchen Wandel sprechen – für die kulturelle Marginalisierung der alten Holzmedien Buch, Zeitung, Zeitschrift –, aber ein persönliches Geständnis: Auch ich habe Papier einst so geliebt …
Als ich vor einem Vierteljahrhundert die ersten Zeilen auf einem Computer schrieb, sammelte ich schöne Bücher, besaß ein ledernes Filofax, das ich mit ausgefallenen Papiereinlagen füllte, und trauerte, während ich dem funkelnagelneuen Nadeldrucker zusah, wie er unter grausamen Sägegeräuschen entsetzlich anzusehende Endlospapier-Seiten ausstieß, dem klassischen Schriftbild meiner Kugelkopfschreibmaschine nach.
Doch mit jedem Jahr, das seitdem verging, wurde mir Papier zu einer größeren Last. Was man liest und mag, muss man umständlich abtippen oder einscannen. Bücher in größeren Mengen verrammeln die Wohnung, machen jeden Umzug zur Qual und verstauben nach der Erstlektüre ziemlich nutzlos vor sich hin, da man so gut wie jedes Textzitat schneller online findet als in der eigenen Tote-Bäume-Bibliothek. Ebenso überflüssig ist alle Post geworden, die nicht Waren, sondern lediglich Informationen befördert. Erst trägt man Briefe und Drucksachen in die Wohnung, dann digitalisiert man die in ihnen geborgenen Daten auf die eine oder andere mühsame Weise, um anschließend das Papier zum Müll zu schleppen. Und nach nur ein paar Tagen Abwesenheit quillt der Briefkasten über, aller Welt signalisierend, dass da eine Wohnung einbruchsreif ist.
Kurzum: Inzwischen hege ich eine tiefe Abneigung gegen Papier. Vor Jahren schon habe ich sämtliche Zeitschriften-Abonnements gekündigt. Meine in einem halben Jahrhundert angehäuften 16.000 Bücher – inklusive der dreizehn, die ich selbst veröffentlicht habe – lagern seit ein paar Monaten in einem 40-Fuß-Container. Die klare Weite buchfreier Wände ist ein Genuss. Und nach zwei Monaten Erfahrung mit dem iPad habe ich beschlossen, kein Buch, keine Zeitung, keine Zeitschrift freiwillig mehr auf Papier zu lesen. – Wobei mich mein Beruf leider weiterhin zu unfreiwilligen Papier-Lektüren zwingt …
Papier <–> Bits: Die analoge Hardware-Krise
Die Stärke meiner Papier-Allergie mag – noch? – extrem scheinen. Grundsätzlich fügt sich die Abkehr vom Papiermedium jedoch in einen kulturellen Langzeittrend, den zuerst Harold Innis in seiner epochalen Studie Empire and Communications (1950) aufzeigte. Denn im historischen Staffellauf der Speichermedien für unser kulturelles Wissen – von Ton und Papyrus zu Pergament und schließlich Papier in seiner Leinen- und Holz-Variante – lässt sich ein Langzeittrend erkennen: zu Materialien, die zum einen größere Textmengen dauerhaft speichern, zum zweiten leichter verfügbar und zum dritten leichter zu transportieren sind.
Papyrus war erheblich leichter als Ton, wuchs jedoch lediglich im Nildelta und speicherte wenig dauerhaft. Pergament wog ein wenig schwerer als Papyrus, war jedoch überall herstellbar, wo es Kälber, Schafe oder Ziegen gab, und zudem haltbarer und insofern trotz höheren Gewichts besser zu transportieren. Leinenpapier wiederum war leichter als Pergament, nahezu ebenso dauerhaft, freilich nur begrenzt in Städten herstellbar, nach Maßgabe vorhandener Leinenabfälle. Holzpapier schließlich besaß das gleiche Gewicht, speicherte kaum weniger dauerhaft, ließ sich jedoch industriell in weit größeren Mengen herstellen. Die nächste Stufe der medialen Entwicklung, das konnte Harold Innis Mitte des vorigen Jahrhunderts haarscharf schon erkennen, begann mit der analogen Elektronisierung.
Wenn also die entscheidenden Kriterien für die kulturelle Akzeptanz von Speichermedien – neben ihrer Basisfähigkeit leidlich zuverlässiger Speicherung – erschwingliche Verfügbarkeit und Transportfähigkeit sind, dann kulminiert der Jahrtausende währende mediale Rationalisierungsprozess gegenwärtig im Übergang zum digitalen Transmedium. Denn Software übertrifft die Leichtigkeit und massenhafte Herstellbarkeit von Papieratomen durch die arbiträre Verfügbarkeit und gänzliche Gewichtslosigkeit von Bits und steigert damit – auf Basis der globalen Datennetze – die Erschwinglichkeit und Geschwindigkeit des Transports zur nahezu kostenfreien Echtzeitdistribution.
Wer an der eskalierenden Migration des textuellen Wissenstransfers von analog zu digital weiterhin zweifelt – wie gerade wieder bei einem einschlägigen Kongress zur Zukunft des Buchs der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, jedenfalls wenn man der FAZ-Berichterstattung trauen kann –; wer also an eine fortdauernde Dominanz von Papierbuch, Papierzeitschrift und Papierzeitung glaubt, dem sei empfohlen, mit offenen Augen auf unseren Alltag zu schauen. In U-Bahnen, Abfertigungshallen von Flughäfen oder Wartesälen von Behörden sieht man Papier häufiger in den Händen älterer Leser, während jüngere zunehmend auf die Screens von Smartphones und Laptops schauen. Da sitzen sie gewissermaßen und lesen, die zwanzig Prozent der Käufer, die deutsche Tageszeitungen im vergangenen Jahrzehnt verloren haben. Im amerikanischen Alltag fällt zudem die Vielzahl von Menschen ins Auge, die bereits statt Magazinen und Büchern E-Book-Reader mit sich tragen. Die Zukunft, an die viele immer noch nicht glauben wollen, hat längst begonnen.
Jason Epstein, der Grandseigneur des amerikanischen Verlagswesens, schrieb Anfang März mit Blick auf das Amazon Kindle, den Sony Reader und vor allem das iPad in der New York Review auf Books: „Der Übergang der Buchindustrie weg von physischen Warenbeständen, die in Lagerhäusern vorgehalten und mit Lastern zum Einzelhandel transportiert werden, und hin zu digitalen Dateien, die im Datenraum lagern und an nahezu jeden Ort dieser Erde so schnell und so billig ausgeliefert werden wie E-Mail, kommt gerade in Gang und ist nicht mehr rückgängig zu machen.“ Das iPad, vertraute Epstein dann im April New Yorker-Reporter Ken Auletta an, biete den Verlegern eine hervorragende Gelegenheit, ihre Kosten dramatisch zu senken und zugleich wieder die verlegerischen Freiheiten zu erlangen, die sie im Prozess industrieller Verlagskonzentrationen Stück für Stück verloren haben: „Als ich begann, für Random House zu arbeiten (um 1950, GSF), schmissen zehn Lektoren den Laden. Wir hatten einen Verkaufsleiter und Buchvertreter. Wir hatten einen Buchhalter, einen, der die Pressearbeit machte, und einen Präsidenten. Wir waren unglaublich erfolgreich. Wir brauchten nicht achtzehn Verwaltungsebenen mit Abteilungsleitern und Managern. Die Digitalisierung macht das wieder möglich und auch unvermeidlich.“
Die nun anstehende massenhafte Migration aus den diversen analogen Hardwaremedien ins Medium digitaler Software behinderte allerdings in der Vergangenheit ein misslicher Rückstand der Hardware. Desktop- und Laptop-PCs wie auch die meisten Smartphones beschwerten die Rezeption: zum einen durch eine Vielzahl technischer Unzulänglichkeiten (etwa die Größe und Qualität des Bildschirms, die Leistungsstärke der Batterien, die Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit der Vernetzung); zum zweiten durch ihren jeweiligen Formfaktor, ihre physische Gestalt, die mobile und intime Nutzung unmöglich oder zumindest unbequem machte. Abhilfe versprechen nun Touch-Tablet-PCs wie das iPad.
1. iPad <–> Desk- & Laptop: Die digitale Hardware-Krise
Das auffälligste am iPad ist seine Unauffälligkeit. Die erste Erfahrung, die man im Umgang mit ihm macht, ist die von „Natürlichkeit“. Eine Zeit der Einübung, wie man sie von technischen Gerätschaften gewohnt ist, entfällt nahezu vollständig. „Ich war so gefesselt von dem, was der Bildschirm zeigte“, schilderte etwa David Carr in der New York Times den kurzen Augenblick, den er bereits im Januar ein Demo-Gerät ausprobieren durfte, „dass ich praktisch vergaß, ein Stück Technik in der Hand zu halten.“ Nicht anders erging es den meisten, die Anfang April das iPad gründlicher testeten. „Nach ein paar Minuten“, schrieb Joshua Topolsky in Engadget, „nahmen wir das Gerät oder die Technik der Screen nicht mehr wahr – wir sahen ein Buch.“ Und Andy Ihnatko lobte in der Chicago Sun den Umstand, „dass trotz der Neuheit des iPads nach vielleicht zehn Sekunden die Aufgeregtheit in den Hintergrund tritt und du dich komplett auf das konzentrierst, was du gerade machen willst – ein Buch lesen, einen Report schreiben oder die Inbox abarbeiten.“
Der Unterschied zum ersten Umgang mit normaler PC-Hardware ist – auch nach meiner eigenen Erfahrung – schlagend. „Hast du mal einen kompletten Neuling dabei beobachtet, wie er lernt, eine Maus zu benutzen?“ fragte Dan Moren in Macworld und gab selbst die Antwort: „Bevor man überhaupt zum Klicken kommt – oder zum Rechtsklick oder zum Scrollen –, muss man heraus finden, wie sich die eigenen Bewegungen in die eines Pfeils übersetzen, der auf dem Bildschirm herumfliegt.“ Diese „Abstraktionsschicht zwischen dem Nutzer und dem Computer“ fehlt bei dem Touch-Interface. Computerworld-Autor Michael DeAgonia kam zur selben Ansicht: „Auf einmal fühlen sich eine Maus und eine Tastatur an wie etwas, das einer ganzheitlichen Computer-Erfahrung im Wege steht.“ Das iPad dagegen mache „Technologie unmittelbar zugänglich“.
Neben dem Fehlen üblicher Computerperipherie, bemerkte Dan Moren, trage dazu Steve Jobs’ Erfolg im – schon mit dem iPhone begonnenen – „Krieg gegen die Knöpfe“ bei. Andy Ihnatko sah ein „neues Denken“ am Werk, wie es bislang gefehlt habe: eine gezielte Optimierung der Touch-Tafel-Erfahrung durch Reduzierung ihrer Gestalt und Funktionalität. Hightech-Pionier und Verleger Tim O’Reilly meinte: „Wenn das iPhone uns noch nicht deutlich genug sagte, dass die 25jährige Herrschaft der Maus und der Fenster-Nutzeroberfläche, wie sie einst vom ersten Macintosh popularisiert wurde, schon bald Geschichte sein wird, dann schreit das iPad nun diese Botschaft laut und klar heraus.“ Ebenso erhofft Kevin Kelly von Tafel-PCs grundsätzlich eine Beendigung der „Tyrannei der Tastatur“ zugunsten eines Natural User Interface (NUI): „Gesten sind König. Wisch mit deinen Fingern, um zu scrollen, wedele mit den Armen wie bei der Wii, schüttele oder kipp die Touch-Tafel. Genieße ihre Körperlichkeit.“
2. Touch-Tafel <–> Buch & Magazin: Die intime Revolution
Diese Körperlichkeit, die physische Form des Touch-Tafel-PC, nannten die Ideacodes-Designer Emily Chang und Max Kiesler eine „intime Revolution“: „Durch die Kombination der Intimität einer einfachen Screen mit der taktilen Qualität des Multi-Touch-Interfaces stellt sich eine Nutzer-Erfahrung her, die sich sehr von der anderer Geräte unterscheidet.“ Neu sei gerade die Nähe der Touch-Tafel-Gestalt zu einer sehr alten, vertrauten Medienform, analysierte der Buchdesigner Craig Mod im April, noch bevor er ein iPad in der Hand gehalten hatte: „Es ist kein Wunder, dass wir unsere gedruckten Bücher lieben – wir wiegen sie körperlich in den Armen, dicht an unserem Herzen. Anders als das Lesen an Computermonitoren imitiert das Lesen auf einem Kindle oder iPhone (oder iPad, kann man vermuten) diese mütterliche Umarmung. Der Text ist dichter bei uns, die Orientierung angenehmer. Und der scheinbar unbedeutende Umstand, dass wir den Text berühren, spielt in Wirklichkeit eine Schlüsselrolle für die Verstärkung der Intimität dieser Erfahrung.“
Medienhistorisch geht die Intimität der Beziehung zwischen Mensch und Text natürlich entschieden weiter zurück: Das uns vertraute, mit dem Buchdruck entstandene Papier-Buch optimiert lediglich die über Jahrtausende menschlicher Kultur entwickelte Tafel-Form zur Speicherung und Rezeption von Texten – von den ersten Stein- und Tontafeln bzw. Tafelbündeln über den römischen Pergament-Kodex bis zu den neuzeitlichen Papier-Varianten Buch, Zeitschrift, Album und Notizblock (englisch „pad“ oder „notepad“). Die Tafelform prägt so seit der Antike die kulturelle Verarbeitung, Speicherung und Distribution von Informationen. Als Medium stellt sie einen privilegierten, wenn nicht einzigartigen Mittler zwischen Mensch und Welt, Subjekt und Gesellschaft, Individuum und Kultur dar. Ein Urmedium. Mit dem Touch-Tafel-PC findet es seine digitale Gestalt.
Entscheidend für die Dauer und vor allem Intimität der medialen Beziehung dürfte dabei der ursprüngliche Formfaktor gewesen sein: dass eben die Tafel und ihre medialen Abkömmlinge sich in der Hand halten und in unserem Schoß benutzen lassen – beschreiben und bemalen, lesen und betrachten. Genauso eben, wie es Steve Jobs diesen Januar im bequemen Sessel auf der Bühne des Yerba Buena Center for the Arts in Downtown San Francisco seiner Fangemeinde bei der ersten iPad-Präsentation vormachte.
Die Apple-Strategen inszenierten damit – ob nun bewusst oder unbewusst, kalkuliert oder intuitiv – das iPad als Aufhebung einer Verdrängung der medialen Urform Tafel, die zwar schon mit der industriellen Schreibmaschine begann, jedoch mit deren Virtualisierung eskalierte. Denn im selben Maße, in dem Tafeln und Seiten, Notizblöcke und Bücher zu Elementen von Software-Programmen wurden und damit aus unseren Händen hinter die Glasscheiben von Bildschirmen gerieten, verloren wir die intime physische Beziehung zu ihnen. Weder Desktop-Bildschirme noch Laptops ermöglichen entspannte Körperhaltungen oder gar taktile Zugriffe, wie sie seit Jahrtausenden die Varianten von Text- und Bildtafeln bieten. Als misslungene Virtualisierungen standen die bisherigen digitalen Apparaturen daher, wie David Carr in der New York Times schrieb, einem „sehr menschlichen, fast angeborenen Bedürfnis“ entgegen: „Leser wollen berühren, was sie zu lernen suchen.“
Unter dieser Perspektive leiten Touch-Tafel-PCs nicht nur einen technologischen, sondern zugleich auch kulturellen Paradigmenwechsel ein: die Rückkehr zur medialen Urform der Tafel auf höherer technologischer Ebene. Das iPad simuliert deren Gestalt nicht mehr nur im Medium der Software, sondern realisiert sie als digitales Hardware-Artefakt, materiell wie funktional (in der Touchscreen). Die emotionale Erfahrung dieser epochalen Wende mag zu einem nicht geringen Teil die ungewöhnliche, ja fast hysterische Euphorie erklären – und im Gegenschlag die nicht minder hysterische Ablehnung –, die das iPad als erstes halbwegs gelungenes Produkt in der neuen Touch-Tafel-Form bei professionellen Kritikern wie Käufern weckte.
3. Revolution <–> Restauration: Wer kontrolliert die Hardware?
„Das ist der Anfang vom Ende des Computers als Technologie“, prognostizierte Dylan F. Tweney in Wired: „Denn Technologie ist, wie Douglas Adams vor zehn Jahren bemerkte, all das Zeug, was noch nicht funktioniert.“ Der Preis allerdings, den wir für solch perfektes Funktionieren zahlen, schien einigen zu hoch.
Unter der Überschrift „Tinkerer’s Sunset“ – also: „Sonnenuntergang für Bastler“, was deren Lebensabend und bevorstehenden Tod konnotiert – klagte Alex Payne: „Was mich am meisten am iPad stört ist das: Wenn ich als Kind ein iPad anstelle eines richtigen Computers gehabt hätte, wäre ich nie der Programmierer geworden, der ich heute bin … Das iPad mag ein Segen für das traditionelle Erziehungswesen sein, insofern es multimediale Unterrichtsmaterialien ermöglicht, aber es schadet der Art von Hackerkultur, von der die digitale Ökonomie bislang voran getrieben wurde. Vielleicht signalisiert das iPad das Ende der ‚Hacker-Ära’ der digitalen Geschichte.“
Ebenso kritisierte Cory Doctorow die vollständige Geschlossenheit des iPads – das Fehlen jeglicher Möglichkeiten, die Funktionalität des Geräts selbständig zu ergänzen oder auch nur Peripheriegeräte anzuschließen – als Entmündigung und Infantilisierung der Nutzer. – Ähnlich wie Payne und Doctorow argumentiert übrigens auch „Klaus“ in seinem Kommentar zum ersten Teil dieser iPadologie: „Was mich an Computern fasziniert hat, war immer … auch die Möglichkeit, an ihnen zu schrauben, sie umzubauen, sie zu tunen und aufzurüsten. … Auch Spielekonsolen als geschlossene Systeme haben mich nie interessiert, obwohl sie für Spiele manchmal besser geeignet sind, als PCs. Das iPad fällt für mich in die selbe Kategorie …“
Doctorows Vorwurf begegnete freilich Joel Johnson vehement: „Computer werden zu normalen Haushaltsgeräten. Was ist daran so schlecht?“, fragte er in einem Beitrag für das – durch seinen Ankauf des gestohlenen iPhone-Prototypen berühmt-berüchtigte – Technologie-Blog Gizmodo: „Ich bin froh, dass ich nicht mehr in den ‚fucking 70s’ lebe und Computerprogramme aus Zeitschriften abtippen muss. Nichts am iPad deutet auf das Ende von Innovation, Bastelei, Programmieren, Design. Wenn das so wäre, gäbe es nicht in diesem Augenblick im App-Store 150 000 Apps. Was macht das schon, dass du keine iPad-Programme auf einem iPad herstellen kannst? Ich beschwere mich ja auch nicht darüber, dass ich mit meinem Geschirrspüler keine neuen Geschirrspüler herstellen kann.“
In dieselbe Richtung gingen die Überlegungen des Programmierers und Bloggers Daniel Tenner. Auch er verstand das iPad als Indiz dafür, dass Computer eine gewisse technische Reife erlangt haben und sie sich nun wie normale Haushaltselektronik ohne technisches Verständnis oder gar ständige Wartung durch ihre Besitzer nutzen lassen: „Meine Mutter benötigt eine Möglichkeit, die Preise von Flugtickets rauszukriegen, den Wetterbericht zu lesen, auf Facebook zu gehen, Kinokarten zu kaufen, ihre E-Mail zu checken, mich über Skype anzurufen und für Tausend andere kleine Dinge, die nicht sehr schwierig und fordernd sind, weder für sie noch für das Gerät, das sie benutzt. Sie braucht keinen Computer in demselben Sinne, in dem ich ihn brauche.“
Joel Johnsons Vorwurf gegen digitale Veteranen und Vordenker wie Cory Doctorow ging allerdings einen entscheidenden Schritt weiter. Er interpretierte die heftigen negativen Reaktionen auf das iPad als Teil eines Machtkampfs: „Die alte Garde packt DIE ANGST. Sie sehen das iPad und die Begeisterung, die es geweckt hat, und sie realisieren, dass sie selbst unwichtig – oder zumindest unsichtbar – geworden sind. Sie realisieren, dass es möglich geworden ist, einen Computer herzustellen, der nicht ständig kaputt geht, der nicht plötzlich aufhört zu funktionieren, der nicht mehr ständiges Herumbasteln erfordert.“
In der Tat erinnert auch mich – als Computer-Veteran – manches an den Vorwürfen, die in den vergangenen Wochen gegen die Simplizität des iPads vorgebracht wurden, an die heftigen emotionalen Widerstände, die Mitte der achtziger Jahre die ersten Macintosh-Computer (und später auch die ersten Windows-Rechner) mit einfachem GUI-Interface und simpler Maussteuerung weckten – vor allem bei DOS-Virtuosen, die ihre mühsam erworbenen Kursor- und Kommandozeilen-Kompetenzen und damit ihren exklusiven Hardcore-Guru-Status auf einen Schlag entwertet sahen.
Wie damals Maussteuerung und GUI leiten heute Touch-Screen und Gestensteuerung einen nachhaltigen Wandel in der – wie zuerst J.C.R. Licklider erkannte – zunehmend symbiotischen Beziehung zwischen der Menschheit und ihren digitalen Maschinen ein. Seinen Wired-Testbericht des iPads begann Steven Levy denn auch mit einer Erinnerung an Computerpionier Ed Roberts: „Sein Name wurde nie berühmt, aber als der Mann hinter dem Altair-Computer – einem Bausatz für verrückte Tech-Hobbyisten, der 1975 herauskam –, war er verantwortlich für den Start der Mikro-Computer-Ära … Ed Roberts starb am ersten April, als die Revolution, die er in Gang setzte, gerade in ihre nächste Phase trat … Ich war mir ziemlich sicher, dass die Zeit reif war für einen iPad-ähnlichen Tafel-Computer, um uns in die nächste Phase des Umgangs mit Computern zu bringen, und der tatsächliche Umgang mit einem iPad hat mich in dieser Ansicht nur bestärkt.“
Medium <–> Wissen: Die Emergenz digitaler Zivilisation
Die Überlegungen, welche Konsequenzen die innovative Hardware von Touch-Tafel-PCs zeitigt oder zeitigen könnte, inwieweit ihre Durchsetzung einen evolutionären oder gar revolutionären Entwicklungssprung bedeutet, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Touch-Tafel-PCs leiten einen technologischen Paradigmenwechsel ein, der in seiner kulturellen Wirkung durchaus dem vom Kommandozeilen-Interface (Command Line Interface, CLI) zur graphischen Benutzeroberfläche (Grapical User Interface, GUI) vergleichbar ist. Vor einem Vierteljahrhundert begann mit der Einführung von Maus und GUI eine dramatische Vereinfachung der Computernutzung. Sie popularisierte digitale Technologie und brachte Desktop- und Laptop-PCs in die Mehrzahl aller Haushalte der entwickelten Welt. Die aktuelle Infragestellung nun der Dominanz von Tastatur, Maus und GUI durch Touch-Screens in Verbindung mit einer natürlichen, weil gestengesteuerter Nutzeroberfläche (Natural User Interface, NUI) bewirkt einen weiteren Vereinfachungsschub. Touch-Tafel-PCs dürften daher das Vordringen des Computers auch in solche Bevölkerungsgruppen und mediale Nutzungsformen befördern, die – wie etwa die Distribution und Rezeption von Texten – bislang noch weitgehend Reservate analoger Medialität sind.
- Der biologischen Natürlichkeit der Nutzeroberfläche korreliert die kulturelle Vertrautheit der physischen Gestalt von Touch-Tafel-PCs. Einfach zu handhabende Texttafeln haben – von den Stein- und Tontafeln der Antike bis zum modernen Buch oder Notizblock – den kulturellen Wissenstransfer und auch die schriftliche Alltagskommunikation geprägt. Im iPad finden sie ihre digitale Gestalt. Auf höherem technischen Niveau stellt sich bei seinem Gebrauch, das kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen, eine haptische Intimität des Umgangs mit Texten und Bildern her, wie wir sie von Büchern, Blöcken oder Alben gewohnt sind.
- Die sozio-kulturelle Nutzung von Computertechnik und speziell des digitalen Transmediums; das Dispositiv digitaler Medialität also (im Sinne von Michel Foucault), dürfte das iPad sowohl restaurativ wie revolutionär beeinflussen; jedenfalls, wenn sein Gebrauch weiterhin und weltweit so zunehmen sollte, wie es in den ersten beiden Monaten in den USA geschah. Denn seine geschlossene physische Gestalt verhindert – oder erschwert zumindest – einen eigenständigen und eigensinnigen, bastelnd-erforschenden, also „hackenden“ Umgang mit der Hardware. (Eine Beschränkung kreativer Freiheit, die sich in dem Software-Regime des Apple App-Stores noch problematischer fortsetzt; dazu mehr im dritten Teil zur Software(r)evolution.) Andererseits aber zeichnet das iPad – als Resultat wesentlich der PC-untypischen technischen Kontrolle, denen Apple Hardware und Softwareprogramme unterwirft – ein anstrengungsloser Bedienungskomfort und eine so hohe technische Zuverlässigkeit aus, wie sie bislang nicht bei PCs, wohl aber bei Haushaltsgeräten, Unterhaltungselektronik und populären Kommunikationsmitteln wie Festnetz- und Funktelefon üblich sind. Das iPad markiert daher die technikhistorische Transformation des PCs von einem Stück „außergewöhnlicher“ Technik für Profis und Geeks zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand.
Wenn aber Touch-Tafel-PCs solch grundlegende Veränderungen im System der Medien bewirken, werden sie auch zu Verschiebungen in der sozialen und kulturellen Tektonik führen. Verkürzt gesagt: In der Folge von Medienumbrüchen steigen Individuen, Gruppen, Firmen und Institutionen auf, welche die neuen Medien und ihre Technologie entwickeln und kontrollieren. Und umgekehrt verlieren jene, welche die alten Medien und ihre Technologien kontrollierten, mehr oder weniger an Einfluss. Die Züge des Kulturkampfes, die amerikanische Kritiker rund um den digitalen Paradigmenwechsel von Desk- und Laptop zum Tafel-PC und den damit verbundenen Übergang vom GUI zum NUI beobachtet haben, zeigen sich um so mehr in der größeren, gesamtkulturellen Medienkrise: beim epochalen Übergang von einer analogen und Papier-zentrierten zu einer digitalen und Software-zentrierten Kommunikations- und Wissenskultur.
„Wird ein Kommunikationsmedium über eine längere Zeitperiode benutzt“, behauptet Harold Innis in The Bias of Communication (1951), „dann bestimmt es zu einem gewissen Grad den Charakter des Wissens, das kommuniziert wird.“ Der alles durchdringende Einfluss solcher Leitmedien werde daher früher oder später als einengend, weil weiterer Entwicklung hinderlich empfunden. Der Vorteil eines neuen Mediums – das etwa größere Datenmengen speichern kann oder schnellere, billigere und interaktive Kommunikation ermöglicht – könne daher schließlich so groß werden, „dass es die Emergenz einer neuen Zivilisation einleitet.“
Papier setzt dem Wissenstransfer, zwischenmenschlicher Kommunikation und dem Erzählen von Geschichten genauso enge Grenzen wie das System der analogen elektronischen Massenmedien. Für die Ansprüche, die sich an den digitalen Online-Medien geschult haben, erweisen sich die analogen (Massen-) Medien seit einiger Zeit als zu langsam, zu standardisiert, zu wenig interaktiv, zu unpersönlich. Die Gestalt einer neuen digitalen Zivilisation wird daher entscheidend von innovativer Kultur-Software abhängen, die diese medientechnisch nunmehr aufgehobenen Grenzen auch medienästhetisch überschreitet – in der Entwicklung neuer Interfaces, neuem Design, neuen Narrationsweisen, neuen Varianten von Literatur und Bildender Kunst, Film und Spiel.
Auf der gerade zwei Monate alten Software-Welt des iPads ruhen große Hoffnungen – von Verlagen wie Lesern, TV- und Filmproduzenten wie Zuschauern, Lehrenden wie Lernenden. Der dritte und letzte Teil der iPadologie wird daher die bisherigen Stimmen zur erwarteten Software(r)evolution versammeln und reflektieren.
Bisher in dieser Trilogie erschienen: