von Hermann Rotermund, 15.6.16
Klaus Vater hat sich kürzlich bei CARTA mit Gewalttaten von Jugendlichen beschäftigt und sich dazu auf Spurensuche in Bad Godesberg begeben. Sein Beitrag wird dem dortigen Geschehen nicht gerecht. Sein wichtigstes Ziel scheint zu sein, vorgebliche Angriffe eines katholischen Kirchenvertreters auf die NRW-Regierungspartei SPD zurückzuweisen – „Rückfall in die fünfziger Jahre“, schreibt er. Damit zeigt er jedoch nur seine eigene Gebundenheit an Kategorien, die hier längst keine Rolle mehr spielen. Die Kirchen haben ebenso wie die Parteien ihre Orientierungsfunktion verloren, die sie im Umfeld von sozialen Anpassungsprozessen zuletzt in den fünfziger Jahren noch hatten. Der äußerst aktive und medienaffine Godesberger Pfarrer Picken ist eine Ausnahmefigur. Er hat eine Stiftung gegründet, die nach Wegen zur Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts sucht, und der Kirchenbesuch erreicht bei seinen Gottesdiensten Rekordquoten. Die sexuellen Übergriffe katholischer Priester in einem Godesberger Internat sind offenbar schon vergessen. Orientierung jedoch kann auch Pfarrer Picken nicht geben, wenn seine Schäflein nicht auch selbst aktiv werden wollen.
In allen großen deutschen Städten gibt es das Problem der Vermengung von Erscheinungsformen des globalen und sozialen Wandels mit allen anderen sozial unliebsamen Problemen – wie Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität. Die Verarbeitung der Migration, der Flüchtlingsströme, der freiwilligen oder erzwungenen Mobilität auch vieler eingesessener Bevölkerungsteile und des Wandels der Kommunikationsformen überfordert viele Bürger. Solange die Politik zur Bewältigung von Anpassungsproblemen allerdings nur die Integrationsbereitschaft der Zugezogenen und nicht auch die Integrationsbereitschaft und -fähigkeit der Eingesessenen thematisiert, wird es eine funktionierende moderne und multikulturelle Gesellschaft bei uns nicht geben.
Administrative Blödheit ist ein zusätzlicher Faktor. Sie hat stark zum jetzigen Aussehen von Bad Godesberg beigetragen, und darüber hinaus auch zur Grundlegung aktueller Spannungen und Irritationen.
Ich gehöre keiner Partei und keiner Religionsgemeinschaft an und wohne in Bad Godesberg nicht einmal 100 m von der Stelle entfernt, an der Niklas P. totgeschlagen wurde. Der Stadtteil ist kein sozialer Brennpunkt, und Gewalt gehört hier so wenig oder so viel zum Alltag wie in Berlin-Zehlendorf oder im Frankfurter Westend. Es gibt im Stadtteil jedoch krasse geografische und soziale Trennlinien wie in kaum einer anderen deutschen Großstadt. In der Regel ist eine friedliche Durchmischung oder eine friedliche wechselseitige Ignoranz der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu beobachten. Dennoch kommt es gelegentlich zum Crash. Schüler von privaten Elite-Gymnasien und Migranten gehen aufeinander los. Die durch Bettelei, Musikanten, Taschendiebe und Autoaufbrüche genervten Bewohner des Villenviertels fühlen sich verfolgt und bedroht. Wenn sich eine Gruppe von Berufsschülern auf einem Parkplatz zusammenballt, wird von Passanten gelegentlich die Polizei gerufen, ohne dass irgendetwas vorgefallen wäre. Die Journaille gibt den Tenor vor, wenn sie die Szenerie am Godesberger Bahnhof so beschreibt: „…abends treffen sich dort oft Kriminelle, die Bier trinken, Passanten anpöbeln“ (Kölner Express, 9.5.2016). Damit schürt sie die ängstliche Grundhaltung vieler älterer Passanten, die sich auf Gruppen lärmender Jugendlicher, die auf einen Bus warten, ihren Reim machen. Klaus Vater ist ja zuzustimmen, wenn er sagt, Furcht sei “nichts Spinnertes”. Aber wie lässt sie sich eindämmen?
Im Villenviertel wohnen weniger als 5000 Menschen, in ganz Bad Godesberg 73000. Darunter sind viele Migranten aus Marokko, aus der Türkei, aus Polen. Hinzu kommen einige Hundert Medizintouristen aus dem arabischen Raum, die abends das Straßenbild in der Godesberger Einkaufszone bestimmen. Die Bildungsbürger des Villenviertels ziehen sich in ihr Ghetto zurück, egal ob sie CDU, Grüne oder SPD gewählt haben. Die Hauseigentümer im Villenviertel finanzieren lieber einen nächtlich umherfahrenden Wachdienst als ihre gewiss vorhandene Kommunikationsfähigkeit über ihr Wohnkarree hinaus zu erproben.
Wo hier eigentlich der Busch brenne, fragt Vater. Für mich ist das ziemlich einfach zu beantworten. Der Vorwurf der Empathielosigkeit, den Pfarrer Picken erhebt, sollte nicht nur an den NRW-Innenminister adressiert werden, sondern auch an alle besser Situierten, die mit sozialen Crash-Situationen nichts zu tun haben wollen und deshalb auch nichts tun, um sie abzuwenden. Angesichts des hohen Anteils von sozial Schwachen, Migranten und Ausländern zeigt der im kommunalpolitischen Diskurs tonangebende deutsche und sozial besser gestellte Bevölkerungsanteil keine Integrationsbereitschaft, sondern pflegt seinen Dünkel und seine Vorurteile.
In diesem Klima entsteht fast automatisch das Theater, in dem Jugendgewalt von allen Seiten mit fremden Augen betrachtet wird. Wie mit denen von Klaus Vater.
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