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In der Krise: Mehr Zeitung wagen

von , 22.11.12

Was ist nicht alles geschrieben, gesprochen und gefilmt worden: Von der großen Veränderung. Vom Medienwandel. Von neuen Herausforderungen. Über Social Media. Wenig über Menschen und Geschichten, viel über Technik. Eigentlich hat jeder alles gesagt, die Verleger, die Chefredakteure, die Journalisten, die Politik und der Handel. Es gibt so viele Beiträge darüber, dass ein unbestimmtes Gefühl uns sagt, aber, wir haben doch …?

Nein. Haben wir nicht. Dass alle laut über alles Mögliche nachgedacht haben, heißt noch lange nicht, dass dabei für alle etwas Konstruktives herausgekommen ist. Es fiel nur in der Dauerschleife nicht auf.
 

Ein bequemer Status quo

Die Verleger sind bei alldem die Gewinner: Sie haben ihre Aktivitäten zeitig vom Journalismus weg verlagert und erfolgreich neue Geschäftsfelder aufgemacht, nun können sie sich bequem zurücklehnen und mit den Konzernergebnissen zufrieden sein. Der Verlag überlebt, und gar nicht so schlecht. Womit das Geld verdient wird, ist letztlich nachrangig, Hauptsache, es wird verdient. Was dransteht, ist nicht so wichtig, und mit einer bekannten Marke lassen sich auch anderswo Geschäfte machen. Derweil wird ein Qualitätsjournalismus postuliert, den es nicht gibt, der sich aber als Camouflage gut macht: Man muss etwas nur geduldig genug behaupten, dann wird es irgendwann ein Teil der Wirklichkeit.

Die Chefredakteure haben mit neuen Methoden experimentiert und die Ausdünnung ihrer Mannschaften dadurch auszugleichen versucht. Nur wenige haben tatsächlich neue mediale Verfahren ausprobiert, vielmehr besteht ein Hauptmerkmal des neuen Führungsstils in der Auslagerung originär journalistischer Aufgaben. Wenn in der eigenen Redaktion ein paar Mann weniger sitzen, muss man eben einfallsreich sein und deren Tätigkeit so gestalten, dass es dennoch ausreicht. Wer könnte besser einspringen als die Agenturen, die, noch einigermaßen gepolstert, den Stoff ja ohnehin liefern? Gestalterisch im beruflichen Sinn hat sich nicht viel getan – die Mittel! -, aber das Blatt ist gefüllt, die wichtigen Nachrichten und ein bisschen Schmonzes sind drin. Das erwartet der Leser schließlich. Dass im Schwesterblatt der gleiche und in 20 anderen Zeitungen ein sehr ähnlicher Text steht, sieht er ja nicht.

Die Journalisten haben sich neue Modelle ausgedacht, wie sie ihren Beruf so modernisieren könnten, dass er zum Leben reicht. Zuerst die entlassenen Kollegen in der Redaktion zu ersetzen versucht, so gut es ging, sich dann neue Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet, und zuletzt sogar den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt, immer gewiss, dass es nie mehr so werden wird wie früher, aber innerlich oft einer Tradition verpflichtet, die man nicht einfach so verrät. Notfalls ist da ja noch die PR, mit der man die Familie ernähren kann, und nebenbei könnte man ein, zwei Bücher schreiben.

Die Politik hat einen recht angenehmen Medienwandel durchlebt. Wo sie vordem noch unbequeme Fragen oder gar Investigationen fürchten musste, taten sich nach und nach Möglichkeiten der freundlichen Einflussnahme auf, Koalitionen und Kooperationen, auch wenn niemand das so nennen würde. Dafür ist man gerne bereit, das eine oder andere Zugeständnis zu machen; erfahrungsgemäß reicht es ja aus, mit gehörigem Impetus das Gegenteil zu verkünden. Wo eine Hand die andere wäscht, lebt es sich für beide Teile knautschfrei und in jedem Fall besser, als mit Spiegel- oder Watergate-Affären. Der Demokratie tut das nicht gut, aber etwas Schwund ist immer. Ab und zu ein kleines Menschenopfer – das ist zu verkraften.

Der Handel hat sich mit den Gegebenheiten des Internets angefreundet, ihm kann es egal sein, wo er inseriert und wirbt. Immer genauere Nutzerprofile im Internet machen das Geschäft zudem viel einfacher als je zuvor, damit lassen sich sogar noch neue Geschäftsmodelle aufbauen. Der kostengünstige Wegfall der Presse- oder Grafikabteilung ist ein hübscher Nebeneffekt, kann man alles bestens outsourcen.

Eigentlich geht es doch allen gut. Weshalb sprechen jetzt plötzlich alle von fallenden Blättern und meinen damit bedrucktes Papier mit baldigem Verfallsdatum?
 

Lästige Kundschaft

Etwas fehlt. Was war es doch gleich — ? Ach ja. Der Leser. Beinahe wäre das vor lauter Controlling, Monitoring, Outsourcing und Freisetzungen gar nicht aufgefallen. Ziemlich störend, dass man ihn nicht nach betriebswirtschaftlichen Richtwerten in ein Flowchart einbauen kann. Er hat immer so brav funktioniert, bis das Internet kam!

Jahrzehntelang auf die tägliche Lektüre seines Stammblatts konditioniert, meint der dumme Bursche jetzt, irgendwie unzufrieden sein zu müssen. Auf einmal mäkelt er herum, seine Zeitung biete ihm nichts Neues mehr, sei nicht mehr inspirierend. Meine Güte, was braucht er Inspiration? Abonnieren, kaufen soll er, hat doch immer gut geklappt!

Ist die Koinzidenz des Zeitungssterbens mit den demografischen Veränderungen Zufall? Nein, denn sie war absehbar. Während die erste Generation mit dem Internet aufwächst, sterben die treuen Kunden langsam weg. Die Anderen greifen morgens mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der ‘man’ sich früher eine Zeitung hielt und sie, noch bevor man aus dem Haus ging, überflog, als erstes nach iPad, Laptop oder PC: schnell mal die Lage checken. Dieser Griff bringt weitaus mehr Erkenntnis, als der zum Totholz mit den Nachrichten von gestern.

Auch viele Ältere informieren sich zunehmend über das aktuelle Geschehen nicht mehr aus der Zeitung oder am Fernseher; auch sie wissen, dass es nichts Schnelleres gibt als das Netz. Selbst, wenn sie nur im Browser ihres Serviceproviders scrollen und ein paarmal klicken, sind sie danach umfassender auf dem Laufenden, als nach der Lektüre des morgendlichen Käseblatts – einschließlich medizinisch-ratgebenden Mehrwerts und Sonderangebote. Gerade die Älteren wollen in unsicherer Zeit Hintergründe und Einordnung, beides Mangelware im Hintertupfinger Anzeiger. Stattdessen bekommen sie umdrapierte dpa-Meldungen und Bratwurstjournalismus, und beim Besuch bei den Kindern in der Stadt stellen sie fest, dass es dort auch nicht viel besser ist. Nur die Auswahl an mehr vom Gleichen ist größer.

Die Jungen sind als Leser per se weg, die holt keiner zurück. Die Älteren werden nach und nach zu Tode gelangweilt. Und der verbleibende Rest reicht für viele Blätter nicht mehr zum Überleben.
 

Verführung ist das Zauberwort

Was tun Sie, wenn Sie um jemanden werben? Sie zeigen sich von Ihrer besten Seite. Wenn es wichtig genug ist, bemühen Sie sich sogar sehr lange Zeit darum, zu gefallen.

Ist es bei einem Produkt nicht genauso? Was kann denn wichtiger sein als der Käufer? Weshalb Zeitungen meinen, sie hätten es nicht nötig, um ihn zu werben, ist rätselhaft. Denn auch der Leser möchte jeden Tag aufs Neue die Bestätigung, dass er mit seinem Blatt eine gute Wahl getroffen hat. Er möchte die Nachrichten verstehen, er will wissen, ob die Finanzkrise ihn betrifft und wie er sich schützen kann, begreifen, warum es im Nahen Osten keine Ruhe gibt. Er möchte sich mit ‘seiner’ Zeitung wohlfühlen, was zumindest heißt: gut informiert und möglichst auch noch gut unterhalten sein. Vermutlich ist er sogar schon zufrieden, wenn das nur auf die Wochenendausgabe zutrifft, wenigstens darauf kann er sich dann freuen. Lieber wäre es ihm allerdings, wenn er regelmäßig Geschichten zu lesen bekäme: Porträts interessanter Menschen, spannende Reportagen, Reiseberichte, die keine getarnten Marketingposts einer Hotelkette sind. Vor allem: nicht die 93. Beschreibung, was der Bürgermeister wann wo zu wem gesagt und wer die Würstchen bei diesem Ereignis gesponsert hat.

Das alles ist bekannt. Es wurde nur kaum angewandt. In den letzten paar Jahren war in den Medienmedien ständig von den großen Veränderungen im Markt und ihren Auswirkungen – auch auf die Leser – die Rede. In den Massenmedien kam nichts davon an. Lediglich betroffene Abonnenten merkten, dass es eine Zeitung auf einmal nicht mehr gab. Die Verlage hatten sich eingerichtet, die einen ganz bequem, andere bloß irgendwie. Jeder oszillierte in seiner Ecke vor sich hin. Dabei ist vor lauter Selbstreflektion und Neu! eine Tugend in Vergessenheit geraten, die jeder Handlungsreisende in den sechziger Jahren in Fleisch und Blut hatte: Wenn es Probleme mit der Kundschaft gab, ist er hingefahren und hat mal gehört, was da los ist. Wenn es am Produkt lag, sprach er mit dem Chef, mit der Produktentwicklung, mit der Fertigung, mit der Endabnahme. Fehler passieren überall. Wer offen darüber redet, kann etwas ändern und sie abstellen. Er muss nur zuhören.

Seitdem sind Fachabteilungen mit Spezialisten entstanden, die oft gar nicht mehr wissen, wie das Endprodukt entsteht, welche Schritte von der Planung bis zur Fertigung überhaupt nötig sind. Eine Schlussredaktion gibt es kaum noch. Der Weg zum Chef ist weit. Dazwischen gibt es viele kleine Unterchefs, an denen man vorbei muss. Der Konkurrenzdruck ist immens, immer sitzt die Angst im Nacken, es könnte einen selbst treffen – man hat doch Familie. Solange der gesetzte Umsatz erwirtschaftet wird, gehen alle davon aus, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Menschen sind so. Die kann auch kein ganzer Stab von Controllern ändern. Umso größer ist das Entsetzen, wenn der Angstfall eintritt – obwohl man ihn hat kommen sehen.

In der Zeitungsbranche ist er jetzt eingetreten. Die ersten Schließungen bekannter Zeitungen wirken wie ein Schock.

Was ist zu tun? Pläne müssen doch nach den unzähligen Diskussionen stapelweise in den Schubladen liegen. Die Frage ist: Holen wir sie da raus? Stecken wir unter hektischem Debattieren, hätte, könnte, sollte, müsste, den Kopf weiter in den Sand? Schieben wir die Schuld den Umständen in die Schuhe, rufen wir nach neuen Gesetzen? Oder erinnern wir uns, was wir der zahlenden Kundschaft schuldig sind, mit der wir einen Vertrag auf Gegenseitigkeit abgeschlossen haben: gute Ware gegen gutes Geld? Kriegen wir es endlich fertig, mit dem Pfund, das wir – immer noch! – haben, zu wuchern?

Betrachten wir uns doch selbst: Wenn jemand uns wirklich verführen will, ist Widerstand zumindest schwierig. Auch, wenn es eine Zeitung ist. Aber sie muss sich schon anstrengen.
 

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