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Ich glaube nicht mehr an einen Politikwechsel. Und das ist das Problem.

von , 14.8.13

39% ist Rot-Grün. Beziehungsweise der gewichtete Mittelwert der 11 aktuellsten Meinungsumfragen zur Bundestagswahl für Rot-Grün Anfang August 2013.

39%, das ist ein Wert, der die Untergrenze für die aktuellen Umfrageergebnisse der CDU/CSU darstellt.

39%  ist nicht die Mehrheit.

39% ist die Einladung, sich im Wahlkampf in Floskeln zu flüchten.

“Wir kämpfen für Rot-Grün! #bewegungjetzt!!!11″

Ich kann es nicht mehr hören. Und damit bin ich Merkels williger Vollstrecker.
 
Als mir vor zwei Jahren Colin Crouchs “Postdemokratie” in die Hände gefallen ist, hielt ich es für eine Beschreibung der Krise englischsprachiger Demokratien. Pustekuchen. Das, was wir Demokratie nennen, ist in einer Krise. Diese Krise hat viele Namen. In Deutschland heißt diese Krise Merkel. Oder, wie Politikwissenschaftsstudent*innen in 30 Jahren in Hausarbeiten schreiben könnten: Merkelismus.

Wir leben in einer Gesellschaft, die mindestens kulturell in einer Postmoderne angekommen ist. Das Problem an Postmodernen ist die ständig präsente Verführungskraft von relativistischen ‘Weltanschauungen’ und des Gefühls von Wertlosigkeit. Kein Wunder: Die großen Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Kapitalismus und Kommunismus, und damit auch unwahrscheinlich wichtige Erklärungsmodelle für unsere materielle und kulturelle Existenz, sind bald zu Ende erzählt. Das ist uns mehr oder weniger bewusst. Und dieses Bewusstsein schafft Räume für verkürzende Heilsversprechen, für Nostalgie, für Flucht. Und für Ignoranz.

Der Ruf nach Mutti ist ein solches Heilsversprechen. Ein konservativer Backlash, der in der Ironie, der mächtigsten Frau Europas die Rolle der Übermutter zu verleihen, nicht nur bei den Marushas dieser Welt ein reges “Oh Kinderlein kommet” anstößt. Merkel ist Deutschland. Das reicht als Information. “Sie vertritt unsere Interessen in Europa”, heißt es da, “140 Stunden in der Woche arbeitet sie!”, heißt es woanders.

Was denn genau “unsere Interessen” sein sollen, und warum es in unserem Interesse sein sollte, die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland auf Rekordniveaus zu halten – irrelevant. Es geht gar nicht darum, was diese ‘Mutti’ eigentlich inhaltlich macht. Auch für die Wiederwahl zur Kanzlerin am 22. September, für den die Junge Union die Inhaltslosigkeit auf die Spitze treibt und das “Keep Calm And Carry On”-Meme auf Merkel münzt, ist das freilich egal. “Cool bleiben und Kanzlerin wählen“, heißt es dann. Yeah.

Merkels Politik macht Politik irrelevant. Sie entwaffnet Diskurse, politische Debatten und Bewegungen mit drei einfachen Tricks: Mit dem nur durch sie überwindbaren Bollwerk der Alternativlosigkeit, mit Schweigen im richtigen falschen Moment, und mit unverblümten 180-Grad-Wenden. Der Relativismus der Postmoderne in Gewand des Pragmatismus ist eben auch die Wertelosigkeit, mit dem sich Merkel ohne Probleme des gröbsten konservativen (sprich: nicht zukunftsfähigen) Ballasts entledigt, ohne in irgendeiner Weise in ihrem Tun behindert zu werden. Selbst Hardliner wie Erika Steinbach erfüllen in dieser Partei keine Funktion mehr, außer die Neocon-Bullshitfraktion zu repräsentieren und ruhigzustellen. Teflon-Merkel kann ja nicht in Talkshows gehen und dort homosexuellen Paaren im wörtlichsten Sinn des Wortes Kindesmissbrauch vorwerfen. Dafür sind die Steinbachs, Reiches und Geis’ dieser Welt gerade noch gut genug.

Und der Merkelismus trägt Früchte. Er entmündigt die Gesellschaft durch das Konstruieren einer alternativlosen Politik, in der es keine anderen möglichen Handlungsoptionen mehr gibt. Im Merkelismus gibt es nur noch das Arrangement mit den unvermeidlichen Bissen in die sauren Äpfel. Gleichzeitig fördert die inhaltliche Beliebigkeit eine Politik- und Demokratieverdrossenheit, die desillusioniert keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Parteien ausmachen kann und will.

Der Merkelismus kennt keine Werte mehr. Er kennt nur Handlungen, die die eigene Position im tagespolitischen Geschäft vorübergehend stabilisieren. Er parodiert die Auffassung, dass Wahlversprechen ohnehin nicht bindend sind. Er täuscht bewusst, offen und für alle Menschen erkennbar eine inhaltliche Position vor – die am Ende durch Verweis auf Koalitionsgespräche, das Bundesverfassungsgericht oder die Zweidrittelmehrheit im Bundestag verlassen werden kann, ohne einen Imageverlust zu fürchten  Die Zahl der Beispiele ist lang und bestens dokumentiert. Stichwörter unter vielen sind die Finanztransaktionssteuer, der Atomausstieg(ausstieg), die Mietpreisbremse oder auch das Rumgezerre um die Gleichstellung homosexueller eingetragener Lebenspartnerschaften.

Was Merkel gelungen ist: Sie hat ihre Person alternativlos gemacht. Wird ihre Person in Fragen nach der Leistung der Bundesregierung erwähnt, ist der Wert 18% höher als bei der Frage nach der Leistung der schwarz-gelben Regierung. Aus 39%, einem desaströsen Ergebnis, wird dann mal schnell 56%. Sie ist die perfekte Kanzlerin für den Anbruch der Postdemokratie. Unter diesen Vorzeichen mag sich schnell die Frage stellen, wie klug es eigentlich wirklich ist, einen personalisierten Anti-Merkel Wahlkampf zu fahren. Ironisch ist es zweifelsohne. Es ist aber vor allem eines: Die einzige Möglichkeit, eine Regierungsbeteiligung der CDU noch irgendwie zu verhindern.

Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass das möglich ist.

Und das ist das Problem.

39%, das ist die Zahl, die uns vor Augen führt, dass Rot-Grün anscheinend nicht die Hoffnungen der Wähler*innen auf sich vereint. Die Hoffnungen auf einen Politikwechsel zu beantworten, gehört aber zum Selbstverständnis dieses Bündnisses. Stattdessen sind die einzigen mathematisch realistischen Optionen CDU/CSU-SPD, CDU/CSUGRÜNE, SPDGRÜNELINKE, SPDGRÜNEFDP – und davon wurde so gut wie jede Möglichkeit mal konkreter, mal unkonkreter in irgendeinem Zeitungsinterview ausgeschlossen. Zyniker*innen fragen sich da schnell: Wird es im Zweifel eine Minderheitsregierung von Merkel geben, oder wer fällt als erstes um, wenn es um die “Verantwortung für Deutschland und Europa” geht?

Natürlich ist es eine Zwickmühle. In den gleichen Umfragen, die belegen, dass Schwarz-Grün zu unserem Waterloo werden wird, kommen Rot-Grün-Rote Bündnisse ebenfalls nicht gut weg, von einer Ampel ganz zu schweigen. Noch wird die Debatte gerne mit dem trotzigen Verweis darauf, man kämpfe ja für Rot-Grün (!!!111), zur Seite geschoben. Sollte sich am 22. September aber kein 5-Prozent-Swing einstellen, war’s das erst mal. Und ein unattraktives Bündnis muss ausgepackt werden.

Mir persönlich ist vieles lieber als Merkel. Ich bin aber in keiner Entscheidungsposition (und das ist vielleicht auch gut so). Gleichwohl ist es auch ein Zeichen, dass die Furcht vor Merkel so groß geworden ist, dass sogar Bündnisse mit Linkspartei und FDP das kleinere Übel darstellen würden.

Ich muss zugeben: Auch mir stellt sich verstärkt die Frage, was unter Rot-Grün konkret anders laufen würde als unter Merkel. Das liegt auch an Merkel. Sie baut ihre Partei im Wahn des Wahlpragmatismus in eine zweite SPD um, und die SPD reagiert durch die Bank weg hilflos darauf und ist selbst schon auf dem besten Weg in die Postdemokratie. Die Grünen können sich noch in ihre Rolle als Partei der materiell gesättigten Wohlfühlgesellschaft flüchten und verweisen auf die Inhalte.

Das mag 2013 in den informierten Kreisen noch gerade so funktionieren – 2017 aber, sofern sich das linke Lager nicht radikal abgrenzt, nicht mehr. Die Merkel-CDU gleicht darin einem Moloch, und im vollen Bewusstsein ihrer Austauschbarkeit Merkel gegenüber plakatieren die Sozialdemokrat*innen ‘Currywurst ist SPD‘ und führen sinnlose Symbolschlachten gegen den eigenen Koalitionspartner. Rot-Grün hat auch deshalb keinen Gesellschaftsvertrag, der am 22. September 2013 abgestimmt werden kann. Die Botschaft ist stattdessen: Mit Merkel wird es nur schlimmer.

Ich bin davon überzeugt: Meine Partei und ihr Wunschkoalitionspartner könnten mehr.

39% ist eben auch die Zahl dieses Molochs. Diese Zahl schüchtert ein und macht hoffnungslos. Und sie stellt in Frage, wie politisch diese Gesellschaft noch ist. PRISM und Tempora sind erst seit knapp 2 Monaten ein Begriff für uns, ihr Einfluss auf die Umfragen so gering, dass er nicht feststellbar ist. Das mag auch daran liegen, dass Rot-Grün selber in diesem Bereich von 2001 bis 2005 Scheiße gebaut hat. Das erklärt aber nicht, wieso dann nicht LINKE und Piraten davon profitieren. Hier stellt sich die Frage, wie egal eigentlich mittlerweile Politik für viele Menschen geworden ist.  Beziehungsweise, wie egal Merkel den politisch-demokratischen Meinungsbildungs- und Debattenprozess für viele Menschen gemacht hat.

Die Faktoren, die für meine Hoffnungslosigkeit verantwortlich sind, sind bei anderen Menschen für Politikverdrossenheit verantwortlich. Ich weiß, dass ich wählen werde – einige Freund*innen von mir nicht. Das spielt Merkel natürlich in die Hände. Die Demobilisierung des linksakademischen und bürgerlichen Klüngels und die Mischung aus Frustration, Abscheu und Perspektivlosigkeit, die Menschen vom Wählen abhält, ist ein verspätetes Muttertags-Präsent. Auch, wenn die peer group von Harald Welzer das Nicht-Wählen gerade öffentlich als en vogue erklärt. Damit verhalten wir uns gemäß der Eskalationsspirale der Postdemokratie – und fühlen uns moralisch einwandfrei im Falschen.

Und hier löst sich das Problem von der Fixierung auf Merkel: Es ist eine Herausforderung für die aktuellen Generationen, dieser Bedrohungssituation tatsächlich auch zu begegnen. So verständlich alle “Ändert ja eh nichts“, “Parteien sind nicht mehr unterscheidbar“, “alle wollen doch nur Macht” dieser Welt sind, sie verkennen, dass in Parteien auch nur Menschen aus dieser Gesellschaft sitzen. Eine postdemokratische Gesellschaft bringt postdemokratische Parteien hervor, und postdemokratische Parteien verstärken die Postdemokratie. Als Reaktion darauf sich ins Private zu flüchten, süße Landkommunen aufzumachen oder – um das eigene Gewissen zu beruhigen – sich aus demokratischen Prozessen herauszuhalten, wird der Zahl der Merkels dieser Welt nur zum Wachsen verhelfen.

Aus dieser Starre muss meine Generation herauskommen. Wir werden einmal Diejenigen sein, die sich gegenüber unseren Enkel*innen für den Zustand unserer Gesellschaft und Welt zu rechtfertigen haben. Wo aber liegen die Antworten, mit denen wir aus dem sumpfigen Morast der Postdemokratie heraus waten könnten? Einfach stur daran zu glauben, dass die Welt am 22. September 2013 besser wird, ist verkürzend und anmaßend.

Wir brauchen unsere eigenen Antworten auf diese viel zu komplizierten, überwältigend großen Fragen unserer Zeit. Und diese Zeit braucht keine zweite 68er-Generation, die sich mehrheitlich in Selbsthass und Zynismus flüchten muss. Wir wollen keine Generation sein, die eines Tages aufwacht und realisiert, was sie für Dinge zugelassen hat. Wir wollen nicht an unseren eigenen Ansprüchen scheitern. Aber wie soll das aussehen? Auch ein Problem der Postmoderne: Wir wissen, was alles nicht funktioniert hat. Und das ist alles, was wir wissen.

Das politische Vermächtnis von Merkel wird eine entpolitisierte, postdemokratische Gesellschaft sein. Ist es möglich, das zu verhindern? Ich will es glauben, aber zweifle immer mehr dran. Aber ist es nötig, Merkel zu stürzen? Hell yes.

 
Crosspost von spektrallinie. Jan Schnorrenberg koordiniert das Fachforum Netzpolitik & Kultur im Bundesverband der Grünen Jugend.

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