von Redaktion Carta, 31.5.10
Der Rücktritt von Horst Köhler ist nicht nur der erste Rücktritt eines Bundespräsidenten mit sofortiger Wirkung, sondern auch ein Rücktritt unter maßgeblicher Blog-Beteiligung. Denn die Thematisierung seiner Formulierung von den “freien Handelswege” verlief in bemerkenswerten Wellen. Dabei wurde das Thema zuerst von Blogs aufgegriffen und als Skandal identifiziert.
Blogs haben damit in der Thematisierungskarriere der Köhler-Äußerung – und letztlich an seinem Rücktritt – einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Köhlers Rücktritt ist damit zugleich auch ein Lehrstück von der steigenden Bedeutung von Blogs für die politische Öffentlichkeit.
Carta zeichnet daher die Thematisierung der umstrittenen Köhler-Äußerung noch einmal nach. (Ergänzende Hinweise bitte in den Kommentaren)
Samstag, 22.Mai 2010:
Deutschlandradio Kultur sendet kurz vor 8 Uhr ein auf dem Rückflug aus Afghanistan geführtes Interview mit Bundespräsident Horst Köhler. Das Interview führte Christopher Ricke.
Kurz darauf sendet der Deutschlandfunk ebenfalls das Köhler-Interview, das jedoch ausgerechnet um die fragliche Passage gekürzt ist.
Deutschlandfunk greift um 12 Uhr – wie üblich – das eigene Interview in den Nachrichten auf – und zitiert auch die nur im Deutschlandradio Kultur präsentierte Stelle:
Es sei in Ordnung, wenn kritisch über den Einsatz diskutiert werde. Allerdings müsse Deutschland mit seiner Außenhandelsabhängigkeit zur Wahrung seiner Interessen im Zweifel auch zu militärischen Mitteln greifen. Als Beispiel für diese Interessen nannte Köhler ‘freie Handelswege’. Es gelte, Zitat ‘ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auf unsere Chancen zurückschlagen’ und sich somit negativ auf Handel und Arbeitsplätze auswirkten.
Eine weitere journalistische Bearbeitung oder Kommentierung des Köhler-Zitats durch den Deutschlandfunk findet zunächst nicht statt.
Das Blog Unpolitik.de von Stefan Graunke greift die Deutschlandfunk-Meldung auf. Unter dem Titel “Unser Volk braucht Markt!” fragt Graunke:
Wirklich, Herr Köhler? Öffentlich zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele durch militärische Gewalt aufrufen?
Der Blogbeitrag wird innerhalb von zwei Tagen in fünf Blogs aufgegriffen: von Stackenblochen, von Burks.de, von Tastendrescher, von der Thüringer Blogzentrale und Rotstehtunsgut.de (via Rivva).
Unabhängig davon greifen auch das Querblog und ein Blog beim Freitag die Meldung auf. Und schließlich verlinkt auch Fefe das Thema.
Die klassischen Massenmedien beachten das Zitat zunächst kaum. Die Sueddeutsche.de veröffentlicht eine AP-Meldung mit dem fraglichen Köhler-Zitat – ohne es jedoch journalistisch weiter zu bearbeiten.
Dienstag, 25. Mai 2010:
Roland Koch tritt als Ministerpräsident von Hessen zurück – die Massenmedien sind vollauf damit beschäftigt.
Jonas Schaible fragt auf “Beim Wort Genommen“, warum das Köhler-Zitat nicht stärker thematisiert wird:
Mir scheint, inhaltlich wäre die Nachricht sogar Stoff für einen Aufmacher – doch findet sie noch nicht einmal eine Erwähnung als Meldung. Ist Köhlers Meinung in relevanten politischen Kreisen etwa viel gehörter Konsens? Ist sie Politikjournalisten also so bekannt, dass sie keiner Erwähnung für wert befunden wird? Dürfen Journalisten nicht berichten ? Übersehe ich etwas fundamental Wichtiges?
Donnerstag, 27. Mai 2010:
Das Deutschlandradio greift die Köhler-Äußerung noch einmal auf – mit einem Interview mit dem CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz. Polenz sagt, Köhler habe sich “missverständlich ausgedrückt”.
Auf Carta-Nachfrage erklärt DLF-Chefredakteur Stephan Detjen, erst nachträglich von den Blog-Protesten erfahren zu haben. Die späte Thematisierung habe insbesondere auch mit dem Koch-Rücktritt zu tun. Der Deutschlandfunk habe auch sehr viele Hörerrückmeldungen zum Köhler-Zitat erhalten.
Nach dem Polenz-Interview wird das Köhler-Zitat in allen Massenmedien aufgegriffen. Spiegel Online dreht das Interview mit Polenz weiter und befragt unter anderem Thomas Oppermann von der SPD. Oppermann befindet: “Köhler schadet der Akzeptanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr”.
Mit den kritischen Äußerungen der Opposition beginnt auch die Aufarbeitung des Zitats durch den klassischen Meinungsjournalismus. Daniel Brössler legt bei der Süddeutschen richtig los – und bezeichnet Köhler als “Schwadroneur im Schloss Bellevue“.
Das Bundespräsidialamt verteidigt sich gegenüber Spiegel Online: Der Bundespräsident habe sich auch auf Einsätze, wie etwa die Atalanta-Mission bezogen.
Die 20-Uhr-Tagesschau greift die Kritik an Köhler auf: zu Guttenberg verteidigt Köhler, SPD und die Linke kritisieren ihn erheblich. Zweiter Auftritt von SPD-Oppermann.
Samstag, 29. Mai 2010:
Die Vorabversion des neuen Spiegel kursiert im Regierungsviertel. Darin wird der Bundespräsident “Horst Lübke” genannt und scharf angegriffen. Im Inhaltsverzeichnis von Ausgabe 22/2010 wird der Text folgendermaßen angekündigt:
“Horst Lübke: Das Staatsoberhaupt blamiert sich mit seinen Afghanistan-Äußerungen. Im Schloss Bellevue herrscht Entsetzen: Wie soll er die restlichen vier Amtsjahre überstehen?”
Letztlich dürfte der vernichtende Spiegel-Artikel maßgeblichen Anteil an Köhlers endgültiger Entscheidung gehabt haben – und die Blogs daran, dass Spiegel Online und der Spiegel das Thema aufgegriffen haben. In Blogs wurde das Thema als relevant identifiziert und organisierte sich erster und anhaltender Protest.
Dass sich Horst Köhler nun so schnell aus dem Amt verabschiedet hat, gehört zu weiteren Merkwürdigkeiten dieser Thematisierungskarriere. Köhler war mit dem medialen “shit storm” augenscheinlich überfordert.
Nachtrag: Das ZDF hat – analog zu diesem Text – ein Video für das heute journal produziert:
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