von Matthias Krämer, 17.8.14
Als ich mich hier zuletzt mit dem Konflikt in der Ukraine und den Verantwortlichkeiten für die Entstehung verheerender Kriege auseinandergesetzt habe, indem ich die Dynamik der Julikrise 1914 zum Vergleich heranzog, waren auch einige Zeitungen in ihren Leitartikeln schon bei den Prinzipien angekommen, die man aus der Geschichte abzuleiten habe, um sein Handeln in der Gegenwart daran zu orientieren.
Dafür ist es entscheidend, welche historische Situation man als Analogie zur Ukrainekrise ansieht. Aus meinem Rückblick auf die teils kalkulierte, teils unkontrollierbare Eskalation zum Ersten Weltkrieg gewann ich das auch heute anwendbare Prinzip, dass eine Person für ihre Handlungen verantwortlich ist – und dementsprechend ein Staat für die Handlungen seiner Repräsentanten. Je größer und unabsehbarer die möglichen Folgen einer Handlung, desto weniger gern stellen sich Menschen offenbar dieser Verantwortung.
Im Fall des Ersten Weltkriegs waren die von den Politikern aller Länder vorausgeahnten Folgen so monströs, dass alle Beteiligten stets jede Verantwortung möglichst weit von sich schoben und nach dem Krieg wahrscheinlich sogar selbst glaubten, dass die Last des Unverantwortlichen nicht auf ihnen liege.
Am markantesten zeigen dies die Worte, mit denen Zar Nikolaus II. den bereits erteilten Befehl zur Generalmobilmachung am Abend des 29. Juli 1914 widerrufen haben soll:
“Ich werde nicht die Verantwortung für ein monströses Blutbad übernehmen!”
(Tatsächlich konnte er damit die Generalmobilmachung nur für 24 Stunden aufhalten.)
Würden alle Krisenakteure – 2014 nicht anders als 1914 – dieser Maxime folgen, dabei aber gleichzeitig anerkennen, dass sie für ihr Handeln und Nichthandeln Verantwortung tragen, gäbe es keine Eskalation. Der Zar erkannte seine Verantwortung auch deshalb an und schreckte vor ihr zurück, weil er sich selbst als mächtigen Autokraten sah. Niemand außer ihm würde die Verantwortung für Russlands Generalmobilmachung und ihre Folgen übernehmen. Außer vielleicht: die öffentliche Meinung.
Kriegsbereitschaft und verantwortungslose Kommentare
Die öffentliche Meinung dürfte oftmals schon deshalb so überdreht kriegshetzerisch sein, weil sich – damals wie heute – jeder Zeitungskommentator einreden kann, nur ein Mosaikstein zu sein, ohne Macht, ohne Verantwortung. Da könne man den eigenen düsteren Gefühlen und Ressentiments doch ohne weiteres Ausdruck verleihen, ohne irgendwelche Mitverantwortung für ein monströses Blutbad übernehmen zu müssen. Vielleicht lässt sich hier und da auch noch ein bisschen zuspitzen, damit das dumpfe Publikum begreift, worum es geht?
Das ist ironischerweise wohl auch eine Denkweise, die heute viele Kommentierende auf Online-Medienseiten pflegen, Anwesende natürlich ausgenommen: Sie sehen sich als bloßes Sandkorn, völlig irrelevant selbst im Vergleich mit Mosaiksteinen. Verantwortung für einen Krieg kommt da gar nicht in Betracht. Und man fühlt sich auch gleich besser, wenn man Hass und Angst mal in derben Worten freien Lauf gelassen hat. Da wird alles beschimpft, was ins Blickfeld gerät, vom ziemlich beliebigen Thema eines Artikels über Autor oder Autorin bis hin zu anderen Kommentierenden.
Weil nun aber auch aus Sandkörnern und Mosaiksteinen sich ganze Bilder zusammensetzen, also eine öffentliche Meinung entsteht, stellt sich die Frage, an welchen Prinzipien eine solche öffentliche Meinung sich orientieren könnte.
Die öffentliche Meinung in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs hat Christopher Clark in seinem Kapitel über “Die vielen Stimmen der europäischen Außenpolitik” gleichberechtigt neben den europäischen Regierungen eingehend analysiert. Er kommt zu dem Schluss, dass sich Regierungen und Presse stets wechselseitig beeinflussten, nicht nur innerhalb jedes Landes, sondern auch quer durch Europa. Prägend für den Ausgang der Julikrise seien nicht die vereinzelten Kriegshetzer gewesen, sondern die weit verbreitete Bereitschaft gerade der gebildeten Eliten, Krieg als Mittel der Politik zu akzeptieren und sogar als unvermeidlichen Bestandteil der internationalen Beziehungen anzusehen. Clark sieht die daraus folgende erhöhte Kriegsbereitschaft als Ergebnis eines längerfristigen Mentalitätswandels bis 1914.
Das folgende Jahrhundert hat mehrere solcher Wandlungen der Mentalität gebracht. Die große Zeit des “Nie wieder Krieg!” scheint vorbei, und seit die EU 2012 quasi als Nachtrag zu dieser Epoche den Friedensnobelpreis bekommen hat, ist es eher schlimmer als besser geworden. Der Eindruck, dass Krieg als Mittel der Politik seit dem Ende des Kalten Krieges wieder hoffähig geworden ist, stützt sich nicht zuletzt auf die Durchsetzung eines “erweiterten Sicherheitsbegriffs” im Zusammenwirken von Netzwerken aus Politikern, Journalisten und Lobbyisten, die in jüngster Zeit verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten sind.
Der bekannte Wissenschaftsjournalist John Horgan kritisierte diese Mentalität gerade so:
“According to surveys I’ve carried out for more than a decade, the overwhelming majority of people view war as inevitable, a permanent feature of human existence. This fatalistic outlook is wrong, both empirically and morally. Empirically because it contradicts what science and history tell us about war. Morally because it perpetuates war by discouraging us from seeking solutions.”
Dass heute eine erhöhte Kriegsbereitschaft in der Ukrainekrise erkennbar ist, zeigt sich auch an den von Politik und Medien aus historischen Vergleichen abgeleiteten Prinzipien.
Stärke zeigen, Kriegsbereitschaft erhöhen
Das erste Prinzip empfahl Reinhard Veser schon in der Überschrift seines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 3. August: “Ukraine-Konflikt. Stärke zeigen“.
Der Tenor seiner Ausführungen könnte auch aus der Julikrise stammen, in der die Demonstration unbeugsamer Stärke als friedenssichernde Strategie angepriesen wurde. Die zu dieser Behauptung notwendige Voraussetzung lautete, dass der jeweilige Gegner eigentlich ein Feigling sei, seine Drohungen bloß Bluff. Umgekehrt waren alle von sich selbst überzeugt, dass sie keine Feiglinge waren. Doch abgesehen von diesem Vabanque-Spiel greift Veser Rhetorik und Strategien aus der Endphase des Kalten Krieges auf:
“Solange es in Moskau keine grundsätzlichen politischen Veränderungen gibt, wird Streit zwischen Russland und fast dem ganzen Rest Europas eine Konstante bleiben. Dabei braucht es einen langen Atem.
Nötig ist ein neuer Doppelbeschluss: Der Westen muss seine wirtschaftliche, politische und militärische Abwehrbereitschaft stärken und auch demonstrieren. Eine Ausweitung der Konfliktzone kann am ehesten vermieden werden, wenn für Moskau unübersehbar ist, dass der Preis für eine weitere Aggression hoch wäre. Gleichzeitig aber müssen Russland klar definierte Angebote für eine Kooperation zum erkennbar beiderseitigen Vorteil gemacht werden. Der Westen muss eine Formel finden, die deutlich macht, dass er den Konflikt nicht will, dass er aber nicht zurückweicht, wenn es um seine Werte geht.”
Der Verweis auf den NATO-Doppelbeschluss ist brisant. Teilen der FAZ-Klientel mag diese Anspielung gefallen, weil man die Aufrüstung des Westens nach dem Beschluss vom 12. Dezember 1979 für die Maßnahme hält, mit der die Sowjetunion in die Knie gezwungen worden sei. Doch selbst, wenn man das glaubt: Von einer “Ausweitung der Konfliktzone” ließ sich die UdSSR dadurch nicht abhalten. Zwei Wochen später intervenierte sie in Afghanistan und legte damit – so die konkurrierende Interpretation – selbst den Grundstein für ihren Untergang. Doch was sollte das Ziel des FAZ-Doppelbeschlusses sein, wenn man unterstellt, er hätte dieselbe Wirkung wie 1979? Will man Wladimir Putin “totrüsten” und in zwölf Jahren den Zerfall Russlands feiern?
Kriege nicht denken, Eskalation verhindern
Gabor Steingart vom Handelsblatt war wohl auch nicht ganz klar, welcher Logik die FAZ da folgte. Er schrieb am 4. August auf morningbriefing.de:
“Der Leitkommentar der Redaktion aber fordert unverhohlen zum Losschlagen gegen Russland auf: Der Westen müsse seine ‘militärische Abwehrbereitschaft stärken und auch demonstrieren’. Die Sätze lesen sich wie geistige Einberufungsbescheide. Die Lehre Nummer eins der Vergangenheit scheint bei den geschätzten Kollegen vergessen: Kriege beginnen immer damit, dass man sie denkt.”
Nun hatte Veser in der FAZ nicht gerade zum Angriffskrieg (“Losschlagen gegen Russland”) aufgerufen und die Mobilmachung durch “Einberufungsbescheide” gefordert. Aber Steingart war aufgefallen, dass die FAZ einer Eskalation das Wort redete. Und nicht nur die FAZ, wie er in einem späteren Essay an Überschriften wie “Genug gesprochen!” – “Ende der Feigheit” – “Jetzt oder nie” vorführte, letzteres übrigens der Schlachtruf Wilhelms II. im Juli 1914 zum gründlichen Abrechnen mit den Serben. Weil Steingart die Ähnlichkeit zum Ersten Weltkrieg sieht, plädiert er für eine entschiedene Entspannungspolitik. Er sieht Obama und Putin “geradezu schlafwandlerisch auf ein Schild zusteuern, auf dem steht: Kein Ausweg”.
Die “Junge Welt” erkannte “in den Konzernmedien vorsichtige Absetzbewegungen vom bellizistischen Mainstream”, weil Steingart der FAZ die Forderung entgegensetzte, nicht an Krieg zu denken. Das war der FAZ-Redaktion dann auch nicht kriegswillig genug:
Christian Geyer-Hindemith fand den Kriegstreiberei-Vorwurf noch am selben Tag “aberwitzig” und identifizierte die FAZ-Forderungen nach einem harten Kurs kurzerhand als “Europas Reaktion auf Putin“. Angesichts der “Aggressivität der russischen Führung” sei es der Normalzustand eines FAZ-Leitartiklers wie Veser, dass er sich “bedroht fühlt” und sich “realistischerweise” frage: “Wo wird die russische Armee denn wohl haltmachen wollen”?
Dieses Bedrohungsgefühl suggeriert Geyer-Hindemith offenbar wie Veser, dass eine russische Armee, die die Krim besetzt hat, morgen in Warschau, übermorgen in Berlin und schließlich in der FAZ-Redaktion in Frankfurt am Main haltmachen wolle. Wenn das so ist, dann wird auch verständlich, was Geyer-Hindemith hier meint:
“Wer sich im Museum von Kindern bedroht fühlt, wird nach einer anderen Lehre Nummer 1 Ausschau halten.”
Das ist völlig richtig, wer Angst vor Kindern hat, sollte vielleicht eine psychologische Beratung konsultieren. Das gilt eigentlich auch, wenn man sich fürchtet, die Rote russische Armee könnte in ein NATO-Land einmarschieren. Aber Geyer-Hindemith möchte seine Angst ohne psychologische Hilfe bewältigen, und zwar so:
“Die Lehre Nummer 1, die man in dieser Situation der Vergangenheit entnimmt, kann natürlich nur lauten: Stärke zeigen! Der Westen muss seine wirtschaftliche, politische und militärische Abwehrbereitschaft stärken und auch demonstrieren, will er sich nicht einem Automatismus fügen, bei dem Putin die EU vor sich hertreibt, den Dialog simulierend auf Zeit spielt, derweil er selbst systematisch die Regeln missachtet, die er eben noch vorgab, einhalten zu wollen. Das auszusprechen, klingt nachgerade selbstverständlich”.
Wer Angst hat, der muss Stärke zeigen, das ist das übliche Verhalten im Rudel des lupus homo homini, des gemeinen Menschenwolfs. Wer Angst hat, kann auch Steingart als “Risikoträger des journalistischen Handwerks” beschimpfen, “dem Geschäfte über alles gehen”, auf dem der “Druck der Wirtschaftslobby” laste, und das sei nach eigener Ansicht noch “vornehm ausgedrückt”.
Gegenüber der FAZ-Maxime “Stärke zeigen!” bevorzuge Steingart: “Seid nett zu Putin, was immer er tut”! Wenn man die Polemik “was immer er tut” streicht, bleibt von Steingarts Maxime übrig, mit Putin zu reden, zu verhandeln, sich zu einigen, also ein Plädoyer für eine diplomatische Lösung der gegenwärtigen Konfliktlage. Die FAZ-Maxime plädiert dagegen für Eskalation bis zur Drohung mit einer militärischen Option.
Besonnenheit der Militärstrategen angesichts atomarer Bedrohung
Man kann annehmen, dass die FAZ-Redakteure das militärische Szenario nicht durchdacht haben.
Was ist denn, wenn Putin kein Feigling ist, sondern ein stolzer Macho, und wenn er nicht vor militärischen Drohungen der NATO einknickt? Sollen NATO-Truppen dann in die Ukraine einmarschieren? Was, wenn Putin das nicht regungslos hinnimmt? Er kann nicht in NATO-Mitgliedsstaaten einmarschieren, ohne eine atomare Reaktion zu befürchten. Einem atomaren Erstschlag der NATO müsste Russland aber zuvorkommen, weil die westlichen Raketenabwehr-Fähigkeiten, die einen russischen Zweitschlag weitgehend wirkungslos machen könnten, einem massiven russischen Erstschlag nicht gewachsen wären.
Das bedeutet, dass es heute wie 1914 einen Punkt in der möglichen Konflikt-Eskalation gibt, der nicht im Voraus genau bestimmbar ist, an dem das weitere Vertrauen auf eine Deeskalation durch Verhandlungen aber schwere negative Auswirkungen auf die eigene militärische Stärke haben könnte. Heute wirkt sich das Erreichen dieses Punktes so aus, dass es für Russland wie für die NATO strategisch geboten erscheinen könnte, einen massiven atomaren Angriff durchzuführen. Selbst wenn Putin dann ausruft “Ich werde nicht die Verantwortung für ein monströses Blutbad übernehmen!”, würde sich diese strategische Lage nicht plötzlich auflösen.
Das 2010 beschlossene Strategische Konzept der NATO ist im Bewusstsein der Gefahr, die von einem solchen Eskalationsszenario ausgeht, so stark auf Kooperation und Verhandlungen mit Russland ausgerichtet, dass die FAZ es wohl als “Seid nett zu Putin, was immer er tut” zusammenfassen würde.
Im Abschnitt “Promoting International Security through Cooperation” heißt es:
“NATO-Russia cooperation is of strategic importance as it contributes to creating a common space of peace, stability and security. NATO poses no threat to Russia. On the contrary: we want to see a true strategic partnership between NATO and Russia, and we will act accordingly, with the expectation of reciprocity from Russia. […] Notwithstanding differences on particular issues, we remain convinced that the security of NATO and Russia is intertwined and that a strong and constructive partnership based on mutual confidence, transparency and predictability can best serve our security.”
Am NATO-Konzept zeigt sich auch, dass Steingarts (angeblich) aus der Geschichte gezogene Lehre “Kriege beginnen immer damit, dass man sie denkt.” nur unter Realität und Logik verleugnenden Bedingungen das von Geyer-Hindemith unterstellte “Denkverbot für den Casus belli” darstellt. Die NATO hat offensichtlich im Gegensatz zur FAZ-Redaktion über mögliche Kriege, ihre Bedingungen und ihre Folgen nachgedacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass trotz oder wegen der militärischen Stärke der NATO die Maxime gilt:
“The best way to manage conflicts is to prevent them from happening.”
Diese Linie, in der ein Krieg gegen Russland keine realistische Handlungsoption darstellt und – nun, da er überhaupt vorstellbar geworden ist – eine militärische Eskalation unbedingt mit diplomatischen Mitteln verhindert werden muss, vertrat Ende Juli auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier:
“Vielleicht gibt es in Deutschland den ein oder anderen, der sagt, wir sollten die Bundeswehr engagieren, um dort gegen Russlands Vorhaben militärisch zurückzuschlagen. Ich bin dieser Meinung nicht. Und ich glaube, die große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist es auch nicht. Wenn wir also nicht die Mittel der militärischen Gegenwehr haben, dann sind es eben politische und diplomatische Mittel.”
Realitätsverluste und der unausweichliche Krieg
Aus Sicht der FAZ scheint “die größte außenpolitische Krise der letzten Jahrzehnte” (Steinmeier) jedoch bereits so auszusehen:
“Was aber, wenn die kriegerische Aggression wie im Falle der russischen Armee schon längst begonnen hat? Dann kommt das Verbot, über diese Aggression nachzudenken, einem tragischen Realitätsverlust gleich. Die Weigerung, den bestehenden militärischen Konflikt zu analysieren, macht blind für den Umstand, dass nicht nur das Tun, sondern auch das Lassen gerechtfertigt sein will.”
Der große Krieg hat für Geyer-Hindemith offenbar längst begonnen, aber noch weigern sich manche – darunter wohl auch friedensbewegte NATO-Generäle –, das anzuerkennen:
“Nach dieser vielleicht anrührenden, aber brandgefährlichen Logik wird der Frieden gesichert, wenn man dem kriegerischen Akt, den andere gesetzt haben, einfach keine Realität zuschreibt, ihn denkunmöglich macht.”
Deshalb bringt der FAZ-Feuilletonist die Geheimwaffe seines argumentativen Abschreckungs-Arsenals in Stellung:
“Als Regel Nummer 1, die aus der Vergangenheit zu ziehen sei, formulierte Gauck bei dieser Gelegenheit dem Sinne nach: Wenn Kriege drohen oder man schon mittendrin steckt in kriegerischen Auseinandersetzungen, dann ist Pazifismus durchaus nicht immer das Mittel der Wahl. […] Man kann, so Gauck an die Pfarrer, zum Einsatz militärischer Gewalt mit guten Gründen auch anderer Meinung sein, als den Pazifismus zur einzig möglichen Option zu erklären. Ohne den Einsatz bewaffneter Kräfte, so ließ er durch seinen Staatssekretär ausrichten, wäre keine Befreiung von der Hitler-Diktatur in Deutschland möglich gewesen.”
“Wie Hitler” – Legitimationsrhetorik des modernen Krieges
Wenn der Bundespräsident es noch nicht getan hat, erledigt es hier die FAZ: Die Bereitschaft zum “Einsatz bewaffneter Kräfte” gegen Putin begründet sie unter Verweis auf Hitler. Das ist kein argumentativer Ausrutscher. Denn auf den Zivilisationsbruch des Holocaust anspielend, lautet Geyer-Hindemiths Fazit:
“Wenn es eine Regel Nummer 1 gibt, die sich der Vergangenheit entnehmen lässt, dann doch wohl diese: Die Zivilisation ist eine dünne Decke. Wo sie von den Putins dieser Welt mit Gewalt zerrissen wird, muss der Westen die wirtschaftliche, politische und militärische Abwehrbereitschaft stärken und auch demonstrieren.”
Im Historikerstreit ging es ab Mitte der 1980er-Jahre um die Frage, ob der Zivilisationsbruch von Auschwitz, der nicht etwa eine dünne Decke oben, sondern, wie Jürgen Habermas formulierte, “eine tiefe Schicht der Solidarität zwischen allem, was Menschenantlitz trägt”, zerrissen hatte, ob dieser Zivilisationsbruch sein “Prius” im Gulag der Sowjetunion hatte. Der systematische, industrielle Massenmord sei vielleicht gar nicht ursprünglich deutsch, sondern aus “dem Osten” gekommen, nur eine Reaktion, womöglich relativierbar oder sogar in Ansätzen entschuldbar mit der Verständlichkeit von Angst vor den Gräueln des Kommunismus, wähnten damals manche Unterstützer Ernst Noltes.
Für ihre Gegner hieß das, “eine Art Schadensabwicklung” zu betreiben, um die historische Identität der Bundesrepublik von der Last der historischen Verbrechen zu befreien. Kurz nach der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses konnte man dies im Kontext einer aggressiven Haltung des Westens gegenüber der UdSSR als Symptom einer geistig-moralischen Aufrüstung ansehen – letztlich zur Vorbereitung eines Endkampfs gegen das “Reich des Bösen”. Die historische Frage, ob “Stalin schimmer als Hitler” gewesen sei, ließ sich in der Gegenwart der 1980er-Jahre im Hinblick auf ihre praktische Konsequenz verstehen, ob die NATO militärisch gegen den Ostblock vorgehen sollte.
Das waren zwar wahnsinnige Gedankenspiele, und die Gleichsetzung von Stalin und Hitler konnte noch weniger überzeugen als die Totalitarismustheorie, nach der die Herrschaftssysteme von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus wesensverwandt seien, aber eine gewisse militärische Mobilisierung geht zumindest in der deutschen Öffentlichkeit seither mit “Hitlervergleichen” einher. Insbesondere mit Völkermord-Vorwürfen lassen sich in Deutschland leicht Kriegseinsätze der Bundeswehr rechtfertigen, seit die SPD “humanitäre Katastrophen” mit “humanitären Interventionen” zu bekämpfen bereit ist, und die Grünen von “Nie wieder Krieg” auf “Nie wieder Auschwitz” umschwenkten.
Hitlervergleiche beliebter als je zuvor
An den Grundlagen für eine Mobilisierung westlicher Öffentlichkeiten gegen Russland wird in diesem Sinne seit einiger Zeit hart gearbeitet. Nicht nur in der FAZ steht, dass Putin die dünne Decke der Zivilisation mit Gewalt zerreiße, und dass daher der Einsatz bewaffneter Kräfte wie zur Befreiung Deutschlands von der Hitler-Diktatur gerechtfertigt sei.
Putin ist laut dieser unvollständigen Liste auch der in den letzten Jahren am häufigsten mit Hitler verglichene Politiker, mit weitem Abstand vor Barack Obama, Angela Merkel und Mahmoud Ahmadinejad.
Die elf dort verzeichneten Vergleiche (oder rhetorisch verbrämte Gleichsetzungen) Putins mit Hitler erfolgten alle im letzten halben Jahr und bezogen sich auf die Ukrainekrise. Hitlervergleiche aus der Ukraine wie von der Politikerin Julija Tymoschenko oder dem Patriarchen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche Filaret II. mögen aufgrund der angespannten Lage verständlich sein. Sie dienen aber letztlich auch der Mobilisierung des Westens zur Unterstützung der Ukraine.
Schwerer wiegt die rhetorische Aufrüstung von Spitzenpolitikern aus zahlreichen NATO-Staaten: Neben Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite und dem ehemaligen Außenminister Tschechiens Karel Schwarzenberg konnten sich auch ex-US-Außenministerin Hillary Clinton und der britische Thronfolger Prince Charles Hitlervergleiche nicht verkneifen.
In Deutschland gehört das offenbar unter Unionspolitikern zum guten Ton: Wolfgang Schäuble, Volker Bouffier, Bernd Posselt und Erika Steinbach haben sich hervorgetan, Letztere entsprechend ihrer Doktrin, dass Hitler gleich Stalin und der Nationalsozialismus links sei:
Eines Geistes Kind. Völkerrecht und Menschenrechte gelten den Dreien gleichermaßen nichts! pic.twitter.com/Adl1FZoAcA
— Erika Steinbach (@SteinbachErika) 10. Mai 2014
Die Zeit für Verhandlungen mit Putin ist vorbei, signalisieren all diese Politiker im Gegensatz zu Steinmeier, und entsprechend erbost reagiert die russische Diplomatie. Der Spiegel berichtete:
“‘Das hat unsere Arbeit nicht einfacher gemacht’, beklagen deutsche Beamte, die zum Teil mit Wissen oder im Auftrag der übrigen G7-Länder den Kontakt nach Moskau aufrechterhalten. Die Kontakte finden zum Teil auf informeller, aber hochrangiger Ebene statt, um den Dialog mit der Putin-Administration nach der Annexion der Krim nicht gänzlich zu kappen.”
Gerade die deutschen Politiker begründen ihre Hitlervergleiche mit einer Analogie zwischen Ukrainekrise und “Sudetenkrise” 1938 und lehnen jede Appeasement-Politik gegenüber Putin mit dem Argument ab, das westliche Appeasement 1938 sei ursächlich für den Zweiten Weltkrieg gewesen oder habe diesen nicht verhindert. Dabei wird vieles über den Charakter Hitlers und seiner Politik implizit vorausgesetzt, ebenso über den Charakter Putins und seiner Politik.
Über Hitler suggeriert nämlich die Behauptung, Appeasement sei ursächlich für den Zweiten Weltkrieg gewesen, dass Hitler diesen Krieg gar nicht unbedingt gewollt hätte – was offensichtlich absurd ist. Über Putin hingegen postuliert die Behauptung, Appeasement habe den Zweiten Weltkrieg nicht verhindert und sollte deshalb heute nicht angewandt werden, dass Putin (wie Hitler) letztlich einen großen Krieg um jeden Preis anstrebe. Auch wenn wir nicht in Putins Kopf blicken können und eine Programmschrift wie “Mein Kampf” zumindest mir nicht von Putin bekannt ist: Die gemeinsame Außenpolitik des Westens auf dem Postulat aufzubauen, “dass Putin ein größenwahnsinniger Tyrann ist, der seine Politik aggressiv nach außen richtet” (Bernd Posselt, CSU), würde selbst von nichts anderem als Wahnsinn zeugen.
Das hieße, wie Jakob Augstein formuliert, “bei vollem Bewusstsein das rituelle Opfer an die Stelle praktischer Politik” zu setzen. Die Bereitschaft zum Opferbringen im Kampf gegen das Böse war auch 1914 weit verbreitet, wie Christopher Clark unter Verweis auf die Studie Bereaved and aggrieved: combat motivation and the ideology of sacrifice in the First World War betont. Aufrufe zu Opferbereitschaft bei Kriegsbeginn wuchsen sich zu einem regelrechten Opferkult aus, während das prophezeite monströse Blutbad jahrelang andauerte.
Dass eine bis zur Unkontrollierbarkeit eskalierte Konfrontation zwischen Russland und der NATO den Ersten Weltkrieg mit seinen 20 Millionen Toten und mindestens ebenso vielen Verwundeten leicht in den Schatten stellen dürfte, muss man wohl heute wieder ausdrücklich dazu sagen. Denn wenn die “Lehre Nummer eins der Vergangenheit” lautet, dass man das Risiko eines Atomkriegs damit bannen könnte, dass man es ignoriert, dann ist irgendetwas falsch gelaufen mit dem Einsatz historischer Analogien.