von Christian Neuner-Duttenhofer, 7.3.16
Wenn diejenigen, die bei den gestrigen Kommunalwahlen in Hessen ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, dies mit Protest gegen die „etablierten“ Parteien erklären, ist das schon zweifelhafte Selbstverzwergung genug. Wenn nun die Medien den Erfolg dieser neuesten Inkarnation der Rechten (nebenbei: da, wo die AfD nicht antrat, reüssierte die NPD) und die geringe Wahlbeteiligung insgesamt einfach mit „Unzufriedenheit“ erklären, entlassen sie die Bürgerinnen und Bürger aus ihrer Verantwortung. Wenn aber letztlich auch die Parteien von Union über SPD und Grüne bis hin zu den Linken dieser Erzählung nun selbst auf den Leim gehen, wäre dies die kleinmütigste aller Reaktionen.
Das bedeutet auch hier nicht, dass man keine Kritik an Parteien und Politikern üben darf. Auch die Medienkritik ist angesichts der „Lügenpresse“-Rufe ja nicht unlauter geworden. Nur muss man sich jetzt deutlich mehr Mühe geben.
Jede und jeder darf wählen was sie oder er will oder eben auch nicht. Das ist neben vielem anderen ein mit Blick auf die Welt eher seltenes Privileg dieses Landes.
So tragen alle zu genau dem Ergebnis bei, das am Ende durch den Wahlleiter bekannt gegeben wird – und damit tragen schlicht alle die Verantwortung. Gerade auch diejenigen, die die nicht zur Wahl gehen. Wenigstens ein Strichmännchen hätte man machen können. Der Wahlzettel war ja mit zum Teil 1,5 Metern Breite groß genug für kreatives Arbeiten in der Wahlkabine. Hessen zeigt: Der Satz „meine Stimme zählt eh nicht“ ist nach wie vor eine Schimäre.
Dazu gehört über Wahlen hinaus: Wer den Mund nicht aufmacht, wer sich nur ins eigene zurück zieht, ist keinesfalls ohne Beitrag. Passivität bleibt wie jedes Handeln nicht ohne Konsequenzen. Mit Blick auf die grassierenden Ängste ebenso wie die Sickerwirkung rechter Frames und den Knalleffekt billigster Populismen.
Menschen, denen die offene Gesellschaft am Herzen liegt, progressive Kräfte, sind durch den Lauf der Geschichte immer herausgefordert. „It’s a long road there is no turning back“, wusste schon Funki Porcini.
Es ist eine Form der Repolitisierung, die wir gerade erleben. Nur hat uns niemand versprochen, dass es nun gerade diejenige ist, die wir uns gewünscht haben.
Die „Rückkehr des Politischen“, wie Heinz Bude das nennt, kommt nun mit einer Heftigkeit, die mit Blick auf die Ruhe und Entpolitisierung der „Merkel-Republik“ schwer zu begreifen ist. Nun sitzen viele so hilflos da, wie wenn sie in Staffel 2, Episode 4 in House of Cards eingestiegen wären. Nur war Politik ja nie weg. Alles, was die Babyboomer-Generation so gerne außen vor gehalten hat, kommt jetzt im schonungslosen Schnelldurchgang wieder zum Vorschein: dass es in der Politik um den Kampf von Interessen und um Macht geht, dass Politik Kompromissfähigkeit bedeutet, dass es darum geht, dicke Bretter zu bohren.
„Wer im Raum zu müde ist, um jeden Tag über die Gesellschaft zu verhandeln, über den wird verhandelt und entschieden“, sagt Michel Friedman. Die wenigsten wissen, was sie jetzt machen sollen. Da es leider wiedermal kein Tool gibt, das uns das mit ein paar schnellen Angaben und einem schicken Algorithmus einfach ausspuckt (so was wie ein „Engagement-O-Mat“), müssen wir schon selbst ran und eins entwickeln. Man nennt es: politisches Bewusstsein.
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