#Abhängigkeiten

Heute schon was abgestimmt?

von , 2.3.13

Wenn in Medien oder öffentlichen Äußerungen von Abstimmung die Rede ist, dann geht es dabei in der Regel um die Abgabe von Stimmen für oder gegen etwas (neudeutsch “voten” genannt). Wenn in der betrieblichen oder politischen Praxis von Abstimmung die Rede ist, dann sind damit meist die Klärung von Sichtweisen und der Erhalt von Zustimmung für eine Entscheidung gemeint.

Jüngst sprach ich mit einem Projektleiter, für den mittlerweile die Frage “Ist das Vorgehen auch mit xyz abgestimmt?” zu den meistgehassten Floskeln gehört. Das liegt vor allem daran, dass Abstimmungen immer mehr dazu dienen, Entscheidungen zu verschieben und Verantwortung zu delegieren.

Ich denke, der Projektleiter liegt nicht so verkehrt. Der Abstimmungswahn hat gefühlt in den letzten Jahren deutlich zugenommen und ist umso ausgeprägter, je größer und verzweigter die Organisationsstruktur ist. In der Politik kann man die Folgen gut beobachten. Die im vergangenen Jahr kurz aufgeblühte Piratenpartei trocknet derzeit bei den Wählern auch deswegen aus, weil die öffentliche Darstellung von Streitigkeiten über “unabgestimmte” Positionen dominiert wird.

Eigentlich gehört ja Mitbestimmung, Beteiligung und die Erzielung eines Konsenses zum Dogma des neuen Jahrtausends, ist sozusagen paradigmatischer Bestandteil des Webs 2.0. Nicht einer oder wenige bestimmen, sondern in den jeweiligen Netzwerken und Institutionen wird nach einem Konsens gesucht. Aber in der Politik- und Wirtschaftspraxis führt dies zur Lähmung.

Gut zu beobachten ist dies am Beispiel der internationalen Finanzmarktregulierung. 2009 etwa waren Spitzenpolitier auf einem G20-Gipfel sich einig, dass Finanzinstitute im unregulierten OTC-Geschäft zu hohe Risiken eingingen. Mit einer abgestimmten politischen Absichtserklärung hat man eine entsprechende Vorgabe formuliert. Diese wurde in Europa nach intensiven Abstimmungen (in der Politiksprache Konsultationen genannt) zwischen den EU-Gremien Kommission, Parlament und Ministerrat in eine Verordnung (EMIR) gegossen. Ergänzend sind nationale Begleitgesetze entstanden, über die sich in Deutschland zunächst die Regierung abzustimmen hat, anschließend müssen Bundestag und Bundesrat entscheiden. Weitere technische Detailregelungen zu der Richtlinie wurden von der europäischen Regulierungsbehörde ESMA entwickelt. Anschließend wurden sie von der EU-Kommission erlassen und erst nach Diskussion im Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments vom Plenum durch “Verzicht auf sein Widerspruchsrecht” freigegeben. Selbst Fachleute hatten Probleme, diesem Abstimmungsmarathon zu folgen.

In Unternehmen leidet das Management nicht nur unter der stark zugenommenen Komplexität und widersprüchlichen Anforderungen verschiedenster Stakeholder, sondern auch unter dem “Compliancewahn”, der Entscheidungen verzögert und oft zu einem Abstimmungsmarathon führt. Diese Prozesse in vielen Unternehmen verzögern oder verhindern wichtige Entscheidungen. Pfiffige Visionen werden in den Mühlen der Zuständigkeiten zu einem laschen Haferbrei gemanscht. Entscheidungen für oder gegen Projekte gehen quälend lange Planungs- und Abstimmungsphasen voraus.

Gerade in größeren Unternehmen scheint es mehr kontrollierende Prozesse bzw. Organisationseinheiten zu geben, als Abteilungen, die sich mit Entwicklungen befassen. Heute sorgen Revision, Compliance, verschiedenen Spielarten des Risikomanagements und das (IT-)Kostencontrolling für zusätzliche Hürden, die Enthusiasmus schnell dämpfen. Die Rückdelegations- und Abstimmungskultur entwickelt sich zum Hemmschuh für Unternehmen und demotiviert engagierte Mitarbeiter. Immer mehr Entscheidungsträgern wird daher eine geringe Verantwortungsübernahme bescheinigt. Aufsichtsräte von DAX-Konzernen gehen neuerdings dazu über, Entscheidungen erst nach einem Gutachten durch eine Anwaltskanzlei zu treffen. Wenn überhaupt, dann wird gerade in großen Betrieb langsam und spät entschieden, und viele Entscheidungen entpuppen sich, wenn überhaupt, als second-best-Lösungen.

Längst nicht mehr putzig sind Abstimmungsmarathons nach folgendem Muster: Wenn man einen Konsens mit A, B und C abgestimmt hat und anschließend D eine Änderung bewirkt, beginnt man wieder von vorn. Ein solcher Lauf kann so schnell zu einem Triathlon werden. Ich habe es mir daher bei Projekten in größeren Unternehmen angewöhnt, die Entscheidungsträger möglichst frühzeitig an einen Tisch zu holen.

Die Ökonomie betrachtet übrigens den Aufwand für Abstimmungen unter den Transaktionskosten. Diese umfassen die Kosten der Einrichtung, Benutzung, Erhaltung und Veränderung der Ordnung eines Systems. Zu diesen Transaktionskosten rechnen Ökonomen die Verhandlungs- und Entscheidungskosten. Interessanterweise betrachten Ökonomen diese vor allem beim Zustandekommen von Markttransaktion. Und sie erklärten gerade die Entstehung von Unternehmen u.a. damit, dass dadurch die Verhandlungs- und Entscheidungskosten geringer werden als bei Durchführung der gleichen Transaktion über einen Markt. Tatsächlich nehmen aber mit der Größe der Unternehmen die Bürokratiekosten zu. Und was die Ökonomie vielleicht noch zu wenig berücksichtigt, ist, dass es zwar einfach ist, einen gegenwärtigen Zustand und Vorschläge zu kritisieren, aber weitaus schwerer, gute Vorschläge zu entwickeln und diese nach der Abstimmung auch umzusetzen.
 

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Beitrags, den Dirk Elsner für die CFOWorld geschrieben hat.

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