#Freiheit

Heidegger, der Liberalismus und die Sozialdemokratie

von , 12.8.15

Was ist Freiheit? Diese Frage ist eine hochumstrittene Frage. Zurzeit dominiert eine Auffassung von Freiheit, die Menschen auf Einzelkämpfer reduziert, die im Leben doch für alles selbstverantwortlich seien und die daher auch so frei wie möglich vom Staat sein wollen. Diese Idee der Freiheit ist es, die viele Menschen auch zunehmend nur noch egoistisch auf das blicken lässt, was sie konkret selbst betrifft.

Doch diese Freiheitsidee ist verengt. Freiheit muss auch substanziell verstanden werden. Denn was nützt einem zum Beispiel das Recht eine Zeitung kaufen zu können, wenn man sie nicht lesen kann? Freiheit hat auch soziale Voraussetzungen. Wirklich frei ist man erst, wenn man soziale Sicherheit und soziale Möglichkeiten hat. Das ist bei einigen Bürgern der westlichen Industriestaaten heute schon gegeben, aber der Anteil derer, die im substanziellen Sinne wirklich frei sind, ist immer noch überschaubar. Armut, fehlende Bildungschancen sowie unzureichende Gesundheitsversorgung bedeuten nach wie vor Unfreiheit. Und all das kann nur der Staat beheben – auch wenn der Markt die Voraussetzungen dafür hergeben muss. Daher ist der Staat auch ein Instrument für die Freiheitsschaffung und eben nicht ausschließlich für die Freiheitseinschränkung. Die neoliberale Staatsfeindschaft ist daher verkehrt. Denn es gibt auch und vor allem Freiheit durch den Staat. Demnach braucht ein Gemeinwesen mit freier Marktwirtschaft auch den Sozialstaat. Ohne diesen kann dieses Gemeinwesen kein freiheitliches sein.

Diese Probleme der Unfreiheit zu beheben, kann für jeden Menschen zu einem politischen Entwurf werden, wenn er denn nur will. Die Welt so einzurichten, dass man sie auch lieben kann, ist ein sozialdemokratisches Freiheitsprogramm. In den Staaten würde dieser politische Entwurf, wenn ihn nur viele vollziehen, zu einer freiheitlich sozialdemokratischen Grundstruktur führen. Was folgen müsste, wäre eine Weltsozialpolitik, die auch große Unterschiede zwischen den Ländern als Problem für die Freiheit vieler Weltbürger begreift.

Aber wie kann dieses sozialdemokratische Freiheitsprogramm zu einer Verantwortung jedes Einzelnen werden?

Hier kann uns das frühe Werk des großen deutschen Philosophen Martin Heidegger lehren, dass Freiheit auch in der Tat liegt. Das heißt: Wir können etwas tun, wenn wir nur den Entwurf dazu wagen. Und dieses Denken Martin Heideggers kann wiederum als liberal interpretiert werden.

Heidegger gilt heute jedoch als antiliberal, antidemokratisch, antimodern und erzkonservativ. Heideggers zuletzt veröffentlichte „Schwarze Hefte“ ließen für viele Philosophen sodann endgültig das Fass überlaufen. Heute könne man Heidegger daher nicht mehr verteidigen.

Und in der Tat ist Heidegger kein Demokrat gewesen. Vieles in seinem Werk ist bedenklich und kritikwürdig. Blindes „heideggern“ verbietet sich damit. Doch versucht man in sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ einzudringen, steckt dort viel freiheitliches Denken drin und es liefert die Grundlage für ein sozialdemokratisches Freiheitsprogramm. So kann Heideggers Werk einen wesentlichen Beitrag zur Debatte über das Wesen der Freiheit liefern.

Heideggers Philosophie ist eine Befreiungsphilosophie

Zentral ist bei Heidegger, was man ontologische Differenz nennt.

Damit ist der Unterschied zwischen Sein und Seiendem gemeint. Ging es der klassischen Ontologie beziehungsweise der Substanzmetaphysik der Antike um die Suche nach einem Wesen des Seienden, so verabschiedete Heidegger diese Fragestellung, und fragte nun nach dem vom Seienden – wie der reale Tisch, das reale Buch, der Hund und auch der Mensch – differenten Sein. Das Sein ist demnach nicht seiend. Heidegger diagnostizierte, dass seit der klassischen antiken Philosophie eine Seinsvergessenheit stattgefunden habe. So hätten die Vorsokratiker die Frage nach dem Sein zwar nie wirklich systematisch gedacht, aber doch war die Frage in ihrem Denken präsent. Die Theologie des Mittelalters und die moderne Subjektphilosophie hätten dann die Frage nach dem Sein völlig aufgegeben. Eigentlich, so Heidegger, habe bisher niemand die Frage nach der Wahrheit des Seins richtig und systematisch gestellt. Sowohl die klassischen Ontologen, die meinten, man könne eine logische Ordnung des Seienden aufdecken, als auch die Theologen, die ein oberstes Wesen (Gott) als Sein des Seienden annehmen, haben bisher falsch gefragt, vielmehr muss nach der Wahrheit des Seins direkt gefragt werden. Man müsse das Bewusstsein der Vorsokratiker systematisch angehen und daraus die Frage nach dem Sein mit der erforderlichen methodischen Strenge behandeln.

In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ wollte Heidegger die Frage nach dem Sein stellen. Heidegger fragte nicht nach dem Sein, sondern nach dem Sinn von Sein. Er wollte nicht das Sein beschreiben, so wie es an sich ist. In „Sein und Zeit“ versuchte Heidegger vom Seiendem ausgehend nach dem Sein zu fragen. Heidegger sagte: Das Dasein – also der Mensch – fragt nach dem eigenen Sein. Die vorläufige Antwort in „Sein und Zeit“ lautete für ihn: Der Sinn von Dasein ist sein Da. Oder anders gesagt: Der Sinn des Lebens ist es zu leben und eben dann irgendwann zu sterben. Nichts mehr. Das war‘s. Schluss mit den Jenseitsträumen, Schluss mit der Spekulation über das Leben nach dem Tod. Das erzeugte bei vielen seiner Zeitgenossen eine Faszination, weil sie nach einer neuen Wahrheit jenseits der christlichen Geschichte des Abendlandes suchten. Und Heidegger bot ihnen in „Sein und Zeit“ etwas Neues.

Er legte mit seiner Philosophie des Lebens aber auch neue Potenziale für das Leben frei. Heidegger betonte in „Sein und Zeit“ mit der Endlichkeit von Existenz etwas, das die Philosophen vor ihm eher verdrängt hatten, und das schuf neue Weisen des Denkens.

Heidegger wurde aber nicht nur wegen seinem Endlichkeitsdenken berühmt, sondern auch aufgrund seiner Wende zur Alltäglichkeit und zur Lebenswelt – so wie sie auch der späte Ludwig Wittgenstein vollzogen hatte. Vor allem Heidegger löste die Dualität von Subjekt und Welt auf, die seit René Descartes die Neuzeit prägte, in dem er betonte, dass das Dasein schon immer in der Welt ist. Welt wurde bei Heidegger zum Existenzial, zum Wesensmerkmal des Existierens, und daher ging es ihm auch nicht mehr um ein Erkennen von Welt durch ein dieser Welt entgegenstehendes Subjekt.

Durch die These des Beginns von Verstehen in der Alltäglichkeit, sollte allerdings auch klar gemacht werden, dass man sich von den Konventionen und Normen, in die man schon immer eingefügt sei, erst befreien müsse, um zu einem entschlossenen Selbst-Verstehen zu gelangen. Ziel sei die Befreiung zur eigentlichen Existenz, die nur durch die Aktivität des eigenen Denkens im eigenen Handeln erreicht werden könne. Heidegger, dem es in seiner Analyse in „Sein und Zeit“ um das alltägliche Dasein ging, meinte nämlich, dass das Dasein zunächst und zumeist im Man uneigentlich existiert.

Die Herrschaft des Man

Im Man herrscht ein Zwang, der nicht offen sichtbar ist, nach dem man sich dennoch verhält. Man tut dies, man tut jenes nicht. Im Man denkt man, handelt man, nach Konventionen und Normen des gesellschaftlichen Kontextes. In diesem Kontext ist man ständig um den Unterschied zu den Anderen besorgt. Man will besser sein als der Andere, will ihn deshalb zum Beispiel im Beruf niederhalten. Man versucht nicht zurückzubleiben gegen die Anderen und insgesamt hat diese Abständigkeit, die der Charakter einer solchen Seinsart im Man ist, zur Folge, dass es zur Entfremdung vom Anderen kommt. Der Einzelne ordnet sich also der Botmäßigkeit der Anderen beziehungsweise der Macht des Man unter. Das Man entlastet aber auch von der Verantwortung und macht möglichkeitsblind. Man befindet sich in einem Räderwerk, in dem man sich der Durchschnittlichkeit hingibt. Man hält Traditionen oder andere Gewissheiten, die einem aus der eigenen Lebenswelt bekannt sind, für so gewiss, dass man sich nach ihnen richtet. So bildet das Man auf der einen Seite Schutz, andererseits erzeugt es eine hohe Konformität.

Das Man hat daher zur Folge, dass sich das Dasein zunächst und zumeist in diesem Räderwerk verhakt und so ein Produkt seines Umfeldes bleibt.

Befreiung von der Sozialisation und den Konventionen des Umfeldes

Heidegger wollte seine Zuhörer und Studenten nun befreien. Er wollte sie dazu ermuntern, aus dem „man denkt, man tut“ auszubrechen. Er wollte ihnen beibringen, selbst zu denken. Mit anderen Worten: Heidegger plädierte für eine Hinterfragung der Sozialisation, er plädierte für eine Hinterfragung dessen, was einem immer als selbstverständlich galt. Dabei betonte er, dass nichts immer schon feststeht, dass es keinen Essentialismus gibt, den man erkennen müsse. Er entließ seine Studenten in die Frage nach ihrem Weg. Man solle selbstreflektierend sein Leben entwerfen. Man solle sein Potenzial nicht ungenutzt lassen.

„Sein und Zeit“ kann man daher auch als Buch mit emanzipatorischer Intention lesen. Und ist die Aufforderung zu Selbstbestimmung, Selbstverantwortlichkeit und Selbstentwurf nicht ein liberaler Gedanke? Dadurch wird Heideggers Denken zwar nicht liberal, aber man muss anders auf ihn blicken.

Heideggers Befreiungsphilosophie mutet negativ an. Denn: Wenn man sich von Konventionen und Normen seines Umfeldes entbinden soll, dann soll man sie negieren und dies unabhängig davon, wie sinnvoll diese Normen und Konventionen sein können. Durch diese negative Haltung könnte ein Narzissmus gerechtfertigt werden, in der Art, ausschließlich auf sich zu schauen, und niemals die Argumente und Wünsche der Anderen anzuhören.

Wenn man Heideggers Philosophie als Befreiungsphilosophie liest, erscheint auch eine Nähe zum Neoliberalismus, der betont, dass man alles schaffen kann, wenn man es nur will. Aber nur weil jemand will, wird ihm nicht all das gelingen, was er will – das wusste auch Heidegger. Worum es Heidegger ging, war zu sagen: Lebt euer Leben und nicht das Leben Anderer.

Ihm ging es um ein Bewusstsein, dass die Freiheit im Entwurf liegt. Für ihn lag die Freiheit somit in der Tat und nicht im Sein. Und gerade dieses Freiheitsverständnis wollte er seinen Schülern vermitteln. Und dieses Freiheitsverständnis war nie rein negativ. Denn Heidegger sagte, dass wenn jemand sich aus dem „Man“ entbinden konnte, er auch eine neue Geborgenheit in einer neuen eigentlichen Existenzweise finden könne. Und diese neue Geborgenheit setzt eine positive Idee von dem voraus, was für einen Wert hat. Die Negation des Man sollte also gerade die eigene positive Wertsetzung zur Folge haben – wo Heidegger deutlich in Tradition zu Friedrich Nietzsche steht. Diese Tradition ist als aktiver Nihilismus umschrieben und meint, dass die Wertsetzung ausschließlich in der eigenen Hand liegt und man gerade diese Selbstbestimmung auch vollziehen sollte.

Diesen Gedanken von der Emanzipation und der Selbstverantwortlichkeit, die man heute zu liberalen Ideen zählt, kann man im politischen Sinne aber auch als Basis einer freiheitlichen Demokratie verstehen, die darauf zählt, dass selbstbestimmte Demokraten sie erhalten. Heidegger hat diese politischen Konsequenzen nicht gezogen. Das hat aber seine jüdische Schülerin und Geliebte Hannah Arendt – und Republikanerin – so ähnlich für ihn gemacht. Sie hat für ihn eine politische Philosophie der Freiheit entwickelt. Sie hat den demokratischen Entwurf geleistet, der in „Sein und Zeit“ angelegt war.

Freiheit ist bei Arendt doppelt konnotiert: Erstens als Handeln in Freiheit – möglich gemacht eine republikanische Verfassungsordnung – und zweitens als realisierte Freiheit durch gemeinsames öffentliches Handeln. Mit dem Gedanken der Realisierung von Freiheit durch eigene Aktivität in der politischen Debatte, knüpfte sie deutlich an „Sein und Zeit“ an, denn Freisein zum Selbstentwurf bedeutete nach Heidegger auch den Mut zum Entwurf.

Arendt ging es nicht um eine Freiheit von Politik, sondern gerade eine Freiheit zur Politik, die das Recht möglich machen soll. Die bürgerlichen Freiheiten seien gerade dazu da, die Freiheit zur „public happiness“ zu ermöglichen, welche sich einstellt, wenn man an öffentlichen Angelegenheiten interessiert tätig ist, also im öffentlichen Raum handelt.

Die republikanische Ordnung sichert für Arendt die Freiheit zur Politik. Aber Arendt fordert eben nicht nur den Rechtsstaat und politische Partizipationsrechte, sondern sie fordert die Bürger ganz deutlich dazu auf, von ihrem Recht zur Partizipation auch Gebrauch zu machen. Der Neuanfang im Handeln und durch das Handeln ist aber immer schon möglich – auch ohne republikanische Ordnung – und immer schon demokratierelevant, weil er das ist, was die Demokratie belebt. Das Zusammenspiel der politischen Entwürfe macht für Arendt den Kern des Demokratischen aus. Ihr ist aber auch wichtig, dass dieses Zusammenspiel nicht unterdrückt wird. Es solle dazu kommen dürfen und das könne es nun mal am Besten in einer Republik.

Der Selbstentwurf, den man laut Heidegger wagen soll, wurde bei Arendt also zu einem politischen Selbstentwurf. Arendt machte hier nichts anderes, als Heidegger politisch weiter zu denken, oder anders gesagt: demokratisch zu vollenden. Zwar wurde sie auch vom griechischen Polisdenken, namentlich von Aristoteles, wie auch vom amerikanischen Republikanismus um die Federalists beeinflusst. Doch das Motiv Heidegger weiter zu denken, kann man in ihrer Philosophie deutlich spüren.

Martin Heidegger als Denker der Freiheit

Heidegger mag selbst – zumindest für eine Zeit – daran geglaubt haben, dass die deutsche Diktatur die beste Umsetzung der Erneuerung des Abendlandes und die Rückkehr des Seins-Bewusstseins ermöglicht. Aber sein frühes Denken verrät, dass er nur daran scheiterte, „Sein und Zeit“ zu einer Demokratietheorie auszubauen. Wahrscheinlich auch deswegen trieb Heidegger in seinem späten Denken immer mehr in ein Denken des Empfangens ab und wurde so der Esoteriker, den man heute in ihm sieht. Hannah Arendt, die bei dem jungen weltgewandten Heidegger in Marburg studierte, entwickelte jedoch seine frühe emanzipatorische Philosophie zu einer Demokratietheorie weiter und dies konnte sie, weil Heideggers frühes Denken ein Befreiungsdenken war.

Heideggers Denken der Freiheit ist nun wiederum in der Lage, ein neues Freiheitsdenken zu begründen. Nämlich, wenn man annimmt, dass sich Freiheit nicht nur in einer rein negativen Freiheit verwirklicht, die nicht mehr will als einen funktionierenden Rechtsstaat, sondern Freiheit vielmehr substantiell verstanden werden muss, also auch soziale Bürgerrechte zur Freiheit gehören, dann muss die Idee der Befreiung zur substanziellen Freiheit zum politischen Entwurf werden. Diese liebenswürdige Einrichtung der Welt, ist für jeden ein Projekt der Freiheit – auch jene, die im substanziellen Sinne noch nicht frei sind, haben diese Möglichkeit der Tat. Arme wie Reiche haben stets die Möglichkeit zu gerade jenem politischen Willen, der die Welt fairer politisch ordnen will, als sie es heute ist. Es gibt zwar viele Gründe, warum es noch viel Unfreiheit in der Welt gibt, aber das Wissen um die Möglichkeit und die Gebotenheit das zu ändern, das lässt sich in Anschluss an Martin Heidegger und Hannah Arendt in einer Weise zeigen, wie es kein Marxist je könnte.

Heidegger ist somit zwar selbst kein Liberaler und Sozialdemokrat gewesen, aber sein Werk kann dazu führen, es zu sein. Die Innovation mit Heidegger und Arendt Gerechtigkeitstheorie zu betreiben, ist ein neuer Sensibilisierungsweg für eine gerechtere Welt, die auf die Selbstverpflichtung jedes Einzelnen setzt, eine Welt zu schaffen, die man auch aus guten Gründen lieben kann. Und weil diese Theorie zugleich Praxis ist, kann sie das Fundament für eine neue soziale Bewegung für eine gerechtere Welt sein.

 

 


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