von Matthias Schwenk, 14.1.11
Eigentlich sollte die Wikipedia nur ein Provisorium werden. Dass sie jetzt ihr 10jähriges Jubiläum feiern kann und das als eine der meist besuchten Websites dieser Welt, verdankt sie dem Umstand, dass ihre Software, ein Media-Wiki, wie geschaffen war für ein Online-Lexikon an dem jeder mitschreiben kann, auch wenn Jimmy Wales und Larry Sanger das ursprünglich gar nicht so geplant hatten. Deren Ziel war die Nupedia, ein Online-Lexikon, das einem eher konventionellen Ansatz folgte, weil seine Artikel von Fachautoren geschrieben und von einer Redaktion redigiert werden sollten.
Im Jahr 2001 jedoch war die Zeit reif für etwas Neues. Software für Wikis gab es schon ein paar Jahre, aber noch keine praktische Anwendung im großen Stil. Als also Larry Sanger die ersten Artikel der Nupedia in einem Wiki online stellte, damit deren Bearbeitung beschleunigt werden konnte, ahnte niemand, was sich aus dieser Wiki-Pedia entwickeln würde: Sehr schnell nämlich verbreitete sich die Nachricht darüber, dass hier Artikel online stünden und alle möglichen Leute begannen, an diesen mitzuarbeiten und darüber hinaus sogar selbständig neue Artikel anzulegen. Die Dynamik war so groß, dass Jimmy Wales schließlich das einzig Richtige tat: Die Arbeit an der Nupedia einstellen und die Wikipedia als offenes und partizipativ angelegtes Lexikon-Projekt weiter zu betreiben.
In der Folge entwickelte sich das Lexikon zum Vorbild und Rollen-Modell einer ganzen Generation neuer Anwendungen im Web: Dienste wie etwa Flickr (2004) oder YouTube (2005) basieren auf dem gleichen Grundprinzip, dem User Generated Content, von dem die Wikipedia gezeigt hat, dass er funktioniert und welche Breitenwirkung bzw. Dynamik er entfalten kann. Zugleich bildete sie das Fundament für eine ganze Reihe theoretischer Erklärungsansätze, wie dem Crowdsourcing oder auch der Wisdom of Crowds.
Natürlich wurde und wird über die Wikipedia heftig gestritten. Meistens geht es dabei aber nur um die inhaltliche Ebene, das größere Ganze wird selten gesehen und gewürdigt. Auch 10 Jahre eines erfolgreichen Betriebs und einer beispiellosen Verbreitung bzw. Nutzung haben die Kritiker nicht verstummen lassen, die den kollaborativen und freiwilligen Ansatz des User Generated Content der Wikipedia für eine Fehlentwicklung halten, am liebsten das Rad zurückdrehen und alles Publizieren wieder in die Hand von Redaktionen und Lektoraten geben würden. Der Gedanke, dass an so etwas Erhabenen wie einem Lexikon prinzipiell jeder mitwirken kann, gilt auch im Jahr 2011 stellenweise noch immer als Provokation, wenn nicht gar als Angriff auf gesellschaftliche Grundwerte und Konventionen.
Dass die Wikipedia aber nicht den Kulminations- oder Endpunkt einer Entwicklung darstellt, sondern eher deren Beginn, macht Clay Shirky in seinem Buch, “Cognititve Surplus” (2010), deutlich. Er deutet das Lexikon nämlich als ein der Freizeit vieler Menschen abgerungenes Konzept, die ansonsten überwiegend nur unproduktiv vor dem Fernseher sitzen würden. Seiner Kalkulation zufolge könnte die Menschheit in Zukunft noch weit größere Projekte wie die Wikipedia stemmen, würde nur etwas mehr Freizeit solch partizipativen Projekten gewidmet und nicht mehr dem Fernsehkonsum. Seinen Optimismus mag man teilen oder nicht, zumindest der Wikipedia selbst wird es in den nächsten 10 Jahren wohl kaum an Mitwirkenden fehlen.
Zum Problem könnte eher das weitere Wachstum der Plattform werden. Die Wikipedia müsste sich dann in ihrem organisatorischen Konzept verändern und damit einmal mehr eine Vorreiterrolle einnehmen: An ihr läge es, die Struktur einer einerseits sehr großen, andererseits aber auch prinzipiell offenen, transparenten und weitestgehend hierarchiefreien Organisation so zu gestalten, dass diese funktionstüchtig und produktiv bleiben kann, anstatt sich in internen Auseinandersetzungen aufzureiben.
Zudem muss sie die heute schon deutlich sichtbare Herausforderung meistern, dass ihre Texte eine ungesunde Tendenz zur Überlänge bekommen. Einzelne Artikel haben mit dem Charakter eines lexikalischen Eintrags nicht mehr viel gemein und überschreiten eigentlich auch schon den Charakter von Fachartikeln. Das zweifellos gut gemeinte Engagement vieler sachkundiger Helfer, die immer mehr Detailwissen einbringen, führt in der Summe dazu, dass die Artikel immer weniger zur schnellen Orientierung taugen, sondern ein regelrechtes Einlesen erforderlich machen.
Die Community hier auf das richtige Maß zu bremsen dürfte sich noch zu einer enormen Herausforderung entwickeln und damit eine unfreiwillige Parallele zu unserer modernen Überflussgesellschaft werden, in der Fettleibigkeit ein ernstes Problem darstellt, das aber trotz offensichtlicher Kausalitäten nur schwer anzugehen ist.
Die Wikipedia alt und behäbig aussehen lassen könnten Dienste neuen Typs, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren entstehen bzw. sichtbar werden. Dazu werden große Mengen an Daten von Sensoren aufgenommen und auf Seiten im Web weiter geleitet, um sie dort zu aggregieren und mit manuell eingepflegten Erläuterungen bzw. Kommentaren zu ergänzen. Auf diese Weise werden “Lexika” entstehen, die mit Informationen in Echtzeit Vorgänge und Strukturen sichtbar werden lassen, für die es heute noch keine Entsprechung gibt. Auf diese Weise könnten moderne Sensorik einerseits und User Generated Content andererseits in Symbiose treten und Wissens-Pools bilden, die lebendiger und interessanter als ein Online-Lexikon auf der Basis eines Wikis auftreten würden.
Schließlich könnte auch die OpenData-Bewegung zu einer neuen Form von Wettbewerb für die Wikipedia werden. In dem Maße, wie in Zukunft Datenbanken von öffentlichen Einrichtungen zugänglich gemacht werden, wächst auch der Bedarf an Interpretation der dort vorhandenen Daten, was wiederum die Grundlage für Plattformen bilden dürfte, die der Erläuterung und Diskussion gewidmet sein werden und sich im Wesentlichen auf User Generated Content stützen dürften. Der Wettbewerb zur Wikipedia wäre hier weniger in der inhaltlichen Ausrichtung, als mehr auf der Ebene der Partizipation zu sehen: Welche Plattform mobilisiert für sich künftig die klügsten Köpfe?
Da Konkurrenz bekanntlich das Geschäft belebt, braucht man sich vor diesem Hintergrund (noch) keine Sorgen um die Wikipedia und ihre Community zu machen. Denn sie wird nicht tatenlos zusehen, wie neue Akteure auf dem Feld der digitalen Wissensrepräsentation ihr die User abwerben, sondern selbst aktiv werden und sich vielleicht neu erfinden. Von den klassischen Verlagen jedenfalls droht keine Gefahr mehr: Das meist benutzte Online-Lexikon steht unangefochten vorn und der Blick zurück auf die Wettbewerber von gestern würde nur die Perspektive auf die Herausforderungen von morgen verstellen. In diesem Sinne: Happy Birthday, Wikipedia.