#FDP

“Hamburger Manifest für einen sozialen Liberalismus”

von , 28.6.10

Wir, Mitglieder der FDP und besorgte Bürger, beobachten mit wachsender Sorge die Entwicklung in unserem Land. Es zeichnet sich immer mehr ein Trend zur gesellschaftlichen Spaltung, einseitig wirtschaftlicher Orientierung und sozialer Ungerechtigkeit ab.

Wir wollen nicht länger tatenlos zusehen, wie auch der Liberalismus diesem Trend erliegt. Als Liberale orientieren wir unser Handeln nicht an Ideologien oder Dogmen, sondern hinterfragen sie. Wir stehen einer rein ökonomisch ausgerichteten Politik und Weltanschauung genauso skeptisch gegenüber wie jeder anderen Ideologie.

Wir wollen unseren liberalen Wertvorstellungen mehr Geltung verschaffen und fordern die Politik und die Gesellschaft auf, sich an den folgenden liberalen Grundsätzen zu orientieren:

  • Freiheit – in voller Verantwortung für sich selbst und andere.
  • Solidarität – mit der Gesellschaft und ihren Mitgliedern.
  • Gleichheit – vor dem Gesetz.
  • Gerechtigkeit – durch maßvolle Umverteilung, Generationengerechtigkeit und Bildung.

Das waren und sind die Grundwerte unseres liberalen Denkens und unseres gesellschaftlichen Verständnisses. Liberalismus wird, wenn auch nur einer dieser Grundsätze missachtet wird, zur Farce. In der Abwägung zwischen diesen Grundwerten geben wir Liberale im Zweifel der Freiheit den Vorrang. Es ist Aufgabe des Staates diesen Grundwerten Geltung zu verschaffen.
Wir wenden uns entschieden gegen alle Tendenzen, diese Grundwerte für Einzelne oder Gruppen in der Gesellschaft einzuschränken. Gerade die FDP muss aus ihrer Tradition und ihrem Selbstverständnis heraus egoliberalen Tendenzen entgegenwirken. Sie muss die moralische Kraft und Integrität besitzen, einer drohenden Konzern-, Experten-, Beamten-, Medien- und Lobbyistenhörigkeit zu widerstehen.

Solidargemeinschaft

Die gesamte Bevölkerung ist die Solidargemeinschaft unseres Landes. Niemand, ungeachtet seines Einkommens oder seiner Herkunft, kann sich aus dieser Solidargemeinschaft ausschließen und auch nicht aus ihr ausgeschlossen werden. Freiheit benötigt eine materielle Grundlage. Wenn der Einzelne, aus wie auch immer gearteten Umständen, nicht in der Lage ist, die materielle Grundlage zu erwirtschaften, tritt die Solidargemeinschaft für ihn ein bis er es kann. Oberstes Ziel ist es dabei, jeden wieder in die Lage zu versetzen, für sich selber sorgen zu können. Dieser gesellschaftlichen Zielsetzung ist aber auch jeder Einzelne unterworfen, d.h. er muss für sich selber sorgen, sobald er es kann.

Die Solidargemeinschaft wird über ein gerechtes Steuersystem finanziert. Unser Steuersystem soll weder die Leistungsbereiten bestrafen, noch die Leistungsschwachen überfordern. Wir fordern daher ein konsequentes Schließen aller Steuerschlupflöcher, den Abbau von Subventionen und die Beseitigung der kalten Progression. Erst wenn diese Maßnahmen durchgeführt sind, sollte man sich daran machen, Sozialleistungen wie Heizkostenzuschüsse zu kürzen oder zu streichen, wenn es die Haushaltslage trotzdem noch erfordert.

Gesundheitswesen

Das Prinzip der Solidargemeinschaft gilt im Besonderen auch für das Gesundheitswesen. Niemand darf sich alleine Kraft seines Einkommens oder seines beruflichen Status aus der Solidargemeinschaft verabschieden. Ein sozialer Ausgleich muss stets vorhanden sein, und wir lehnen jede Form der Finanzierung des Gesundheitssystems ab, die keinen sozialen Ausgleich über die ganze Gesellschaft beinhaltet. Der Sozialausgleich sollte innerhalb des Steuersystems sichergestellt werden, wobei die Einkommen aller Arten zu berücksichtigen sind.

Wirtschaft

Die Wirtschaft dient vorrangig dem Zweck, das Einkommen und die Lebensführung jedes Einzelnen zu sichern und dem Staat die Wahrnehmung seiner Aufgaben zu ermöglichen.

Nach unserer Überzeugung und den Erfahrungen erfüllt diesen Zweck die soziale Marktwirtschaft, wenn der Grundsatz nicht die Gewinnmaximierung Einzelner ist, sondern die Wohlstandsförderung aller. Die Wirtschaft dient dem Menschen, nicht der Mensch der Wirtschaft. Es darf weder marktbeherrschende, noch systemrelevante Unternehmen geben. Wo Großkonzerne diesen Prinzipien nicht gerecht werden und im Sinne der freien und sozialen Marktwirtschaft kein Markt möglich ist, hat der Staat nicht nur wie bisher das Recht, sondern zusätzlich die Pflicht die freiheitliche Marktordnung gefährdende Unternehmen notfalls zwangsweise in kleinere Unternehmenseinheiten zu zerschlagen oder ihnen den Markteintritt zu versagen oder nur unter Auflagen zu gestatten.

Kleine und mittlere Unternehmen, Mittelstand, freie Berufe, Angestellte und Arbeiter sind die tragenden Elemente unserer Gesellschaft. Ihnen gebührt der besondere Schutz vor dem Staat und vor dem Missbrauch wirtschaftlicher Macht.

Wir müssen uns von der Vorstellung des endlosen (und nicht möglichen) Wachstums verabschieden und zu einer Wirtschaftspolitik gelangen, die sich an Nachhaltigkeit, Sicherung der Existenz des Einzelnen und der Umwelt orientiert.

Die Globalisierung ist eine positive Entwicklung, der wir uns nicht entgegenstemmen können und dürfen. Die negativen Begleiterscheinungen der Globalisierung können verhindert werden, wenn die Globalisierung nicht nur als Wirtschaftsglobalisierung verstanden wird, sondern auch als soziale und menschenrechtliche Globalisierung.

Alle drei Aspekte der Globalisierung stehen gleichberechtigt nebeneinander und auch globale Märkte müssen frei und sozial sein. Der freie Waren‐ und Dienstleistungsverkehr muss daher dort eingeschränkt werden, wo es aufgrund unterschiedlicher sozialer oder menschenrechtlicher Standards zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.
Die Finanzwirtschaft dient der Ermöglichung von realwirtschaftlichen Produktionen und Geschäften. Sie muss auf diese Kernfunktion zurückgefahren und beschränkt werden. Sämtliche Finanzinstrumente, die über diese Funktion hinausgehen und nur noch oder überwiegend Spekulationszwecken dienen, müssen verboten werden. Einige Finanzinstrumente dienen der Absicherung von Handelsgeschäften, können aber für Spekulationen missbraucht werden. Diese Instrumente dürfen künftig nur noch von Marktteilnehmern gehandelt werden, die diese Absicherungen für ihre Primärgeschäfte benötigen.

Privatisierung

In vielen Bereichen hat die Privatisierung positive Früchte getragen. In anderen Bereichen nicht. Es muss streng überprüft werden, ob grundsätzliche Versorgungssysteme nicht vollständig in gemeinschaftlicher Hand bleiben. Jede Privatisierung ist auf ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen hin zu überprüfen. Konsequent abzulehnen ist jede Privatisierung, die ein Staatsmonopol durch ein privates Monopol oder ein Kartell ersetzt. Privatisierungen machen nur Sinn, wenn für die in Rede stehenden Leistungen ein Markt besteht und dadurch der Wettbewerb gefördert wird.

Entbürokratisierung

Der größte Beitrag eines Staates zu einer sozial gerechten Gesellschaft ist der sorgsame Umgang mit dem Volksvermögen, welches dem Staat in Form der Steuereinnahmen und der Umwelt anvertraut wird. Der Staat hat daher die Aufgabe dieses Vermögen zu schonen und effektiv und effizient zur Mehrung des allgemeinen Wohlstands zu nutzen. Hierzu gehört es Verwaltungen schlank zu halten, Doppel‐ und Mehrfachstrukturen abzubauen und Bürokratien auf ein Minimum zu beschränken. Wir fordern daher u.a. die Zusammenfassung der vielen unterschiedlichen Sozialtransfersysteme unter dem Dach der Finanzämter und die Nutzung eines einzigen Instruments für den Sozialausgleich: das Bürgergeld.

Bildung

Bildung ist die Grundlage für eine freie Entwicklung des Bürgers, für Chancengerechtigkeit und für Demokratie und Freiheit. Der Staat muss daher das Angebot an Bildung und den Zugang zu Bildung sicherstellen. Er muss außerdem Bildungsstandards definieren und überwachen. Nicht sicherstellen muss er hingegen die Inhalte und die Art der Bildungsvermittlung. Diese können und müssen in einer pluralistischen Gesellschaft von den Bürgern bestimmt werden, da Bildung ein fundamentales Bürgerrecht ist. Wenn einzelne Bürger ihren Kindern Bildung verweigern oder nicht ermöglichen können, hat der Staat die Pflicht die Bildungsaufgabe zu übernehmen und die Autorität Bildung zwangsweise durchzusetzen. Hierbei ist die Bildung in dem Maße sicherzustellen, dass das Kind zukünftig ein selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft führen kann.

KOMMENTAR ZUM SPARPAKET

Vor diesem Hintergrund nehmen wir zu den Sparplänen der Bundesregierung wie folgt Stellung:

Wir unterstützen die Absicht der Bundesregierung, durch einen radikalen Politikwechsel die Jahrzehnte alte Tendenz zur Verschuldung der öffentlichen Haushalte zu stoppen und zu einer Politik der Konsolidierung und des Schuldenabbaus überzugehen. Wir meinen, dass dies in der Tat eine historische Wende ist in einer Situation, deren Entstehung durch die Gesellschaft insgesamt verursacht worden ist und deren Bereinigung daher auch die Anstrengungen der gesamten Bevölkerung erfordert. Wir meinen jedoch, dass der Ansatz der Bundesregierung zu zaghaft ist, dass er von einem unsinnigen Begriff der Gerechtigkeit ausgeht und dass er zu Unrecht unterstellt, erhebliche Teile unserer Gesellschaft wollten sich dieser Aufgabe nicht stellen. Das eigentliche Ziel dieser Anstrengung muss sein, politische Handlungsfähigkeit für die gegenwärtige und auch für künftige Generationen wieder herzustellen und Gestaltungswillen wieder Raum zu geben.

Dieses Ziel kann nur dann erreicht werden, wenn alle Teile der Gesellschaft aus Überzeugung daran mitwirken. Im Einzelnen haben wir folgende Anmerkungen zu machen:

1. Das Sparprogramm der Bundesregierung erhebt den Anspruch, der Anforderung nach Gerechtigkeit zu genügen, weil es die einkommensschwachen Schichten und zwei Unternehmensgruppen in gleichem Umfang belastet und durch Reduzierung der Zahl der Beamten zusätzliche Einsparungen im Bundeshaushalt erzielen will. Die Aufwendungen bzw. Erträge dieser drei Blöcke können jedoch in keinen Zusammenhang gestellt werden, der mit Gerechtigkeit bezeichnet werden könnte. Sie verbindet lediglich der Umstand, dass die in Rede stehenden Summen insgesamt die Einsparungsvorstellungen der Bundesregierung treffen. Die Belastungen der Unternehmensgruppen Energieversorgung und Finanzinstitutionen werden höchstwahrscheinlich in vollem Umfang an Verbraucher weitergegeben und belasten auf diese Weise die Bevölkerung, und zwar durchaus unterschiedlich nach ihren Einkommensverhältnissen. Der Begriff Gerechtigkeit, der im Verhältnis zu Menschengruppen untereinander Sinn ergibt, ist hier allenfalls mit der Bemerkung zu versehen, dass die daraus erwachsenen Belastungen die unteren Einkommensgruppen relativ stärker treffen werden als den Rest der Gesellschaft.

2. Die Notwendigkeit zu drastischem Sparen ergibt sich ‐ so die Bundeskanzlerin, andere politische Quellen und wohl auch der tatsächliche Sachverhalt – zum einen daraus, dass unser Land seit etwa 60 Jahren „über seine Verhältnisse gelebt hat“, also mehr verbraucht hat als das Steueraufkommen gestattete, so dass Schulden entstanden sind und sich aufgehäuft haben. Dieser Prozess ist durch besondere Ereignisse wie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verstärkt worden. Dies ist zweifellos mit einer kontinuierlichen Verbesserung der Lebensbedingungen unserer Bevölkerung einhergegangen. Diese Entwicklung ist jedoch keinesfalls nur den unteren Einkommensgruppen der Bevölkerung zugute gekommen oder etwa nur durch sie verursacht worden. Das Ergebnis war eine gesamtgesellschaftliche Situation, von der auch die besser gestellten Einkommensgruppen profitiert haben. Flughäfen und Autobahnen, der Ausbau des Schienennetzes und die Modernisierung des rollenden Materials der Bahn, technische Verbesserung der Kommunikation, Förderung von leistungsfähigen Kultureinrichtungen und Sportstätten dienen allen Einkommensgruppen. Daher ist die Beseitigung der daraus resultierenden Verschuldung eine Aufgabe aller Gruppen in dieser Gesellschaft.

3. Ein erheblicher Beitrag zu der gegenwärtigen Neuverschuldung erwächst zum anderen aus den Stützungsmaßnahmen im Rahmen der Finanzkrise für Banken, Unternehmen und die europäische Währung. Die Entwicklungen, die zu dieser Situation geführt haben, sind keineswegs den unteren oder mittleren Einkommensgruppen zuzurechnen, sie sind vielmehr das Ergebnis einer Entwicklung, die die Wirtschaftspolitik verschiedener Regierungen herbeigeführt hat und vor allem auch des Globalisierungsprozesses. Daher ist es angemessen, dass alle Teile der Bevölkerung im Rahmen ihrer Leitungsfähigkeit zu den Schuldendiensten, die daraus erwachsen, beitragen.

4. Die einkommensschwachen Schichten werden von den Sparmaßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen stärker belastet als die übrigen Bevölkerungsteile. Es wird auf allen Ebenen erhebliche Gebührenerhöhungen geben. Im kommunalen Bereich stehen Kürzungen an, vor allem bei Ausgaben für Kindertagesstätten, im öffentlichen Personennahverkehr, für Vereine und Verbände, insbesondere für Sportvereine, für Einrichtungen wie Schwimmbäder, Kinderspielplätze, Jugendfreizeitzentren und Bibliotheken. Wer daheim ein Schwimmbad hat, wird die Schließung eines öffentlichen Schwimmbades weit weniger bedauern als die Heranwachsenden aus den ärmeren Bevölkerungsschichten.

5. Wir appellieren daher an die Bundesregierung und besonders an die freie demokratische Partei, ihren Widerstand gegen die vielfältigen Vorschläge aus der Bevölkerung nach einer Beteiligung auch der besser verdienenden und wohlhabenden Bevölkerungsgruppen an der historischen Anstrengung für einen Politikwechsel und für den Abbau der Schulden aufzugreifen und so den Prozess zu beschleunigen und rascher zu beenden, als dies gegenwärtig vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang sollten die Signale der Bereitschaft aus den Kreisen der Betroffenen als Ermutigung gewertet werden. Allein die Voraussetzung für die Schuldenbremse zu erfüllen, die ja nur die Neuverschuldung begrenzt, kann den verhängnisvollen Weg, den die öffentlichen Finanzen eingeschlagen haben, nicht korrigieren. Für die Hartz IV‐Empfänger können endgültige Entscheidungen erst dann getroffen werden, wenn die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Bedarfsermittlung nach den von ihm vorgegebenen Kriterien vorliegt.

6. Alle diejenigen, deren Gemeinsinn als Motivation für eine Beteiligung an einer solchen Anstrengung nicht ausreicht, sollten darauf hingewiesen werden, dass Vermögen in der gegenwärtigen Situation dort am besten aufgehoben sind, wo die Anstrengungen zum Abbau der Verschuldung am erfolgreichsten sind. Vermögensverlagerungen und Auswanderung könnten also kontraproduktiv sein.

Die Unterzeichner:

Hamburg, 11.6.2010

Prof. Dr. Dieter Biallas – Dr. Najib Karim – Richard Beer – Heiko Pohse

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