#2010

Grünzeug und Spiralgesänge. Die Carta-Umfrage (Teil VI)

von , 2.1.11

1. Für mich war 2010 nicht das Jahr der Geeks – obwohl ich das „Jahr der Medienrevolution“ mit nostradamushafter Präzision vorhergesagt habe, was ja nicht schwer war. Ich würde auch nicht Mark Zuckerberg, Helene Hegemann oder Julian Assange (den vielleicht doch!) zur beeindruckendsten Persönlichkeit des Jahres 2010 wählen wollen. Auch nicht Joachim Gauck, Walter Mixa, Margot Käßmann oder Lena Meyer-Landrut. Eher schon die Grünen, die 2010 den Durchbruch zur Volkspartei (in den Umfragen) geschafft haben. Die Grünen bzw. ihre Sympathisanten werden das deutsche Parteiensystem, das in Struktur und Erscheinungsform noch sehr der Nachkriegszeit verhaftet ist, neu entwickeln. Sie werden nicht mehr das Zünglein an der Waage spielen, sondern mit ganzem Herzen „neue Mitte“ sein.

Dennoch war die Person des öffentlichen Lebens, die mich am stärksten beeindruckt hat, weder grün noch geek, weder herausragend noch „gorgeous“ – sie war bloß eindeutig, handfest & unverblümt. Alte Schule eben. Beeindruckt hat mich (neben den vielen, vielen Konstantin Neven DuMonts) ein 73-Jähriger, der die Grundregel des amerikanischen Journalismus inhaliert hat. Diese lautet: „Ich habe die vergangene Regierung nicht gemocht, ich mag die jetzige Regierung nicht, und ich werde auch die künftige Regierung nicht mögen.“ Im Zeitalter der Kontrolle (und der unerwarteten Kontrollverluste) ist das die vernünftigste Haltung eines Journalisten. Verkörpert hat sie in vorbildlicher Weise Marvin Seymour Hersh.

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2. 2011 werden sich die Deutschen lustvoll mit ihrer künftigen „Weltpolitik“ auseinandersetzen, aber auch mit ihren Provinzen. Wobei Berlin und Stuttgart herausragen – wegen der Grünen, die nicht nur bei den Christdemokraten, sondern auch bei den Linken Stimmen wildern werden, was letztere 2011 in eine Führungskrise treibt. Und natürlich wird uns der Euro erneut in Angst und Schrecken versetzen. Er wird die deutsche Mittelschicht noch aggressiver machen als sie eh schon ist. Die EU wird sich unter dem Druck der Staatsschulden hierarchisieren wollen bzw. müssen bzw. dürfen: oben Deutschland und – ja – auch ein bisschen Frankreich (wenn es sein muss), darunter der Rest vom Schützenfest. BILD wird lange vor der Fußball-EM 2012 die Schlagzeile lancieren: WIR SIND EUROPA. Doch am Ende des Jahres wird uns der Mangel an Streusalz wieder in den Wahnsinn treiben.

Die USA, die praktisch nur noch aus Militär & Internet bestehen (und beide immer stärker miteinander verzahnen), werden 2011 den Cyber-Krieg weiter perfektionieren, und Obama II. wird endgültig zu Kennedy II. ernannt (auch von Seymour Hersh, aber vermutlich ganz anders). Die Guttenbergs werden sich mit ihrem Maskenbildner am Hindukusch festkrallen, China wird bei „Schlag den Raab“ erstmals den Eurovision Song Contest gewinnen, und die Unwettervorhersagen werden nach dem Touchdown von Wetten, dass… das Samstagabendprogramm beherrschen.

Die Zeitungen werden 2011 erstmals mehr über das Internet schreiben als das Internet über die Zeitungen! (Und Carta wird lebendig bleiben oder sterben ;-). Doch am intensivsten werden wir uns wieder mit dem Bürgertum beschäftigen. Wer treibt es? Und wohin geht es? Sloterdijksche Spiralgesänge sind garantiert.

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