#Abitur

Große Augen, keine Ahnung? Die Naina-Debatte, die wir eigentlich führen sollten.

von , 20.1.15

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen“, schrieb die Kölner Schülerin Naina unter ihrem Twitter-Account @nainablabla. In wenigen Stunden löste ihr Tweet eine enorme Welle an Reaktionen aus. Die Gymnasiastin hatte praktische Fragen in den Raum gestellt. Vollkommen nachvollziehbar. Doch in der Diskussion um die Relevanz des Alltagswissens geht das Wichtigste unter: In der Schule mangelt es vor allem an der Vermittlung von Grundwissen in Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Nach dem anfänglichen Hype über das Twitter-Phänomen dominieren seit Tagen die Kritiker. Im Stern schrieb Susanne Balle in einem offenen Brief an Naina, sie solle bei jeglichen Unklarheiten doch einfach mal googeln. „Wenn du unter ‚erste eigene Wohnung’ nachguckst, findest du mehr als 200.000 Ergebnisse mit Checklisten und Tipps.“ riet sie. Googeln? Die Schule soll das also nicht mehr lehren, da die Schüler ihre Fragen googeln können? Die FAZ argumentierte ähnlich. „Überfrachtet die Schule nicht!“, heißt es in einem Kommentar zu Nainas Tweet. „Praktisches muss man in der Praxis lernen. Nicht im Klassenzimmer.“

Es sei „Mutti am Frühstückstisch“, die erklären sollte, wie man sich versichern kann oder wie Steuern funktionieren, heißt es. Doch falls das Kind am Frühstückstisch weiterfragen sollte, wie sich das mit der Steuererklärung zu Steuersystem und Finanzpolitik insgesamt verhält, könnte manch eine „Mutti“ in Schwierigkeiten kommen. Der Großteil deutscher Abiturienten hat dazu keine Meinung. Wenn sie im Ausland gefragt würden, was sie von der Sparpolitik der Kanzlerin halten: große Augen, keine Ahnung.

Nainas Absichten hin oder her – die Diskussion, die sie angestoßen hat und die mittlerweile gern als  „Bildungsdebatte“ bezeichnet wird, berührt mehr als nur Mietvertrag und Steuererklärung. Naina mag sich vielleicht nur für das Ausfüllen einer Steuererklärung interessiert haben, und weniger dafür, die Prinzipien des deutschen Steuersystems kennenzulernen. Ich selbst habe letztes Jahr mein Abitur gemacht und bin überzeugt: Genau darum geht es aber, oder sollte es zumindest gehen in dieser Debatte. Hinter den Begriffen „Steuer“ oder „Versicherung“ steckt viel mehr. Das Dickicht unserer Finanzwelt. Unser Geldsystem. Junge Menschen brauchen Hintergründe. Sie brauchen Zusammenhänge.

Es geht um all das, was um uns herum geschieht und was uns erklärt, wie die Welt, in der wir leben, funktioniert. Steuern und Versicherungen sind nur ein Teil davon.

Genauso dazu gehören Fragen wie: Wie funktioniert das Finanzsystem? Wieso unterschreiben mehr als 600.000 Menschen Online-Petitionen gegen TTIP? Was überhaupt ist TTIP? Welche Folgen hat der Mindestlohn? Was motiviert Pegida? In meinen Augen brauchen wir eine Umstrukturierung des Lehrplans. Mehr Politik, mehr Wirtschaft und das Ganze im Wechselspiel von theoretischer Reflektion und praktischen, lebensnahen Inhalten.

Naina hat den Nerv der Zeit getroffen. Schüler wollen wissen, wie sie eigenständig leben können, sie wollen verstehen, was um sie herum passiert. Es wird immer kopfschüttelnd gesagt, keine Generation sei jemals so unpolitisch gewesen. Aber was tut die Schule dafür, um ihren Schülern eine Grundlage für ein partizipatives Leben zu verschaffen? Um zu handeln, braucht man eine Meinung, aber um zu urteilen, braucht man Wissen.

Bilden wir sie! Erklären wir ihnen, was der Unterschied zwischen staatlicher und privater Versicherung ist. Warum Obama seine Gesundheitsreform durchgeführt hat. Was der Russland-Ukraine Konflikt mit unserer europäischen Zukunft zu tun hat. Es geht nicht mehr um Mutti und den Frühstückstisch. Es geht um elementarere Dinge. Und die nächste Generation.

Was ist zu tun? Politikunterricht ist beispielsweise im Land Berlin bis zur 10. Klasse theoretischer Bestandteil des Geschichtsunterrichtes. In der Praxis meistens nicht durchführbar, weil man schon genügend mit den letzten 100 Jahren deutscher Geschichte beschäftigt ist. In der Oberstufe ist Politikwissenschaft wählbar, aber wenig populär. Wir brauchen verbindlichen Politikunterricht und das am besten ab der 7. Klasse.

Aber es geht nicht nur um eine Verschiebung der Lehrplanprioritäten. Es ist die gesamte Art und Weise des Unterrichtens, die nicht mehr stimmt. Die Schule soll „modern“, „innovativ“ sein. Während meiner Schulzeit hieß das: keine Jahreszahlen mehr auswendig lernen. Keine wöchentlichen Vokabeltests. Keine Bücher zu Ende lesen, Ausschnitte reichen. Man will die Kids ja schließlich nicht überlasten.

Die Idee der aktiven Miteinbeziehung der Schüler ist im Grunde ein sehr wertvolles Konzept. Mitdenken, mitdiskutieren, sich gegenseitig helfen. Hört sich gut an. In der Praxis ist es meiner Erfahrung nach aber leider nur zu einem Instrument geworden, mit dem viele Lehrer möglichst entspannt und aufwandsarm durch ihre Berufswoche kommen. An meinem hochgelobten Berliner Gymnasium habe ich ganze Halbjahre erlebt, die ausschließlich aus Referatsreihen bestanden. Kinder lehren Kinder und der Lehrer sitzt in der letzten Reihe und macht sich Notizen. An sich kein Problem – denn alle sind zufrieden. Die Schüler, weil sie außer einem Vortrag das Halbjahr lang nichts machen müssen, die Lehrer, weil sie keine einzige Unterrichtsstunde vorbereiten – und natürlich der Senat, der sich über den Fortschritt und die neuen Methoden an deutschen Schulen freut. Der einzige Haken an der Sache: der Wissenszuwachs fehlt. Die Kinder stellen nur nach dem x-ten Referat ihrer gelangweilten Mitschüler fest: Sie sind nicht schlauer als sie es gestern schon waren.

Unser junger Mathe-Referendar erklärte uns vor Beginn seiner Examensstunde, als seine Prüfungskommission noch draußen im Gang wartete, Integralrechnung sei eigentlich zu kompliziert, um sich das in Gruppenarbeit selbst anzueignen. Aber wir müssten da gleich trotzdem durch, es täte ihm leid. Sonst bestehe er die Prüfung nicht. Denn Lehrervorträge sind heutzutage einfach „oldschool“. Auch in Mathe. Eine Woche später mussten wir das Thema nochmal von vorne beginnen, weil niemand etwas verstanden hatte.

Ich litt lange unter dem ewigen Mythos des „bösen“ Frontalunterrichtes. Das Schreckgespenst, das es abzuschaffen galt. Die neuen Methoden machten mich und meine Mitschüler wahnsinnig. Sie wurden einfach zu häufig benutzt und verloren damit ihren Zweck. Zu viele gutgemeinte Projekte, ständige Gruppenarbeiten und endlose Referate, in denen es um alles ging, außer um kompetente und zusammenhängende Wissensvermittlung.

Für mich war das Bewusstsein vergeudeter Lebenszeit schlimmer als der Stress während der Abiturprüfungen.

Es gibt nun mal vielerlei Fächer und Themen, die man besser versteht, wenn sie einem von gut ausgebildeten Lehrern erklärt werden. Sie sind es schließlich, die studiert haben. Und die das ein oder andere besser wissen als ihre Schüler. Vor allem kennen sie, jedenfalls sollte es so sein: Zusammenhänge. Ich wünsche mir qualifizierte Lehrer, die sich auch mal hinstellen und eine halbe Stunde lang erzählen, wenn es zum Beispiel darum geht, wie sich die Weimarer Republik im Kontext von Hitlers Machtergreifung entwickelte. Es ist die gesunde Mischung aus neuen Lernmethoden und Frontalunterricht, die unsere Schulen meiner Meinung nach dringend brauchen.

Es sind eben nicht nur die erschreckenden PISA-Studien, die alle drei Jahre aufs Neue beweisen, dass etwas nicht funktioniert mit unserer Schulbildung. Es sind, wie man anhand dieser beispiellosen Resonanz auf einen einzigen Tweet erkennt, die Schüler selbst, die etwas mehr von dieser Institution lernen wollen, in der sie bis zu neun Stunden täglich verweilen.

Unsere aktuelle Mediendiskussion sollte den Tweet im breiteren Kontext sehen und aufhören, nur die drei Begriffe des Satzes auseinander zu nehmen. Naina hat den richtigen Anstoß gegeben. Aber wir dürfen nicht aufhören bei der Miete und den Versicherungen. Wir müssen weiterdenken. Wir brauchen neue Fächer, neue Lehrpläne, aber vor allem eine andere Haltung zur Schulbildung. Auch sollten wir uns mal an Kant zurückerinnern. Denn den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gibt es weder beim Frühstück noch bei Google. Wir müssen mehr Bildung wagen!

Nur so werden die Schüler von heute mündige Bürger von morgen.

 

Kaja Klapsa machte 2014 ihr Abitur am Berliner Beethoven Gymnasium. Sie studiert Politikwissenschaften in Berlin.

 

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