von Christoph Bieber, 15.4.10
Es klingt überraschend, aber die am Donnerstag beginnende Serie von drei TV-Debatten im diskussionsfreudigen Großbritannien ist tatsächlich eine Premiere – bislang gab es keine prominenten Rededuelle zwischen den Spitzenkandidaten der Parteien. Die Bürgersprechstunden mit Gordon Brown (Labour Party), David Cameron (Conservative Party) und Nick Clegg (Liberal Democrats) sind die prominenteste Neuheit im britischen Medienwahlkampf.
Im Parlament gehört der wortreiche Streit dagegen zum Standard, begünstigt durch die aus dem brititschen Mehrheitswahlrecht folgende Dominanz der beiden großen Parteien oder auch durch die auf Konfrontation angelegte Sitzordnung im Unterhaus. Mehrere Versuche, öffentlichkeitswirksame TV-Debatten in den Wahlkampf zu integrieren, waren zuvor gescheitert: So wollte der Labour-Politiker Harold Wilson als Herausforderer 1964 offenbar dem US-Vorbild John F. Kennedy nacheifern. Dessen Wahlerfolg über Richard Nixon 1960 wird stets auch mit der besseren Performance in den „Great Debates“ in Verbindung gebracht. 1987 hatte sich Margaret Thatcher einer Debatte mit ihrem Herausforderer Neil Kinnock verweigert – die „Eiserne Lady“ hatte sich auf die Würde des Amtes und den Charakter der Parlamentswahlen berufen. Damit ist Großbritannien sogar im Vergleich mit Deutschland ein „Spätentwickler“ in Sachen TV-Debatte – das Format hat längst seinen Siegeszug angetreten und wurde allein 2009 an vermeintlich exotischen Orten wie etwa Iran, Afghanistan oder der Mongolei umgesetzt.
Premierminister Brown schmückt sich zwar mit der Tatsache, dass er als erster Bewohner von Downing Street No. 10 an einer solchen Debatte teilnimmt, doch könnte man ihm dies auch als Schwäche auslegen. Amtsinhaber stimmen meist dann den Anfragen ihrer Herausforderer zu, wenn sie sich einen Bonus für die eigene Kampagne versprechen. Solche Offenheit kann auch zum Verhängnis werden. Das passende Beispiel aus den USA lieferte Gerald Ford, der die bis 1976 pausierenden Präsidentschaftsdebatten wiederbelebte. Ohne Not bot er seinem Kontrahenten Jimmy Carter eine große Bühne, produzierte selbst einen spektakulären Patzer („there is no Soviet domination of Eastern Europe“) – und verlor.
Zur eigenen Absicherung spielt Brown nun das expectation game – er gilt nicht als glanzvoller Rhetor, bereitet sich aber dem Vernehmen nach seit Wochen intensiv auf die Debattenserie vor. Ziel der Übung ist die Überraschung der Zuschauer mit einer gelungenen Performance und damit der Beweis, dass der Premierminister auch in dieser Disziplin überzeugen kann. In den USA haben zuletzt John McCain und vor allem Sarah Palin dieses Register gezogen – im Vorfeld hatten sie offensiv mit ihrer Debattierschwäche kokettiert, um letztlich ganz passable Vorstellungen am Rednerpult abzuliefern.
David Cameron, dessen Image zuletzt im Verbund mit sinkenden Umfragewerten seiner Conservatives einige Kratzer abbekommen hatte, steht dagegen unter großem Druck. Er muss aus der Debatte als Sieger hervor gehen, sonst verschiebt sich das momentum der Kampagne noch weiter in Richtung von Labour. Vor allem für die weitere Kampagnenplanung ist ein sicherer, fehlerfreier Auftritt notwendig, einen Patzer oder ein allzu defensives Verhalten kann er sich nicht erlauben. Hier allerdings kommt Cameron der protected mode der Debatten zugute – in einer Dreier-Konstellation, die zudem durch einen Moderator und für alle Teilnehmer gleichlautende Bürgerfragen abgefedert ist, dürfte es nicht zur direkten Konfrontation mit den politischen Gegnern kommen.
Als gefühlter Sieger gilt im Vorfeld allerdings der Liberaldemokrat Nick Clegg, der als Vertreter der dritten Kraft im britischen Zweiparteiensystem seinen ersten Erfolg bereits in der Tasche hat. Denn anders als in Deutschland hat die Debatten-Organisation aktuelle Umfragewerte berücksichtigt – etwa 20 % der Briten wollen für die Liberaldemokraten stimmen, 31 % für die noch regierende Labour-Partei und 37 % für die Konservativen. Durch die Teilnahme an den prominenten Gesprächsrunden begegnet Clegg seinen Konkurrenten Brown und Cameron auf Augenhöhe – in punkto Sichtbarkeit ein großer Gewinn für seine Partei, die mit einer Perspektive als Koalitionspartner in einem hung parliament liebäugelt.
Nimmt man die Gestaltung der Prime Minister Debates etwas genauer in den Blick, dann hat es den Anschein, als wolle man sich im Vereinigten Königreich gleich an die Spitze der weltweiten Debattenkultur setzen. Die 76 Unterpunkte der Übereinkunft zur Regelung des Sendeformates dürften jedenfalls eine Rekordmarke sein – Debattenteilnehmer und TV-Sender haben die Produktionsbedingungen minutiös geregelt, über die Redezeitverteilung (Nr. 46-48), die Gestaltung des Bühnenbildes (Nr. 66-68) bis hin zum Verbot der Einblendung von Zuschauerreaktionen (Nr. 71). Die drei Debatten sind nach dem Muster der US-amerikanischen „Townhall-Meetings“ organisiert, das Meinungsforschungsinstitut ICM wurde für die Auswahl der repräsentativen Zuschauer-Panels engagiert. Produziert werden die jeweils 90 Minuten langen Sendungen in unterschiedlichen Landesteilen: so überträgt der Privatsender ITV aus dem Nordwesten, darauf folgt eine Produktion von Sky aus Südengland, für die öffentlich-rechtliche BBC sind die Midlands vorgesehen.
Die Erwartung einer schlechten Wahlbeteiligung, die noch deutlich unter den 61% von 2005 liegen dürfte, hat einen wesentlichen Beitrag für das Zustandekommen der TV-Debatten geleistet. Sowohl die veranstaltenden Fernsehsender wie auch die teilnehmenden Politiker lassen keine Gelegenheit aus, um die hohe Reichweite und den politischen Bildungscharakter dieser auf drei Folgen begrenzten Miniserie hervorzuheben. Auch in Zeiten von Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit sind Debatten zwischen Spitzenpolitikern verlässliche Quotenbringer – selbst wenn das deutsche Kanzlerduell 2009 einen massiven Zuschauereinbruch zu verzeichnen hatte, so war es mit gut 14 Millionen Zuschauern mit Abstand das wichtiges TV-Format im Bundestagswahlkampf. Ähnlich prominent dürften sich die drei Prime Minister Debates platzieren – allein der Premierencharakter wird dabei auch viele politikabstinente Bürger vor den Fernseher locken.
Die Debatte wird ab 21.30 Uhr mitteleuropäischer Zeit (8.30pm Ortszeit) vom Sender ITV übertragen. Die Debatte kann über einen Stream auf ITV.com verfolgt werden.