#Bundespräsident

Gaucks Rede im Bundestag. Eine Analyse

von , 24.3.12

Der Einstieg von Joachim Gaucks Rede verwundert:

Wie soll es nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel “Unser Land” sagen sollen?

Der Wortlaut lässt offen, welches Ziel der Redner verfolgt, ob er die Ergebnisse einer künftigen Politik imaginiert oder zwei normative Erwartungen mit- vielleicht auch gegeneinander in Stellung bringt. Gauck nimmt mit dem Satz eine Brachialabkürzung, verzichtet auf den durchschnittlichen Dreisprung: Wo kommen wir her? Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Er umgeht die vielleicht zu Beginn auch gefährlichste Klippe: die Frage danach, wie unser Land heute aussieht. Damit auch die Frage, wer von “unserem Land” redet, wer es lässt und warum.

Oder grätscht er mittenmang in die Manege, deutet an, dass das, was künftig wie auch immer aussehen solle, von ihm scharf darauf betrachtet oder angesehen werde, was verbesserungs- oder auch erhaltungswürdig sei?

Der erste Satz erhebt einen normativen Anspruch an die eigene Rolle und verspricht, dass wir mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck auf Überraschungen gefasst sein dürfen.

Vereinzeln wir immer weiter? Geht die Schere zwischen arm und reich immer mehr auseinander? Verschlingt uns die Globalisierung? Werden Menschen, die sich als Verlierer fühlen, an den gesellschaftlichen Rand gedrängt? Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern, ermorden?

Dieser Absatz resümiert die Zweifel von links und rechts an dem neuen Präsidenten, räumt den Verdacht einer monothematischen Ägide aus, bezeugt einen gut entwickelten Sinn für die Aktualität wie für langfristige Themen auf der politischen Agenda. Bevor er pflichtschuldig das Mantra des Zusammenhalts anstimmt, fasst er das verbindende Merkmal ausfransender Lebenswelten und Werte zusammen: Wir vereinzeln. Das merkt jeder, selbst wenn er noch politisch oder gewerkschaftlich oder kirchlich oder sportlich oder sonstwie engagiert ist. Die Ränder fransen aus. Manche Leute sieht man verschwinden. Fragt nicht mal mehr nach. Andere brechen ihre Familienbande ab. Wenn es dem Seelenfrieden, der großen Übereinstimmung mit sich selbst dient,  dann ist es so. Wer kann dem Einhalt gebieten? Wer will? Mit der ersten Frage dieses Fragenkonvoluts erleben wir bei Gauck eine zivilgesellschaftliche Homiletik am Werk. Er weiß, dass er den Pastor dimmen muss in einer semipostsäkularen Welt. Er verwandelt in der ersten Frage den Prediger und Pastor zurück in den Hirten, der darauf achtet, dass das eine oder andere Schäfschen (sic!) nicht zu nah an den Abgrund kommt. Ein guter Hütehund, der alle beisammen hält. Dezent aufmerksam.

Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt neue Ängste und Sorgen hervor. Manche ersinnen Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein Lebensthema “Freiheit” ist für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung.

Dieser Absatz erweckt den Eindruck, als habe Gauck ihn spät erst hinzugefügt oder einen Absatz gestrichen, der davor gestanden haben mag. Es ist schon richtig, implizit darauf zu verweisen, dass viele der zuvor angesprochenen Fragen nicht immer den Bürgern selbst tatsächlich auf den Nägeln brennen, sondern sich einer medial vermittelten Agenda verdanken. Zu schnell kommt für mein Gefühl an dieser Stelle seine Person, kommt sein “Lebensthema” ins Spiel. Das Wort legt die Frage nahe, was ein Sterbensthema sein könnte. Ein anderer Aspekt für das vorschnelle Vorpreschen der eigenen Person in diesem Kontext könnte allerdings auch gleichermaßen als Drohung und Versprechen gewertet werden. Liebe Medien, merkt Ihr was? Ihr Unruhestifter, ihr Nestbeschmutzer, ihr Wulff-Verfolger: Ich bin mit meiner eigenen Wortmacht einer, den ihr nicht vom Hof jagen könnt wie den Vorgänger, ich bin das Medium meiner selbst – mit unbeschränktem Zugang zu allen Kanälen. Meine Wirkungskraft ist das Wort – durch alle Verstärker. Er annonciert verkörperte Gegenmacht. Ich verheiße nichts. Ich verspreche nichts. Ich verunsichere, allerdings nicht mehr als zuträglich.

Ich verstehe diese Reaktion zwar, doch will ich ihr keinen Vorschub leisten. Ängste vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können – bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum.

Stattdessen will ich meine Erinnerung als Kraft nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren.

Aus der Ferne ein Nietzscheecho, auch eine Bekräftigung dessen, was ich zuvor schon mit der verkörperten Gegenmacht ansprach. Feigheit? Mit ihm nicht. Flucht? Vor wem? Und wohin? Eher  Rückbesinnung auf das normative Gefüge, mit einem homöopathischen Zusatz, der in der Verfassungsrolle seines Amtes nicht vorgesehen ist: legitime Haltung transzendiert den Buchstaben des Gesetzes, meldet individuelle Vorbehalte an, widerspricht der bekannt gewordenen Annahme der Bundeskanzlerin, Gauck sei eine single issue Person. Sie hat in ihrer unnachahmlichen Verdrehungsgabe mit ihrer Aussage die Furcht bemäntelt. dass er der Politik zu viele issues auf den Teller schaufeln könnte, mehr als sie verarbeiten kann. Hier also ein zarter Vorgriff: Macht Euch auf mich gefasst. Welchem Thema ich Vorschub leiste? Alle Themen, die eine legitime Haltung ermöglichen und erfordern.

Ich wünsche mir eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und den Gräueln des Krieges gelungen ist. In Deutschlands Westen trug es als erstes den Namen “Wirtschaftswunder”. Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen und Ausgebombten erhielten Wohnraum, nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand. Allerdings sind für mich nicht Autos das besonders Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land vor allem als das Land eines Demokratiewunders. Anders als die Alliierten fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig, es gab ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine gestaltende Kraft. Es entstand eine stabile demokratische Ordnung, Deutschland West wurde Teil der freien westlichen Welt.

Ein seltsamer Wunsch. Was wäre tote Erinnerung? Gibt es das ? Vielleicht schon. In der einen oder anderen Form von Selbstzufriedenheit. In einer Erinnerung, die sich abkoppelt von den Ambivalenzen, zum Beispiel jenem “kommunikativen Beschweigen” des NS, wie es von Hermann Lübbe für die fünfziger Jahre beschrieben wurde. Immerhin ist das “Demokratiewunder” von manchen Versuchungen überschattet – von der Formel der “formierten Gesellschaft” (Ludwig Erhards) bis zur “marktkonformen Demokratie” (Angela Merkels).

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte allerdings blieb defizitär. Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Nazi-Regimes prägte den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert.

Damals war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen unsere Nachbarn im Inneren und im Äußeren vergingen.

Es bleibt das Verdienst dieser Generation: Es war ein mühsam errungener Segen. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er verbanden, hat sie die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt. Die auf Fakten basierende und an Werten orientierte Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nicht nur richtungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland. Sie wird auch als beispielhaft von vielen Gesellschaften empfunden, die ein totalitäres Joch abgeschüttelt haben und nicht wissen, wie sie mit der Last der Vergangenheit umgehen sollen.

Die Einholung des katholischen Metzgerssohn aus Donauschwaben in die Mitte der Republik. Immerhin. Auch eine implizite Absage an die Selbstgerechtigkeit der ostdeutschen “Antifaschisten”.

Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa ist ein weiteres kostbares Gut der deutschen Nachkriegsgeschichte. Konrad Adenauer, Kanzler des Landes, das eben noch geprägt und dann ruiniert war vom Nationalismus, wird zu einem der Gründungsväter einer zukunftsgerichteten europäischen Integration. Dankbarkeit und Freude!

So wie später – 1989. Da waren die Ostdeutschen zu einer friedlichen Revolution imstande. Wir wurden das Volk und wir wurden ein Volk. Und auf unblutige Weise wurde der jahrzehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des Kalten Krieges, auch die aus ihr erwachsene Kriegsgefahr überwunden.

Ich möchte heute also nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versagen sprechen. Auch jener Teil unserer Geschichte darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer politischen Kultur der Freiheit, die gelebte Verantwortung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres Volkes umfasst.

Das ist kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur – das ist eine Paradigmenergänzung, die uns ermutigt: Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie nach besten Kräften – wenn auch nicht gleich ideal – zu lösen, ist eine große Ermutigung auch für die Zukunft.

Wir wechseln zwischen illo tempore und der heutigen Einordnung. Ich tue mich immer schwer, wenn eine politische Entscheidung aus der Geschichte hervorgehoben wird: als kostbares Gut scheint sie in Gefahr, sich in Verhandlungs- um nicht zu sagen: Konkursmasse zu verwandeln, statt darauf zu bestehen, dass das Ergebnis politischer übernationaler Kompromisse eine Pfadabhängigkeit künftiger Einigungsbereitschaft begründet. Das ist unter den Vorzeichen des von Deutschland durchgesetzten Fiskalpakts nicht gewährleistet. Hoffen wir deshalb auf einen anderen Präsidenten, outre-rhin, als Korrektiv.

Wie also soll es nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel “Unser Land” sagen sollen?

Es soll “unser Land” sein, weil ‚unser Land‘ soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern ein Sozialstaat, der vorsorgt und ermächtigt.

Zurück zum Ausgangspunkt. Warum “sollen” sie das sagen? Reicht es nicht, darauf zu setzen, dass sie es sagen? Der Zweifel ist eher erfrischend. Weil er die normative Bindung der Politik aus ihren Routinen, aus der Selbstgefälligkeit zurückkoppelt an die Selbstprüfung, an Selbstbeobachtung und Korrektur, wo sie vom Weg abzukommen droht. Es ist ja seit Richard von Weizsäckers am Ende gegen den Kanzler gerichteten Präsidentschaft davon phantasiert worden, wie der Bundespräsident – ähnlich zur britischen Tradition der Royal Commissions – zu einer Form der diskursiven politischen Agenda gelangen kann, die diese normative Bindung der Politik, wo immer sie in Vergessenheit zu geraten droht – mit einem gehaltvollen Blick auf die Lage und ihre Verwerfungen in Erinnerung bringt.  In ihren besten Jahren hat das die CDU mit Geißler und Fink sogar aus eigenen Kräften gekonnt.

Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr, und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm, alt oder behindert sind. Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn was Gerechtigkeit – auch soziale Gerechtigkeit – bedeutet, und was wir tun müssen, um ihr näher zu kommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, nur in intensiver, demokratischer Diskussion klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. „Unser Land“ muss also ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung von Gerechtigkeit – und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.

Ich bin gespannt darauf zu sehen, an welchen Punkten der Bundespräsident zu diesen Themen die Agenda der Bundesregierung kritisch zu kommentieren beginnt.

In „unserem Land“ sollen auch alle zuhause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten, auch andere Sprachen, andere Traditionen. In dem der Staat sich immer weniger durch die nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft. In dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben von Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen.

Da fehlt irgendwas im Transkript, aber das kann uns hier egal sein. Mich stört dieses “auch”. Wie seltsam das wohl klänge, wenn der Satz hieße: “In „unserem Land“ sollen auch alle zuhause sein können, die hier nicht leben“? Denn auf diese implizite Logik läuft das “auch” zu. Da scheint Joachim Gauck sich rechtzeitig selbst ins Wort gefallen zu sein.

Wenn ich das Wort “Schicksalsgemeinschaft” sehe, freue ich mich immer wieder von neuem über den kleinen Neologismus, den ich im vorletzten Jahr Frau Rincks Begriffsstudio einsandte: das Schicksalsgemeinschaf. Ich weiß nicht, auf welchen Salzwiesen es sich nährt.  Es verkörpert ein rhetorisches Warnschild vor überstiegenen Begriffen.

Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat Bundespräsident Johannes Rau bereits vor zwölf Jahren in seiner Berliner Rede deutlich hingewiesen. Aber in den Fragen des Zusammenlebens dürfen wir uns nicht von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten lassen.

Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr Bundespräsident Wulff, dieses – Ihr – Anliegen wird auch mir in meiner Amtszeit am Herzen liegen.

Unsere Verfassung spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben und welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir.

Hier ordnet Gauck eine genealogische Tradition, von “Bruder Johannes” bis zum Vorgänger Wulff. Pflichtschuldig – und aufmerksam den feinen Unterschied setzend.

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht, nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine “wahre Schule” des Miteinanderlebens auf engstem Raum. “Mit dem anderen leben, als der andere des anderen leben.” – Darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas.

Dieses Ja zu Europa gilt es zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander aber ist ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen. Mit Freude sehe ich, dass die Mehrheit der Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und weiter Zukunft gibt.

Europa war für meine Generation Verheißung – aufbauend auf der abendländischen Tradition, dem antiken Erbe, einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christlichen und dem jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa längst aktuelle Lebenswirklichkeit – mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Lebenswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn.

Die europäische Bekenntnisformel springt ein kleines bisschen zu kurz. Der wunderbare Gewinn könnte wie das erste Zitroneneis in der unerwarteten Märzwärme schmelzen, wenn nicht die Verlustängste angesprochen würden, die den “Traum von Europa” mehr noch gefährden als die nationalstaatliche Zufluchtsidee. Der Nationalismus von heute verkleidet sich in ökonomischen Patentrezepten, im härenen Büßerkleid der schwäbischen Hausfrau. Da sind die Enkel dem Präsidenten zu nah, der Frontenverlauf der europäischen Politik noch zu fern.

Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel “Unser Land” sagen sollen?

Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen.

Es handelt sich um ein lernfähiges System. Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert eine aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen und Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus.

Zum dritten Mal die Eingangsformel, die normative Erwartung. Gauck wechselt in den Möglichkeitssinn, keine schlechte politische Semantik für die eigene politische Agenda. Hier meldet er normativen Zweifel am Repräsentationszweifel der Occupy-Bewegung an, an Aufstandstheoretiker wie Michael Hardt, der den Ausnahmezustand von unten erklären will. Die Offenheit und die Repräsentation verkörpern eine andere institutionelle Garantie des Lernens als der selbsternannte Adhocratismus der Besetzer.

Anders als die Demokratie von Weimar verfügt unser Land über genügend Demokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen mit unterschiedlichen politischen oder religiösen Gründen: Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. Und speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir in aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.

Die Extremisten anderer politischen Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen, und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet ihren Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht.

Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen Angst, die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. Meine Bitte an Regierende wie Regierte: Findet euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz.

Die Demokratie lebt gewiss von den Demokraten. Ob sie sich tatäschlich immer und überall so wehren, wie es zu wünschen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Die geschwinde Schlussredaktion hat den zweiten Absatz etwas schräg formuliert. Wir wissen schon, was gemeint sein wird. (Den Extremisten wird unsere Entschlossenheit usw) Es klingt irgendwie zu steif, wie hineinredigiert, vielleicht sogar hineinregiert. Die entscheidende Frage ist, wie der neue Bundespräsident über den Staatsakt für die Opfer des rechtsradikalen Mordterrors hinaus den Impuls aufgreifen und vertiefen wird. Joachim Gauck verfügt über ein Füllhorn symbolischen Kapitals, das er glaubhaft in die Waage werfen kann, wenn es die Lage gebietet. Mehr als mit steifen abstraktionsgesättigten Sätzen ohne Feuerkraft.

Für die politisch Handelnden heißt dies: Redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen zurückgewonnen werden. Den Regierten muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins – Verantwortung zu leben.

Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie, mutig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in sich selbst zu setzen.

Nach einem Wort Gandhis kann nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte machen und Erfolge haben. Dies gilt für einen Menschen wie für ein Land. Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes Geld und Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, das haben wir gezeigt.

Gott und den Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten.

Sie haben das Ziel erreicht. Bürgerpräsident Gauck hat mit seiner Antrittsrede die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Nicht als Geschenk. Als selbst gewählte Aufgabe.

Rede er offen. Das ist sein Versprechen. Ein erfreulicher Auftakt.

 

Crosspost von: Rhetorik-Blog „Reden für eine neue Welt“

 

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