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Nach dem Generationenstunk. Plädoyer für einen neuen Politikstil

von , 18.5.16

Wohin man auch schaut: es herrscht Stunk zwischen den Generationen. Im amerikanischen Wahlkampf beschimpfen die Älteren die Jüngeren als verwöhnte Narzissten mit überzogenem Anspruchsdenken. Die Jüngeren werfen den Älteren vor, mit arroganter Selbstbezogenheit nicht nur ihre, sondern die Zukunft der Menschheit insgesamt zu verspielen. Schützenhilfe erhalten sie dabei vom Philosophen Tony Judt, der der „katastrophalen Generation“ der Regierenden attestierte, geschichtslos durch die Gegend zu dilettieren und dabei eine Spur der Vernichtung zu hinterlassen. Der indische Polemiker Pankaj Mishra wirft dieser „beschissenen Generation“ („crappy generation“) vor, das Erbe der liberalen Demokratie zu verspielen. Autor Wolfgang Gründinger nennt das Verspielen der Zukunft durch Politiksenioren provokant „Alte Säcke Politik“. Die Klagen über die verkommene Jugend hier und den Muff von tausend Jahren da sind so alt wie die Menschheit selbst. Also alles halb so wild, oder steckt dieses Mal mehr hinter dem Gezeter zwischen den Generationen?

Seit Jahren gilt auch in Deutschland die Gleichung je jünger desto Wechselwähler. Jüngere Wähler teilen nicht selten in einer Frage die Position einer Partei, in einer anderen Frage die einer anderen Partei. Jüngere Aktivisten engagieren sich eher in sozialen Bewegungen und digitalen Netzwerken, also außerhalb der etablierten Strukturen und Angebote der Parteiendemokratie. Beinahe scheint es so, als ob die Jüngeren quer durch die Parteienlandschaft mehr miteinander gemeinsam zu haben, als mit den Altvorderen des eigenen Lagers. Oder, präziser, dass sie über andere Dinge streiten. Über die ritualisierten Konflikte entlang der alten Gräben rollen die Jüngeren nur noch die Augen. Immer häufiger vernimmt man die Klage, dass die politischen und wirtschaftlichen Entscheider schlicht nicht begreifen, was vor sich geht, und daher an den Herausforderungen der neuen Zeit zu scheitern drohen. Problemlösungskompetenz wird, wenn überhaupt, nur noch einzelnen Persönlichkeiten zugeschrieben. Nicht umsonst befinden sich ALLE Parteien der Industriegesellschaft in einer tiefen Krise.

 

Generationenkonflikte sind das Echo des rasanten Wandels

Generationenkonflikte, das wusste schon der Soziologe Karl Mannheim, sind besonders ausgeprägt in Zeiten rasanten sozio-kulturellen Wandels. Hier werden die politischen, sozialen und kulturellen Bruchlinien zwischen Jüngeren und Älteren stärker sichtbar. Während die ältere Generation an den Erfahrungen festhält, die sie im Laufe ihres Lebens angesammelt hat, weisen die Jüngeren diese alten Formeln zurück, weil sie aus ihrer Sicht keine Antworten mehr auf die Herausforderungen einer sich schnell verändernden Lebenswelt geben. In Transformationsprozessen beschleunigen Generationenkonflikte also die Verschiebung von Leitdiskursen und Bewusstseinslagen. Und tatsächlich leben wir in einer Übergangszeit. Zwischen Finanzkapitalismus und digitalem Kapitalismus. Zwischen Industriegesellschaft und digitaler Informationsgesellschaft. Zwischen Fossilem und Erneuerbarem Energiezeitalter. Zwischen Nationalstaat mit repräsentativer Demokratie und tja, was?

Die Transformationskrise politisiert nun eine Generation, die es sich lange in den Nischen ihrer unmittelbaren Lebenswelt bequem gemacht hatte. Angesichts der Krisen und Kriege macht sich nun auch in den Kiezgärtchen und Hipster-Manufakturen die Erkenntnis breit, dass man Demokratie und Wohlstand nicht erben kann, sondern immer wieder neu erkämpfen muss. Folgt aus diesem Bewusstseinswandel aber auch die Bereitschaft, sich selbst in die Kämpfe um die gesellschaftliche Ordnung einzumischen?

 

Angst, Orientierungslosigkeit und Lähmung bestimmen das gesellschaftliche Bewusstsein

Bislang bleibt die breite Mobilisierung der jüngeren Generationen aus. Statt dessen bestimmt ein diffuses Gefühl der Bedrohung, ein kulturelles Unwohlsein, eine allgemeine Orientierungslosigkeit das gesellschaftliche Bewusstsein. Unfähig die Krise in ihrer Gesamtheit zu erkennen, fehlt das große Projekt, das den Weg nach vorne zeigen könnte. Das ist gefährlich, denn die Sehnsucht nach dem Befreiungsschlag bereitet den Nährboden den starken Mann, der verspricht die Große Krise mit einfachen Lösungen zu bezwingen. Und tatsächlich sind Populisten und Demagogen überall auf dem Vormarsch. Das Echo der 1930er Jahre kommt nicht von ungefähr. Besorgnis, Orientierungslosigkeit, Lähmung sind typische Symptome der Großen Transformation. Das Alte stirbt und das Neue ist noch nicht erkennbar, fassbar, begreifbar. Jede Revolution der wirtschaftlichen Basis zieht eine Neuordnung der sozialen, kulturellen und politischen Ordnung nach sich. Wie auch immer die politische Ordnung der digitalen Gesellschaft aussehen wird, sie wird sich deutlich von der Ordnung der Industriegesellschaften unterscheiden. Wen wundert es da, dass sich die Digital Natives fremd in der politischen Landschaft des sterbenden Industriezeitalters fühlen? Die Scharmützel um die Sachprobleme der Tagespolitik, die erstarrten Rituale der Parteienpolitik, geben weder Antworten noch Orientierung. Wogegen sollen wir sein? Wofür wollen wir streiten?

Was fehlt ist eine Richtungs- und Strategiedebatte. Wir brauchen einen Deutungsrahmen für das große Ganze. Und dafür müssen wir grundsätzliche Fragen stellen. Handelt es sich bei den Krisen um unterschiedliche Phänomene, oder um die Symptome einer großen Systemkrise? Kann man die Krisen innerhalb des alten Paradigmas lösen, oder braucht es einen radikalen Pfadwechsel? Und wenn die alten Systeme versagen – welche Alternativen können wir uns vorstellen? Im Grunde sind Paradigmenkrisen nichts Neues. Gesellschaften geraten regelmäßig in Krisen, die mit den alten Formeln nicht mehr zu lösen sind. Theoretisch ist klar, was zu tun ist: um aus der Sackgasse zu gelangen, muss der Entwicklungspfad verändert werden. In der heutigen Krise bedeutet das, mittels einer Reihe disruptiver Reformen die bestehende Ordnung an die Bedürfnisse der digitalen Wirtschaft, der planetarischen Grenzen und der entstehenden Weltgesellschaft anzupassen. Praktisch fällt es den alten Industriegesellschaften aber schwer, politische Kurswechsel einzuleiten.

Die totalitären Verirrungen des 20. Jahrhunderts haben die Begeisterung für politische Revolutionen deutlich abgekühlt. Der technokratisch-inkrementelle Politikstil der Babyboomer ist jedoch ebenso wenig geeignet, echte Pfadwechsel durchzusetzen. Technokraten verstehen Reformen als das Lösen von Sachproblemen, die es rational zu analysieren und der Reihe nach abzuarbeiten gilt. Reformen sind aber ebenso das Ergebnis von Machtkämpfen zwischen denjenigen, die vom Status Quo profitieren, und denjenigen, die für Veränderungen streiten. Angesichts der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verwundert es daher nicht, dass die als „alternativlos“ propagierten Lösungen nichts weiter sind als Verschiebungen innerhalb des herrschenden Paradigmas. Was fehlt ist also eine Strategie für die demokratische Gestaltung von Transformationsprozessen.

 

Wir brauchen eine demokratische Strategie zur Gestaltung des Wandels

Innovationen kommen, wenn überhaupt, von den Rändern – von den disruptiven Start-Ups der digitalen Industrie bis zu den nicht minder disruptiven Start-Ups der Politik. Dort, wo Staaten und Großkapital versagen – etwa in der Klimapolitik – zeigen flinke Vordenker, wie man mit neuen Technologien die Energieversorgung revolutionieren kann. Oder wie neue Narrative die alten Gegensätze auflösen und neue gesellschaftliche Allianzen für den Wandel schaffen können. So nutzt die Bernie Sanders Kampagne den Occupy Frame „We Are the 99 Percent”, um damit eine deutlich breitere Regenbogenallianz zusammenzuführen, als es auf einer sozialdemokratischen Plattform je gelungen wäre. Innovation ist also möglich, trotz aller Verkrustung der Systeme. Aber reichen diese Innovationen aus, um damit die Gesellschaften als Ganzes umzusteuern?

In den Subsystemen Wissenschaft und Wirtschaft haben sich dagegen bereits Institutionen herausgebildet, die besser geeignet sind, Pfadwechsel einzuleiten. Wissenschaftliche Paradigmen ändern sich, wenn sie innerhalb des strengen akademischen Regelwerkes von einer breiten Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinde anerkannt werden. In der Wirtschaft werden Paradigmenwechsel von technologischen und organisatorischen Innovationen angetrieben. Weil Märkte von Hoffnungen und Befürchtungen getrieben werden, spielen „Growth Stories“, also Erzählungen über eine bessere Zukunft, eine gewichtige Rolle bei der Allokation von Ressourcen. Auch hier wächst also einem Diskurs eine Steuerungsfunktion zu, wenn er die Entscheidungen einer kritischen Masse von Investoren anleitet.

Auch in der Politik sind die ersten erfolgreichen Versuche zu beobachten, disruptive Reformen durch eine Verschiebung der Paradigmendiskurse voranzutreiben. Schauen wir uns zum Beispiel die Energiewende näher an. Offensichtlich sind die existentiellen Herausforderungen des Klimawandels mit den alten, fossilen Politikformeln nicht mehr zu lösen – es handelt sich also um eine Paradigmenkrise. Im bislang vorherrschenden Paradigma wurden Wachstum und Umweltschutz als Gegensätze verstanden. Die Angst, der Schutz der Umwelt könne Wettbewerbsfähigkeit und damit Jobs gefährden, vereitelte jahrzehntelang das Entstehen einer breiten Allianz für einen energiepolitischen Pfadwechsel.

Mit der „Vierten Industriellen Revolution“ hat nun ein neuer Narrativ diesen alten Gegensatz aufgelöst. Im neuen Paradigma des Grünen Wachstums sind Umwelt und Wachstum also kein Gegensatzpaar mehr, sondern bedingen einander. Seit die Revolution der Energiesysteme zur Vorbedingung für die Entfesselung eines neuen Wachstumszyklus erklärt wurde, wird die Energiewende von einer breiten Diskursallianz als Hoffnung gefeiert. Nun entstehen neue Akteurskoalitionen, die die Energiewende kraftvoll vorantreiben. In Deutschland sind das ausgerechnet die politischen Verbündeten der Atom- und Kohleindustrie die Energiewende. Der Papst hat mit einer Enzyklika die katholische Kirche zum Vorkämpfer der grünen Wende erklärt. Seitdem die konservative Bank of England institutionelle Anleger vor den Gefahren der „Carbon Bubble“ warnte, stehen auch auf den Kapitalmärkten die Zeichen auf Carbon Exit. Die großen Stromkonzerne stoßen ihre fossile Kraftwerksflotten ab. Der italienische Konzern Enel gab das gemeinsam mit Greenpeace bekannt. All dies wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.

Heute deutet alles darauf hin, dass der Wandel der Leitdiskurse auf breiter Front zu einer Veränderung der Handlungsstrategien zentraler Akteure führt. Ähnliche Verschiebungen der Leitdiskurse kann man in den Feldern soziale Ungleichheit, gleichgeschlechtliche Liebe, Finanzmärkte und Drogenpolitik beobachten. Auch hier unterschieden sich die Einstellungen der Jüngeren stark von denen der Älteren. Es entstehen Diskursallianzen, die auf einen Pfadwechsel drängen. Die Beispiele zeigen, wie ein neuer Leitdiskurs zu einer Neuordnung gesellschaftspolitischer Allianzen führen kann, die gemeinsam die Kraft haben, aus der Sackgasse gescheiterter Paradigmen auszubrechen. Es lohnt sich also, den Zusammenhang zwischen Diskursen, Generationen, Allianzen und politischem Wandel näher zu betrachten. Nicht von ungefähr haben Konzepte des politischen Framing unter jüngeren Strategen wie der Neurowissenschaftlerin Elisabeth Wehling oder dem Denkwerk Demokratie Konjunktur. Doch trotz augenscheinlicher Erfolge wird der Diskursansatz von Politikveteranen noch immer ungläubig belächelt.

 

Ausgerechnet die diskursive Wende führt zur Sprachlosigkeit zwischen den Generationen

Generationenkonflikte wurzeln keineswegs nur in unterschiedlichen Lebenserfahrungen, sondern auch in verschiedenen Erkenntnisrahmen. Unser Erkenntnisrahmen ist die Brille, durch die wir die Welt wahrnehmen, deuten und ordnen. Die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ist ironischerweise die Folge der kopernikanischen Wende, die die Sprache in den Mittelpunkt unseres Universums gestellt hat. Niemand hat die linguistische Wende schöner auf den Punkt gebracht als Ludwig Wittgenstein: „Das Ende meiner Sprache ist das Ende meiner Welt“. Damit nahm er die bahnbrechenden Erkenntnisse der Gehirn- und Sprachforschung vorweg, nach der wir die Welt um uns herum nur verstehen können, indem wir sie in sprachliche Referenzrähmen („Frames“) einordnen.

Sprache ist aber kein neutrales Medium, sondern ein soziales Konstrukt, aufgeladen mit Werten, Konzepten, und Bedeutungen. Mit anderen Worten, wir können die Welt gar nicht wertfrei wahrnehmen, sondern bereits im Akt der Wahrnehmung werden die Deutungsrahmen im Gehirn aktiviert, die die vermeintlichen Fakten bereits interpretieren, einordnen und bewerten. Man muss kein Gramscianer sein, um zu sehen, dass die Deutungshoheit über die Begriffe eine ungeheure Machtressource ist: wer den Deutungsrahmen setzt, suggeriert damit „was ist“ und „was getan werden muss“. Sprache wird damit zum zentralen Instrument sowohl für die Rechtfertigung als auch die Herausforderung der gesellschaftlichen Ordnung. Damit bestätigt sich jedoch nur was Hohepriester, Propagandaminister und Spindoktoren seit Jahrhunderten wissen: unsere Sprache ist das Einfallstor der Ideologie. Durch die neue Brille betrachtet verändert sich die Welt. Begriffe sind nicht länger in Stein gemeißelt, sondern werden fließend, ambivalent, umdeutbar. Wenn jede Erfahrung durch Sprache vermittelt ist, dann gibt es auch keine „objektiven“ Interessen, sondern nur subjektive Interessendefinitionen. Geschichte ist die Deutung der Vergangenheit, auf die sich Gesellschaft heute einigen kann. Eine einzige, ewige Wahrheit gibt es nicht mehr, sondern nur noch die Koexistenz von Diskurswelten.

Ein derart relativistisches Weltbild ruft natürlich eine breite Phalanx von Gegnern auf den Plan. Für Materialisten, Positivisten und Szientisten ist das Gerede von Narrativen, Mythen und Identitäten nichts als leeres Geschwätz. Aktivisten der alten Garde wird es schwindlig, wenn Begriffe „neu geframed“ werden. Und die Verteidiger der Aufklärung machen die Postmoderne gleich verantwortlich für den Niedergang der politischen Kultur: wer Faktenverachtung säht, wird Trump und Co. ernten.

Das Echo dieser epistemologischen Debatten schwingt heute in der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen nach. Ganz so unvereinbar stehen sich die Generationen jedoch eigentlich gar nicht gegenüber. Die Jüngeren haben sich längst von den nihilistischen Exzessen der Dekonstruktivisten verabschiedet, und erkennen die Notwendigkeit von Werten, Utopien und Institutionen an. Das Ringen um Deutungshoheit ist für sie kein Selbstzweck, sondern ein nützliches Mittel der gesellschaftspolitischen Allianzbildung. Umgekehrt dämmert es dem einen oder anderen Wahlkampfstrategen, dass Wähler – anders als Fokusgruppen – keine statistischen Größen sind, für die man mittels Meinungsumfragen die perfekte Botschaft austüfteln kann. Die sagenumwobene Mitte der Gesellschaft ist also kein feststehender Ort, sondern immer das Ergebnis von Deutungskämpfen. Und auch eingefleischte Technokraten geben zu, dass die ausdifferenzierten, dezentralen, pluralistischen Gesellschaften von heute nicht mehr mit dem hierarchischen, zentralistischen, universalistischen Betriebssystem von gestern regierbar sind. Die Funktionslogik der Industriegesellschaft – das Setzen universeller Standards – passt nicht mehr auf die Bedürfnisse der digitalen Nischenökonomie, und wird von einer Gesellschaft bunter Lebenswelten immer häufiger zurückgewiesen. Statt also von oben herab mittels Gurkenkrümmungsverordnung in den letzten Winkel der Gesellschaft hineinzuregieren sollte den gesellschaftlichen Subsystemen größere Autonomie bei der Gestaltung ihrer Lebenswelten gelassen werden. Kurzum: generationsübergreifend wächst die Erkenntnis, dass es für die Gestaltung der Gesellschaft von Morgen neue Formen politischer Gestaltung braucht.

 

Transformatives Gestalten: Eine demokratische Strategie für die Gesellschaft von Morgen

Mit einer neuen Philosophie des Regierens wird derzeit in der pluralistischsten, dezentralsten und ausdifferenzierten Gesellschaft der Welt experimentiert. Barack Obama versteht die Gestaltung sozialer Transformation als das Zusammenführen der gesellschaftlichen Subsysteme auf einen gemeinsamen Entwicklungspfad („Trajectory“). Politische Gestaltung bedeutet dann ein gemeinsames Ziel zu formulieren, auf das sich eine heterogene Allianz gesellschaftlicher Gruppen einigen kann. Das ist keine einfache Aufgabe, denn soziale Gruppen haben unterschiedliche Interessen, Identitäten und Prioritäten. Und um so ausdifferenzierter und pluralistischer unsere Gesellschaften werden, desto schwerer fällt es, gemeinsame Plattformen zu finden. Mit den „alternativlosen“ Methoden der Technokratie lässt sich diese Aufgabe nicht bewältigen. Die großen Volksparteien der Industriegesellschaft haben diese Aufgabe gelöst, indem sie ein Programmpaket schnürten, in dem für jede Gruppe etwas war, ohne eine andere übermäßig zu verschrecken. Eine solche transaktionale Koalition, die sich auf nicht mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann, ist aber zu zerbrechlich, um den notwendigen Pfadwechsel gegen die zu erwartenden Widerstände durchzusetzen.

 

Transformatives Gestalten bedeutet, die politischen Kräfteverhältnisse zu verändern, indem man eine heterogene gesellschaftliche Allianz für den Wandel zusammenführt.

 

Um den Status Quo zu verändern braucht es eine breite transformative Allianz. Eine transformative Allianz lässt sich aber nicht auf der Basis von Kompromissen im Hier und Jetzt aufbauen. Besser ist es, eine Vision für die Zukunft zu formulieren, auf die sich die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen einigen können. Neue Vorstellungen davon, wie die Zukunft aussehen könnte ändern die Erwartungen, wohin die Reise geht. Veränderte Erwartungshaltungen über den Entwicklungspfad führen zur Neubewertung von Chancen und Risiken eigenen Handelns. Beginnen Akteure damit, ihre Interessen neu zu definieren, eröffnen sich neue Möglichkeiten politischer Allianzbildung. Eine Vision für ein besseres Morgen ist also ein wichtiges Instrument politischer Mobilisierung. Diese praktische Utopie darf allerdings kein beliebiges Luftschloss sein, sondern muss den strategischen Ort beschreiben, an dem die wahrgenommenen Interessen relevanter gesellschaftlicher Gruppen zusammenlaufen.

Zur Gründung einer transformativen Koalition benötigt man jedoch weitere Zutaten. Zunächst eine Erzählung, die glaubwürdig beschreibt, wie sich die Vision eines besseren Morgen verwirklichen lässt. Wiederum darf diese Erzählung kein Ammenmärchen sein, sondern muss klar benennen, wie wirtschaftliche, technologische, soziale und kulturelle Triebkräfte die Gesellschaft transformieren und damit den Boden für eine alternative Zukunft bereiten. Die Erzählung muss zudem erklären, warum das faktisch Machbare auch das moralisch Richtige ist. Das bedeutet die Fakten müssen durch den Verweis auf historische Erfahrungen, Legenden und Mythen emotional erfahrbar gemacht werden. Letztlich geht es darum, einen neuen Leitdiskurs zu setzen, der die Wahrnehmungen, Deutungen und Erwartungen unterschiedlicher Gruppen harmonisiert und zusammenführt.

Weiterhin braucht es katalytische Projekte, die den Diskurs in konkretes politisches Handeln übersetzen. Katalytische Projekte zielen darauf ab, die Triebkräfte strukturellen Wandels – also Bildung, Wachstum, Vernetzung, Technologie etc. – zu entfesseln. Gleichzeitig bieten diese praktischen Projekte Ansatzpunkte für konkrete Kooperationen zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Eingebettet in die Erzählung über ein besseres Morgen bilden die katalytischen Projekte den Nukleus einer transformativen Koalition. Die praktische Utopie gibt ein Ziel vor, auf das sich gesellschaftliche Gruppen einigen können, der diskursive Kompass gibt den Weg dorthin vor. Die katalytischen Projekte sind die Orte, an denen sich Akteure zusammenschließen und gemeinsam für die bessere Zukunft kämpfen können. Gelingt es, aus diesem Nukleus eine breite transformative Koalition zu formen, dann stehen die Chancen gut, auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die erforderlichen Reformen durchsetzen zu können.

Transformatives Gestalten bedeutet also, die politischen Kräfteverhältnisse zu verändern, indem man eine heterogene gesellschaftliche Allianz für den Wandel zusammenführt. Je mehr unsere Gesellschaften in verschiedene Lebenswelten zerfällt, um so wichtiger wird es, einen gemeinsamen Rahmen zu finden, der die Gesellschaft nicht nur zusammenhält, sondern es ihr ermöglicht, ein gemeinsames Ziel anzustreben. Diese Botschaft kann nicht aus einem Sammelsurium von Sachpolitiken bestehen, sondern muss eine Erzählung über eine bessere Zukunft für alle sein. Es ist also an der Zeit, die uralten politischen Techniken von Utopie bis Mythos, von Solidarität bis Allianzbildung, wieder zu beleben. Transformatives Gestalten fällt denjenigen leichter, die nach der diskursiven Wende aufgewachsen sind. Angesichts der drängenden Herausforderungen von Klima, Krieg und Krise wird es aber ohne die Babyboomer an den Schalthebeln der Macht nicht gehen. Es ist also aller höchste Zeit, dass die Generationen ihre Sprachlosigkeit überwinden. Statt einander zu beschimpfen, muss man miteinander reden. Das Thema: Die Gestaltung der Gesellschaft von Morgen.

 


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