von Severin Fischer, 2.12.08
Als im März 2007 die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre ambitionierten Beschlüsse zur Umgestaltung Europas in eine „low-carbon-economy“ festlegten, herrschte Einigkeit darüber, dass die Europäische Union mit einem robusten und ehrgeizigen Klimaschutzkonzept nach Poznan reisen sollte. Doch nun, wo die Vorverhandlungen zum entscheidenden Weltklimagipfel Ende 2009 in Kopenhagen seit Anfang Dezember im polnischen Poznan anlaufen, ringt Europa um die Erfüllung seines Zeitplans und seiner Zielvorstellungen. Die Umsetzung des anvisierten Klimaschutzkonzeptes scheint derzeit mehr als zweifelhaft. Ein Grund für diese Entwicklung liegt in den wirtschaftlichen Problemstellungen, die aus der globalen Finanzkrise resultieren und den Klimaschutz in auf der Prioritätenagenda in den Hintergrund drängen. Der vielleicht entscheidende Grund liegt jedoch in der Verfasstheit der Europäischen Union, die gerade in Krisenzeiten allzu häufig demonstriert, dass sie von einer nachhaltigen Politikgestaltung noch immer weit entfernt ist.
Hatten EU-Repräsentanten die Entwicklung einer ehrgeizigen Energie- und Klimapolitik
bislang zum Sinnbild europäischer Handlungsfähigkeit erhoben, so lassen die nun angekündigten Blockaden aus Berlin, Warschau, Rom und anderen europäischen Hauptstädten darauf schließen, dass Europa wie so oft auf der Stelle tritt. Dabei gleicht sich die Problematik der Umsetzung europäischer Beschlüsse stets von Neuem: Sobald nationale Interessen berührt werden, ruft die Regierung des vermeintlich leidtragenden Mitgliedstaates zum Protest gegen den Ausverkauf des Landes auf. Was bislang für Agrar- oder Strukturpolitik als sicher galt, scheint nun auch zum vorherrschenden Prinzip der Klimapolitik zu werden. Europäische Regelungen bleiben der kleinste gemeinsame Nenner einer immer größer werdenden Europäischen Union.
Europa wird seine internationalen Verpflichtungen im Rahmen des Kyoto-Protokolls für den Zeitraum 2008-2012 aller Voraussicht nach nicht erfüllen. Die Ursache hierfür liegt nicht nur in den durch industrielle Prozesse entstehenden Emissionen, sondern findet sich auch in anderen Bereichen, so etwa im Transportsektor. Dieser ist zwar nur für rund ein Viertel der entstehenden Emissionen verantwortlich, kaum ein anderer Klimakiller wächst jedoch so beständig wie der Verkehr. Die Europäische Kommission sah sich im Dezember 2007 daher in der Pflicht, Maßnahmen einzuleiten, die dieser Entwicklung Einhalt gebieten sollten. Nachdem die europäischen Autobauer den Selbstverpflichtungen zur durchschnittlichen Emissionsminderung ihrer Fahrzeugflotte in den vergangenen Jahren nicht nachgekommen waren, erschien dies nur als folgerichtig. Verbindliche 120 Gramm CO2 pro Kilometer als Durchschnittswert der gesamten verkauften Flotte eines Autohersteller bis zum Jahr 2012, so lautete der ursprüngliche Vorschlag der Europäischen Kommission. Der absehbare Widerstand der Automobilindustrie formierte sich rasch. Bundeskanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy trafen sich bereits im Sommer 2008, um in dieser Frage einen Kompromiss „für Europa“ zu finden. Gerade so, als ob dafür das Votum zweier Mitgliedstaaten allein entscheidend sei. Die übrigen 25, von diesem Schritt offensichtlich kaum betroffen, sollten sich anschließend dem Beschluss fügen, so der Plan. Die Einigung auf dem deutsch-französischen Gipfel im bayerischen Straubing zielte zunächst darauf ab, sich gegen die Pläne der Kommission zu wehren. Konkrete Vorschläge sollten zu einem späteren Zeitpunkt präsentiert werden.
Kurz vor Beginn der mit symbolischem Wert bedachten Klimaverhandlungen in Poznan, schien der Zeitpunkt gekommen, eigene Vorschläge zu präsentieren. Um eine Schwächung der, durch Finanzkrise und Missmanagement in der Wahrnehmung der Kundenwünsche schwer geschädigte europäischen Autoindustrie zu verhindern, sollen die Regelungen für strengere Emissionswerte auf 2015 aufgeschoben werden. Um den Schein nach außen hin zu wahren, wurde ein „Phase-in“-Mechanismus für die Jahre 2012-2015 ins Leben gerufen, dessen Anforderungen die Autohersteller allerdings bereits heute erfüllen. Im gleichen Zuge wurden die Strafzahlungen für ein Verfehlen der Normen deutlich reduziert. Aus den Fehlern der Vergangenheit hatten Merkel und Sarkozy gelernt und so für diese Entscheidung auch die Regierungschefs Großbritanniens und Italiens gewonnen – immerhin ein Fortschritt im Bewusstsein, dass eine EU-Verordnung entwickelt werden sollte.
Während die Unstimmigkeiten in der Frage zukünftiger Emissionsregelungen für Fahrzeuge im Gewirr der aufkochenden Debatten beinahe untergingen, erhielt ein anderer Sektor weit mehr Aufmerksamkeit: Die Energiewirtschaft. Kohle gehört noch immer zu den meist genutzten Primärenergieträgern in Europa. Rund 40 Prozent des weltweit erzeugten Stroms wird durch ihre Verbrennung erzeugt. In Europa immerhin knapp 30 Prozent. Dass Braun- und Steinkohle die Energieträger mit den vergleichsweise höchsten Emissionswerten sind, darf mittlerweile zur Allgemeinbildung gezählt werden. Dass der Weg einer Energiewende also nicht daran vorbeiführen kann, sich von diesem Rohstoff des 19. und 20. Jahrhunderts zu lösen, scheint sich demgegenüber noch nicht in den Köpfen durchgesetzt zu haben. Zumindest nicht im Lagezentrum der „Klimarebellen“ – der polnischen Hauptstadt Warschau.
Zum wichtigsten Schlachtfeld hat sich im Laufe der Verhandlungen die Versteigerung der Emissionszertifikate für den Stromsektor entwickelt. Im Rahmen ihres Klima-Energie-Pakets vom Januar 2008 hatte die Europäische Kommission vorgeschlagen, dass ab dem Jahr 2013 alle Verschmutzungsrechte im Stromsektor vollständig auf entsprechenden Märkten erworben werden müssen. Dies galt bis dahin auch als „common sense“ unter den Mitgliedstaaten. Die Ursache für diese ursprünglich weitgehend einmütige Entscheidung beruht auf zwei Tatsachen: Zum einen ist der Stromsektor keinem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, kann also trotz vermeintlich kostspieliger Klimapolitik im Gegensatz zu anderen Produkten nicht in großem Umfang günstiger aus dem Ausland importiert werden. Zum anderen haben die Energieversorgungsunternehmen in der Vergangenheit bewiesen, dass sie eher dazu neigen, fiktive „Klimakosten“ an die Verbraucher weiter zu geben. Diese so genannten „Windfall-Profits“ kosteten die Unternehmen nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern überzeugten die meisten Politiker auch davon, dass es wohl besser wäre, die Einnahmen aus dem Emissionshandel selbst zu verwalten, statt sie von Energieversorgern an deren Aktionäre verteilen zu lassen. Auf diese Weise sollten die rund 30 Prozent der europaweiten Emissionen, die durch die Stromerzeugung entstehen, künftig von einem wirksamen Preismechanismus gedrosselt werden. So weit so gut.
Scheinbar erkannten die polnischen Behörden erst zu spät, dass rund 90 Prozent ihrer Stromerzeugung auf der Verbrennung von Kohle basiert. Die Strategie schien nun klar: Der polnische Verbraucher musste in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden, um die vermeintlich „unerträgliche“ Situation Polens in dieser Frage zu untermauern. Eine europaweit bekannte Beratungsagentur wurde mit der Untersuchung des Problems beauftragt und kam umgehend zum richtigen Ergebnis: 60 Prozent Mehrkosten entstünden durch die volle Auktionierung im Stromsektor. Der Beleg für die eigene Berufung als ‚Jeanne d’Arc des emissionshandelsgeschädigten Bürgers war also erbracht. Kaum wahrgenommen wurde jedoch, dass diese Rechnung nicht den realen Gegebenheiten einer bereits etablierten Klimapolitik entspricht, die zukünftigen Rahmenbedingungen für den Einsatz erneuerbarer Energieträger außen vor lässt und dem ungebremsten Ausbau der Kohlekraftwerksparks in China damit eine Absolution erteilt.
Während also der Kampf um neue Regelungen für den Verkehrs- und den Stromsektor weitergeht, scheint die drohende Gefahr des Emissionshandels im Bereich der Industrie schon bezwungen. Nicht einmal die Europäische Kommission hatte es gewagt, eine volle Auktionierung der Verschmutzungsrechte für Stahl-, Papier- oder Zementhersteller oder andere emissionslastige Industriesektoren zu fordern. Stattdessen wurde vorgeschlagen, den betroffenen Industrien einen langsamen Einstieg bis 2020 zu ermöglichen, um sie gegenüber der globalen Konkurrenz nicht zu schädigen. Welche Sektoren in den Genuss dieser Regelungen kommen sollten, sei Verhandlungssache und werde dann finalisiert, wenn die Grundzüge für das Emissionshandelssystem ab 2013 beschlossen seien. Nicht so in Zeiten globaler Tumulte auf den Finanzmärkten und deren Folgen für die europäische Wirtschaft.
Italien preschte in Gesinnungspartnerschaft mit den mittel- und osteuropäischen Staaten um Polen voran. Klimaschutz dürfe nichts kosten, sonst werde Italien den Vorhaben der Kommission nicht zustimmen, so der O-Ton der italienischen Regierung. Wer nun dachte, dass dies nichts weiter, als einen kurzfristigen Meinungsumschwung des wankelmütigen Ministerpräsidenten Berlusconi darstellen würde, hatte sich geirrt. Der italienische Vorschlag wirkte vielmehr als Katalysator für andere Regierungschefs, die plötzlich erkannten, dass eine ambitionierte Klimapolitik Kosten für ihre Wirtschaft verursachen könnte. Wiederum war es die deutsche Kanzlerin, die auf einem Treffen mit dem italienischen Ministerpräsidenten erklärte dass zwar an den Klimaschutzzielen festzuhalten sei, dabei jedoch nicht zu viel Druck auf die Wirtschaft ausgeübt werden dürfe. Auch bei der Industrie könnte die Lösung also in einer freien Zuteilung der Emissionszertifikate liegen: Ein konsensfähiger Kompromiss würde folglich jedem Mitgliedstaat zugestehen, einen favorisierten Industriezweig zu benennen, der dann im Einklang mit den anderen Regierungschefs europaweit vom Emissionshandel auszunehmen wäre. Ein Todesurteil für die grundlegende Idee des Emissionshandels.
Ob Verordnungen für PKW-Emissionen verzögert, Verschmutzungsrechte im Stromsektor frei zugeteilt oder Industriesektoren vom Emissionshandel ausgenommen werden – all dies beeinflußt die Entwicklung des Weltklimas nur marginal. Die Prozesse deuten jedoch auf eine Reihe anderer, in ihrer Folgewirkung mitunter schwerwiegenderer Probleme hin. Dazu gehören die Handlungsfähigkeit Europas, das entstehende Glaubwürdigkeitsdefizit und der Verlust der Vorbildfunktion für die Entwicklungs- und Schwellenländer.
Glaubt man einer kürzlich veröffentlichten europaweiten Umfrage, findet sich der Klimawandel auf einer Spitzenposition der europäischen Sorgenskala. Da bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass Europa sich um die Belange seiner Bürger kümmere, zeigt die derzeitige Entwicklung, dass dies auf den Bereich der Klimapolitik scheinbar nicht zutrifft. Auch mit Blick auf die beginnenden Verhandlungen in Poznan wiegt diese Entwicklung umso schwerer.
Als Ironie der Geschichte darf mit Sicherheit verbucht werden, dass in dieser schwierigen Phase ausgerechnet der designierte amerikanische Präsident Obama das Banner des Klimaschutzes hoch hält. Trotz der bereits einsetzenden Wirtschaftskrise erklärte er die Klimapolitik zu einer der Prioritäten seiner Amtsperiode. Gleichzeitig ging sein Appell an die Staaten der Welt, dass Amerika für diesen Schritt Partner benötige. In Europa dürfte dieses Angebot derzeit jedoch auf taube Ohren stoßen.