#onezerosociety

Eine Geschichte aus zwei Städten

Ein an kommunikativen Exzess, an Skandalisierung und Eskalation gewöhntes System verbraucht seine Ressourcen zu schnell, um sich von der Verausgabung zu erholen. Es wird repetitiv, wiederholt also in unproduktiven Schleifen, dafür unaufhörlich, die immer gleiche Struktur. Es stürzt sich selbst hinterher und produziert, in einer paradoxen Bewegung, mit jedem Fall die nächste Höhe, von der es dann den nächsten Sturz vollzieht.

von , 27.11.20

Die Gestalt der öffentlichen Debatte hat sich in jüngster Zeit stark verändert. Die Töne sind schriller geworden und Eskalation scheint der Normalfall zu sein. Argumente und Fakten stehen immer öfter Meinungen gegenüber, die sich selbst für die eigentliche Wahrheit halten. Wir haben es mit der Dichotomie zweier Realitäten zu tun. 

Etwas ist ins Ungleichgewicht geraten. Es ist unübersehbar, dass der Garant der modernen Gesellschaft, der öffentliche Diskurs, eine turbulente Form angenommen hat. Er lässt sich nicht mehr, wie es sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Freud-Neffe Edward Bernays vorgestellt hat, durch gezielte Einsätze von Propaganda von oben steuern. Ebenso wenig nimmt er die Form an, die ihm fortschrittsgeneigte Philosophen zusprechen: die Form eines mehr oder weniger zivilisierten Austauschs, in dem das bessere Argument sich durchsetzt. Die Öffentlichkeit, als größte Errungenschaft des gegen staatliche Zensur rebellierenden Bürgertums, zeigt stattdessen Symptome der Erschöpfung. Wie in einem System, dessen Ordnung durch immer mehr Rückkopplungen zunehmend in Unordnung gerät, resultieren die Diskursbewegungen in immer neuen Störungssignalen. 

Ein an kommunikativen Exzess, an Skandalisierung und Eskalation gewöhntes System verbraucht seine Ressourcen zu schnell, um sich von der Verausgabung zu erholen. Es wird repetitiv, wiederholt also in unproduktiven Schleifen, dafür unaufhörlich, die immer gleiche Struktur. Es stürzt sich selbst hinterher und produziert, in einer paradoxen Bewegung, mit jedem Fall die nächste Höhe, von der es dann den nächsten Sturz vollzieht. Der öffentliche Diskurs, von Beginn an in einem eminenten Sinn reflexiv, registriert seine Eigenbewegungen natürlich auch und gibt ihnen Bezeichnungen, die selbst zum Anlass für den nächsten Aufreger werden können. Da wird »die nächste Sau durch das Dorf gejagt«, es zeigen sich »Fieber-« und »Erregungskurven«, also Zustände erhöhter Temperatur und Agitation. Anzeichen einer »Boulevardisierung« hochkultureller Erzeugnisse, begleitet von Forderungen ihrer Produzenten, Redakteure und Kuratoren, den Widerstand aufzugeben und sich dem Markt der Meinungen zu unterwerfen, sind weitere Symptome. 

Zu dieser Forderung gehört auch die ebenfalls inflationär wiederholte Markierung, selbst ein Ausdruck elitären Revierverhaltens, die »Debatte« auszuhalten und nicht vor dem »Meinungsaustausch« einzuknicken. Der nützliche Euphemismus begleitet die Selbstinszenierung vor allem derjenigen, die vom Strukturtaumel der Öffentlichkeit profitieren. Doch all das (dieser Text ist selbst ein Beispiel dafür) wird in den Diskurs zurückgespeist. Die normalisierte Krisendiagnose ständiger Ausflaggung von Gefahr, Niedergang oder drohender Apokalypse kann selbst als Ausdruck einer »Krise« im eminenten, aber kühleren Sinn verstanden werden: die vielfältige und verschiedensten Narrativen angepasste Wahrnehmung, dass etwas nicht in Ordnung ist – und die Machtlosigkeit, daran etwas zu ändern, die sich gerade darin ausdrückt, dass die Krise immer nur festgestellt, nicht aber begriffen werden kann.

Ein Fehler dieser fortlaufenden Krisenfeststellungen und Gegenwartsdiagnosen liegt freilich darin, dass sie selbst noch den Regeln des Diskurses gehorchen, dessen Krise sie feststellen und dem sie die Krise darlegen wollen. Ein typisches Missverhältnis in reflexiven Systemen, das zu all den genannten Symptomen führt, ist der Hang, es sich in der Beschreibung zu einfach zu machen. Die Inflation von Narrativen, die nacheinander die Krise undurchsichtigen oder unkontrollierbaren Akteuren zuschreiben, zeigt die Tendenz zur monokausalen Erklärung. Anonyme überstaatliche Akteure, Hintermänner in Hinterzimmern, der Topos ›mächtigster Mann der Welt‹, kulturelle Programmierung, unüberwindbare ideologische Überzeugungen, strukturell eingebrannte Privilegien – all das vermischt sich zu einer Erzählung, die sich selbst unaufhörlich wiederholt. 

Sie bindet dabei, auch als Selbstlegitimation, Erzählungen gleicher Struktur ein und wird zu einem so undurchsichtigen wie chaotischen Gemisch aus antisemitischer Verschwörungsfabel und Live-Action-Rollenspiel. Wenn der Diskurs aus den Fugen gerät, dann organisiert er sich selbst. Weil er aber immer noch den Regeln folgt, die ihm der Massengeschmack diktiert, gerät ihm die – diese Selbstorganisation legitimierende – Selbstbeschreibung stets zu kurzschlüssig. Um das Begehren nach schnell verfügbaren und einfach verstehbaren Erklärungen zu befriedigen, wird aus der Selbstorganisation ein Produktionsbetrieb. Die stets zu kurz greifenden Erzählungen erfordern immer neue, die sie ablösen, ergänzen, scheinbar vervollständigen. Im Inneren solcher Produktionsbetriebe erzeugt man einen Überschuss an Sinn, der sich heillos selbst zu ordnen versucht. 

Die Unordnung im System nimmt in dem Maße zu, wie die Isolation des Systems vom Korrektiv seiner Umwelt abnimmt. Doch wodurch verliert der Diskurs eigentlich diese Orientierung? Eine mögliche Antwort liegt darin, die Abgeschlossenheit des Systems in einen Zusammenhang mit der zunehmenden Virtualisierung des Diskurses zu setzen. Mit anderen Worten: Eine Ursache der zunehmenden Unordnung könnte darin liegen, dass der analoge und der digitale Diskurs in einem gewissen Missverhältnis zueinander stehen. Nein, liebe Leser, das bedeutet nicht gleich: »The internet, stupid!«. Das Internet ist nicht alleine schuld an irgendetwas. Aber es stellt Strukturen zur Verfügung, die das etablierte System eines öffentlichen Diskurses auf entscheidende Weise verändern. 

30 Jahre ist es her, dass das Internet als kommerzielles Medium eingeführt wurde. Vor gerade einmal 15 Jahren läuteten Facebook, YouTube und Twitter das Zeitalter der »sozialen Medien« im großen Stil ein. Alle drei Plattformen bestehen in der Grundidee darauf, dass sich durchsetzt, was den meisten gefällt. Das führt, auf allen drei Plattformen, zu einer systematischen Eigendynamik: Was die User in das System eingeben, kommt in Form des Feedbacks anderer User zu ihnen zurück. Das wiederum beeinflusst das Handeln der User, die sich nun mehrheitlich dem anpassen, was den meisten gefällt. Sogenannte »Influencer« agieren in diesem System wie Investoren, die versuchen, den auf und ab wogenden Massengeschmack durch die genau passenden Eingaben zu beeinflussen. Natürlich fließt dabei Geld, vor allem durch das Versprechen, mit wachsendem Einfluss auch ein immer größeres Werbepublikum zu erreichen. Aber die eigentliche Währung dieses Systems ist Applaus und Aufmerksamkeit. 

Dieses rein kommerzielle Schema, eine Mischung aus Stand-Up-Bühne, Aktionärsversammlung und ewiger Gerüchteküche erzeugt eine ganz eigene Welt aus Referenzen, die in diesem System einzig auf dieses System Bezug nehmen. Wie jeder öffentliche Diskurs kommentiert auch dieser sich selbst und besitzt eine seiner Grundstruktur – Applaus und Aufmerksamkeit – gemäße Eigendynamik. Memes, Trolle, Fake News – all das orientiert sich an der Grundunterscheidung von realer und virtueller Welt. Die Herstellung von Memes nutzt die Applausordnung des Systems, um Aufmerksamkeitsspitzen zu erzeugen und sie ist exzessiv, weil der reale Einsatz gleich Null ist. Trolle durchbrechen Versuche, im virtuellen Raum Regeln zu etablieren, die er selbst nicht vorgibt. Ihr Spiel ist das einer absoluten Freiheit, die sich ihre Absolutheit in immer neuen Versionen der Subversion vermeintlicher oder wirklicher Restriktionen zu beweisen versucht und gerade dadurch Abhängigkeit verrät. Fake News sind ein Ergebnis der spezifischen Trennung und Verbindung von Realität und Virtualität: als literarische Gattung kombinieren sie Realität und Fiktion und erstellen so eine künstliche Realität, die sich durchsetzen kann, weil eine an Applausordnungen und Aufmerksamkeit orientierte Ordnung eben keine Selbstprüfungsroutinen durchsetzbar macht. Diese gelten als kompliziert, umwegig, nutzlos und entsprechend wirkungslos – wiederum gerade bei denen, die davon profitieren, Ordnungen zu unterlaufen.

Übersetzt man diese virtuellen Verhältnisse in politische Zusammenhänge, wird das Virtuelle im Wortsinn virulent: es greift seinen eigenen Wirt an. Politik, die sich ausschließlich an der Masse orientiert, heißt im antiken Griechenland Demagogie, wörtlich: die Kunst, die Masse des Volkes zu (ver)führen. Heutzutage spricht man, in rhetorisch günstiger Vagheit, vielleicht eher von Populismus. Doch es braucht keine diffizile Phänomenologie, wenn man die Strukturen nebeneinander hält: Auf der einen Seite findet sich das denkbar einfache Schema einer Menge, die von einem Agitator, einem politischen »Influencer«, aufgestachelt wird. Auf der anderen Seite eine durch so praktische wie implizite Diskursregeln etablierte Öffentlichkeit, die – entgegen ihres Versprechens an jeden Bürger – sich doch in elitären Hierarchisierungen durchsetzt. Auf der einen Seite die einfache Gegenüberstellung von »Volk« und »Staat«, auf der anderen Seite ihre komplexe, wenig verständliche Vermittlung durch Ebenen, Teilungen, Strukturen in einer republikanischen Demokratie. 

Die Idee ihrer Staatsform liegt darin begründet, die radikal-direkte Demokratie, in der sich die Masse ein Sprachrohr wählt, das dann den Willen der Meisten dem Willen aller diktiert, zu zügeln. Das Repräsentationssystem der Parteien, die Teilung der Gewalten, die Ebenen der Regierung, auch die Vielzahl ihrer Regenten, die komplexe Rolle der Opposition und die vielfältigen Selbstkontrollsysteme dienen allesamt auch dazu, Machtkonzentrationen zu verhindern, die sich durch radikal-demokratische Strukturen ergeben. Wer rollt hier mit den Augen? Wer wünscht sich hier Einfachheit, Verständlichkeit, geradewegs: Durchgriff durch den undurchsichtigen und deswegen misstrauisch beäugten Dschungel der Konzepte und Organisation? Wo die Vermittlung des Nutzens dieser systematischen Ordnung und ihrer Aufrechterhaltung durch doppelte Selbstkontrolle – bezogen auf sich und ihre Umwelten –, wo das Verstehen und Begreifen dieser Ordnung scheitern, dort scheitert auch ihr eigentlicher Reproduktionsmechanismus. Denn es sind die Bürger selbst, die ihn am Laufen halten. 

Verbringen sie jedoch zu viel Zeit im Internet, wird dessen Innenraum, der um ein Vielfaches größer und aufregender ist als die oft schnöde oder aber undurchsichtige Realität, zu einem Realitätsersatz. Das System schließt sich. Die Selbstkontrolle des öffentlichen Diskurses ist ausgesetzt, denn im Internet gelten die Regeln der Realität nicht. Doch dieser Eskapismus ist selbst ein Schein. Denn das, was im Netz Aufmerksamkeit bekommt, das wird zur Nachricht in der Realität, gerade weil die Aufmerksamkeit der Bürger, die zugleich User sind, ein begrenztes Gut ist. Wollen Medien, wie sie immer versichern, die »öffentliche Meinung abbilden«, geraten sie gerade dadurch selbst in einen Sog, der sie dazu zwingt, sich zugunsten der im Netz heimischen Medien zu entwerten. Gelöst von der pragmatischen Selbstkontrolle realer Politik schießen politische Phantasien ins Kraut, die an anarchistische Bewegungen des 19. Jahrhunderts erinnern. Das Internet hat, aus politischer Sicht, den analogen öffentlichen Diskurs einer republikanisch organisierten Demokratie, die sich über Massenmedien über sich selbst verständigt, mit einer radikal direktdemokratischen Struktur kurzgeschlossen, die ihre Möglichkeiten testet. Als Ort der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit ist das Internet freilich keinem Schicksal unterworfen. Das heißt: Es könnte auch anders sein. Doch solange vor allem der Applaus seine Operationen regiert, sollten wir über seinen Donner beunruhigt bleiben.  



Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Reihe #onezerosociety. Darin gehen wir in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut den Formen, Möglichkeiten und Grenzen einer bestehenden und kommenden »digitalen Zivilgesellschaft« nach.


Weitere Beiträge in der Reihe #onezerosociety:

Johanna Seibt: »Mit Robotern leben lernen«
Robert Feustel: »Das Zero-One-Game: Politik als Spiel«
Nicolas Friederici: »Towards a fair European platform economy«
Natascha Strobl: »Stochastischer Terrorismus«

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