#Abschuss

Ein russisches Lockerbie?

von , 24.7.14

Auch die US-Geheimdienste wissen offenbar nichts Genaues (ihre Hauptnachrichtenquellen: Twitter und Facebook!). Trotzdem ist Russland schuld. Das schreiben – in immer neuen Varianten – die Auslandsexperten vieler Westmedien. Wir haben es, so die FAZ von gestern, mit einem „russischen Lockerbie“ zu tun. Russland, das ist die eindeutige Absicht, soll zum neuen Paria der Weltgemeinschaft herunter geschrieben werden. Putin ist der neue Gaddafi.

Wie dumm, wie klug ist ein Vergleich mit Lockerbie?

Über der schottischen Kleinstadt Lockerbie war am 21. Dezember 1988 ein Sprengstoffanschlag auf eine Boeing 747 der Fluggesellschaft PanAm verübt worden. Die Maschine war auf dem Flug von London nach New York. Der Anschlag forderte 270 Menschenleben. Bis heute ist nicht zweifelsfrei geklärt, wer den Anschlag verübt hat. Verurteilt wurde ein libyscher Geheimdienstoffizier, der den Inhalt des Koffers (dem der Sprengstoff zugeordnet wurde) in Malta gekauft haben soll. Später zahlte Libyen 2,5 Milliarden US-Dollar an die Hinterbliebenen des Anschlags, um endlich den Status als „Schurkenstaat“ und die internationalen Wirtschafts-Sanktionen loszuwerden. Nach dem Aufstand in Libyen im Februar 2011 wurde Staatschef Muammar al-Gaddafi von einem ehemaligen Getreuen (dem Justizminister) als Auftraggeber des Verbrechens genannt.

Lockerbie war ein gezieltes Attentat.

Der Anschlag – so die Analysten – soll die Rache Libyens gewesen sein, für die Bombardierung von Tripolis und Bengasi durch US-Kampfflugzeuge 1986. Die Bombardierung der libyschen Städte soll die Rache der USA für den Anschlag auf die Berliner Diskothek La Belle gewesen sein, wo viele US-Soldaten verkehrten. Und der Anschlag auf die Diskothek La Belle soll wiederum die Rache für die Versenkung zweier libyscher Kriegsschiffe durch das US-Militär gewesen sein. Usw. usf. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Umstände und Motive des Lockerbie-Attentats haben also wenig gemein mit dem Abschuss der Boeing über der Ostukraine.

 

Zweierlei Maß für Verursacher

Auch der Iran und eine radikale Palästinensergruppe waren zeitweise in den Verdacht geraten, das Lockerbie-Attentat verschuldet zu haben. Der Iran, hieß es, habe Vergeltung geübt für den (versehentlichen) Abschuss einer iranischen Passagiermaschine durch ein US-Kriegsschiff am 3. Juli 1988. Dabei kamen 290 Menschen ums Leben. Trotz hochmoderner Erfassungs-Systeme auf dem US-Kreuzer Vincennes wurde das Passagierflugzeug (ein Airbus A300) mit einem Kampfflugzeug des Typs F 14 Tomkat verwechselt. Der damalige US-Vizepräsident George H.W. Bush verteidigte den Fehlschuss seiner Spezialisten als angemessenes Verhalten in einer Konfliktsituation und verweigerte eine Entschuldigung. Die westlichen Medien berichteten meist neutral und forderten keine empfindlichen Sanktionen gegen die USA. Die USA wurden auch nicht zum Schurkenstaat erklärt.

Acht Jahre später zahlten die USA eine Entschädigung von 61,8 Millionen US-Dollar an die Hinterbliebenen der Opfer, was in etwa 2,5 Prozent der libyschen Zahlung an die Angehörigen des Lockerbie-Anschlags entspricht. Der (irrtümliche) Abschuss der iranischen Passagiermaschine ist wohl eher mit dem Abschuss der malaysischen Boeing zu vergleichen, als dieser mit dem Attentat von Lockerbie.

 

Fahrlässigkeiten

Einige Wochen vor dem Lockerbie-Anschlag war die US-Botschaft in Helsinki telefonisch vorgewarnt worden. Mitglieder einer Gruppe Abu Nidal würden innerhalb der nächsten zwei Wochen einen Anschlag auf eine PanAm-Maschine auf der Route Frankfurt-New York verüben. Die Warnung ging über die US-Botschaften an die Fluggesellschaften. Daraufhin buchten einige Passagiere ihren Flug um. Für PanAm-Flüge wurden die Sicherheits-Vorkehrungen erhöht, aber das Sicherheitsteam in Frankfurt hatte offenbar nicht alles mitbekommen.

Auch die Ukraine war durch den Abschuss einiger Militärmaschinen durch die ukrainischen Separatisten bereits gewarnt. Die Regierung in Kiew hat es jedoch unterlassen, den Luftraum über der Ostukraine für Zivilflugzeuge zu sperren. In beiden Fällen könnte man von einer gewissen Fahrlässigkeit sprechen, aber hinterher ist man natürlich klüger.

 

Die Waffenlieferanten

Die ukrainischen Separatisten, heißt es weiter, waren zu doof, das komplizierte russische Flugabwehr-System richtig zu bedienen (offenbar waren aber auch die US-Navy-Spezialisten 1988 zu doof). Daran schließt sich die empörte Frage an: Wieso gibt man dahergelaufenen Freischärlern, die für schwere Mordwaffen nicht ausgebildet sind, solche Instrumente in die Hand? Ist das nicht verantwortungslos und muss mit harten Sanktionen bestraft werden? Schuldig sind demnach die Waffenlieferanten. In diesem Fall Russland. Russland soll ja die Waffen geliefert haben, mit denen das Passagierflugzeug abgeschossen wurde.

Mit diesem Argument kann man freilich sämtliche Rüstungsexporte in Spannungsgebiete dieser Welt ächten und verbieten. Und genau das sollte man jetzt tun. Es träfe neben den USA und Westeuropa Russland, China und Indien besonders hart, denn aus diesen Staaten kommen die meisten Waffen. Vielleicht sollte sich die UNO damit befassen. Das wäre vernünftiger als weiter Öl ins Feuer zu gießen.

 

P.S. Kleiner unfreiwillig komischer Seitenaspekt der laufenden Gehirnwäsche: Winsener Anzeiger von heute, Ressort “Politik und Hintergrund”, Schlagzeile: “Böse Erinnerungen an Lockerbie 1988″. Der Text beginnt so: “Die Bombenexplosion an Bord des PanAm-Fluges 103 von London nach New York weist große Parallelen zum Abschuss der Passagiermaschine in der Ostukraine auf. Die Trümmer beider Flugzeuge schlugen auf Land auf…“

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.