von Daniel Leisegang, 11.6.14
Am 6. Juni liegen die ersten Enthüllungen der NSA-Totalüberwachung genau ein Jahr zurück. Seitdem verging kaum eine Woche ohne neue Meldungen über die Ausspähaktionen westlicher Geheimdienste. Inzwischen wissen wir, dass allen voran der US-amerikanische Militärgeheimdienst NSA und das britische GCHQ weltweit nahezu die gesamte elektronische Kommunikation ausspionieren. Nie zuvor in der Geschichte hat es einen derart umfangreichen und systematischen Angriff auf die Privatsphäre gegeben.
Das eigentlich Überraschende aber ist, dass dieser Angriff bislang keine nennenswerten politischen Folgen gezeitigt hat – weder in den USA, noch in der EU. Und auch die Bundesregierung hat von Anfang an eine Strategie des Verschleppens betrieben. Daran hat sich bis heute, trotz eines Wechsels des „kleineren“ Koalitionspartners, nichts geändert.
Damit ist der NSA-Skandal längst auch Ausdruck einer politischen Bankrotterklärung der Regierung Merkel – und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens hat diese gezielt die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste blockiert; infolgedessen hat sie, zweitens, ihre eigene politische Legitimität eingebüßt, und drittens hat die Bundesregierung der demokratischen Öffentlichkeit nachhaltigen Schaden zugefügt.
Die langfristigen Folgen sind dramatisch: Die NSA-Affäre untergräbt nämlich nicht nur das ohnehin geringe Vertrauen in die Nachrichtendienste und in den Schutz unserer Privatsphäre, sondern längst auch in die demokratischen Prozesse und Institutionen.
Die Entmachtung des Parlaments
Bereits die schwarz-gelbe Vorgängerregierung behinderte ganz gezielt die Arbeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKG).[1] Beispielsweise erhielt das PKG von der Bundesregierung zahlreiche Akten mit nahezu vollständig geschwärztem Inhalt – die obendrein so bereits zuvor im Internet abrufbar waren.
Derlei systematische Aufklärungssabotage verhindert jede effektive Kontrolle der Geheimdienste und hält zudem die Mitglieder des Kontrollgremiums zum Narren: Wiederholt wiesen diese darauf hin, von neuen NSA-Skandalen nicht von den Geheimdienstchefs oder der Bundesregierung erfahren zu haben, sondern aus den Medien.[2]
Seit Anfang April tagt außerdem ein NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Er soll das Ausmaß der Überwachung durch ausländische Dienste sowie mögliche Vorkehrungen und Konsequenzen aus der NSA-Affäre untersuchen.
Doch von Aufklärung ist auch hier bislang nichts zu sehen. Zum einen kündigte die Bundesregierung an, dem Ausschuss ebenfalls nur eingeschränkten Zugang zu den Akten zu gewähren, um den „Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung“ zu schützen. Dazu zählen insbesondere Unterlagen über die Kooperationen zwischen den deutschen, amerikanischen und britischen Geheimdiensten.
Zum anderen lähmte ein wochenlanger Streit über die mögliche Anhörung Edward Snowdens die Ausschussarbeit. Eine Einladung des Whistleblowers nach Berlin lehnte die Große Koalition von Beginn an strikt ab. Sie befürchtet nicht nur Schaden für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, sondern auch eine „Beeinträchtigung der Kooperation mit US-Sicherheitsbehörden, die für die Sicherheit Deutschlands von grundlegender Bedeutung ist.“[3]
Kurzum: Geheimdienstarbeit geht vor Aufklärung, Staatswohl geht vor Gemeinwohl.
Die US-Regierung unterstützt diese Blockadehaltung: Sie droht den Ausschussmitgliedern indirekt mit Strafverfolgung, sollten diese Snowden anhören. Die Abgeordneten könnten künftig an einer Einreise in die USA gehindert und – je nach Faktenlage – der Verschwörung angeklagt werden.[4]
Die Regierungen in Berlin wie auch in Washington sehen somit offenbar nicht in den Spähexzessen der Geheimdienste das Problem, sondern in deren Aufklärung. Zugleich degradieren sie den Bundestag zum Zaungast der Aufklärungsarbeit. Damit bleiben auch die Bürgerinnen und Bürger weiter im Unklaren, inwieweit sie tatsächlich von der Ausspähung durch westliche Geheimdienste betroffen sind – jedenfalls so lange, bis es weitere Enthüllungen in den Medien gibt.
Der Verlust politischer Legitimität
Dies führt unmittelbar zur zweiten Pleite der Regierung Merkel: dem Verlust politischer Legitimität.
Die Bundeskanzlerin und sämtliche ihrer Minister haben in ihrem Amtseid geschworen, „Schaden vom deutschen Volk“ abzuwenden und das Grundgesetz zu verteidigen. Demnach wäre es ihre Pflicht, die Bevölkerung vor den Spähangriffen der NSA zu schützen.
Was aber stattdessen das Regierungshandeln bestimmt, legte im vergangenen Sommer der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich schlagartig offen: Er rechtfertigte die Überwachungen mit einem „Supergrundrecht“ auf Sicherheit und stellte dieses damit kurzerhand über den Artikel 1 GG. Dieser lautet bekanntlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Merkel-Regierung folgt dagegen der Direktive: „Die Überwachungsinstrumente der NSA sind unantastbar.“
Diese Richtlinie hat unter Angela Merkel offenbar Kontinuität: So soll ihre erste Große Koalition den US-Diensten sogar das Ausspähen deutscher Bürger erleichtert haben. Im Jahr 2009 änderten die damaligen Regierungsfraktionen auf Druck und nach Maßgabe der NSA das G 10-Gesetz.[5] Dieses regelt, inwieweit deutsche Nachrichtendienste in das durch Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis eingreifen dürfen.
Damals wurde unter anderem die Befugnis zur Übermittlung der daraus gewonnenen Daten an ausländische Stellen eingefügt, vermutlich mit dem Ziel, eine Ausspähung in Deutschland durch die NSA zu erleichtern.
Sollte diese Anschuldigung stimmen, hätte die Regierung Merkel der NSA direkte Amtshilfe geleistet. Bis heute hat sie sich jedoch nicht zu den Behauptungen Snowdens geäußert.
Auch beim jüngsten Besuch Merkels in den USA Mitte Mai kam der NSA-Skandal nur am Rande zur Sprache. Kurz zuvor hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière noch betont, als „überzeugter Transatlantiker“ sehe er keine Alternative zur Zusammenarbeit der Nachrichtendienste der USA, Großbritanniens und Deutschlands: „Sie liegt in unserem nationalen Interesse“, so de Maizière – offenbar auch dann, wenn die Grundrechte von den „Partnern“ mit Füßen getreten werden.
Der Angriff auf die Privatsphäre – und die politische Öffentlichkeit
Die Folgen für die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger sind dramatisch. Der private, von staatlichem Zugriff und Zensur geschützte Kommunikationsraum bildet in einer Demokratie im Idealfall den Ausgangspunkt öffentlicher Debatten.[6] Dennoch versucht die Bundesregierung seit längerem, in diesen einzudringen, unter anderem, indem sie die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung plant.
Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht schon im März 2010 entschieden, dass die anlasslose, sechsmonatige Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten mit Art. 10 GG unvereinbar ist. Im April d.J. kam auch der Europäische Gerichtshof zu dem Urteil, dass die Richtlinie der EU-Kommission zur Vorratsdatenspeicherung im Widerspruch zum EU-Recht stehe und „ein besonders schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten“ sei.
Ungeachtet dessen hält insbesondere die Union unbeirrt an der Vorratsdatenspeicherung fest – und will dafür ausgerechnet den Hüter des Grundgesetzes schwächen: Aus Unmut über allzu liberale Urteile aus Karlsruhe fordern konservative Unionsabgeordnete um Fraktionschef Volker Kauder (CDU), die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu beschneiden.
Mit anderen Worten: Sie wollen die Gewaltenteilung neu ausrichten – zu Lasten der Judikative und zugunsten der Exekutive.[7]
Der Angriff auf die Grundrechte und die Privatsphäre jedes Einzelnen bedroht auch die politische Öffentlichkeit. Bereits seit längerem befinden sich Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen im Visier der Geheimdienste. Besonders die US-Regierung nutzt abgefangene Kommunikationsdaten, um gezielt gegen missliebige Personen vorzugehen.[8]
So wurde im vergangenen April Maritta Strasser vom Kampagnennetzwerk Campact an der Einreise in die USA gehindert. Sie hatte zuvor im Rahmen einer Kampagne gegen das geplante Freihandelsabkommen mit den USA das Thema Geheimdienste bearbeitet. Bereits Ende September 2013 war Ilija Trojanow die Einreise in die Vereinigten Staaten verweigert worden. Der deutsche Schriftsteller war auf dem Weg zu einem Germanistenkongress und hatte zuvor eine Protestpetition gegen die NSA-Überwachung unterzeichnet.
Diese Beispiele verdeutlichen, wie schmal der Grat zwischen Überwachung und Repression ist. Umso dringlicher ist eine rückhaltlose Aufklärung und die effektive Kontrolle der Geheimdienste. Da aber die parlamentarische Kontrolle blockiert ist und die Judikative von sich aus keine aktive Aufklärung betreiben kann, muss die demokratische Selbstbehauptung unmittelbar aus der Zivilgesellschaft heraus erfolgen.
Die Ratlosigkeit der „Netzgemeinde“
Der Haken ist nur: Bislang ist weder im Netz noch auf der Straße eine nennenswerte Protestbewegung entstanden.
Die Rat- und Orientierungslosigkeit der Netzaktivisten zeigte sich besonders deutlich auf der Konferenz re:publica Anfang Mai in Berlin. Sie gilt als das alljährliche „Klassentreffen“ all jener, die sich seit der ersten Stunde im Netz tummeln. Ein Jahr nach Snowden erschöpften sich die Vorträge – bis auf wenige Ausnahmen – jedoch in nachgereichten Analysen, wohlmeinenden Appellen und der Suche nach „neuen Narrativen“. Konkrete politische Handlungsoptionen sind daraus bislang nicht erwachsen.
Der Grund dafür liegt in der überaus heterogenen und nur in Teilen politisierten Netzgemeinde. Tatsächlich begreift sich die Mehrheit der Internetnutzer in erster Linie als Konsumenten. Darum bildete auch ein skurriler Werbeauftritt David Hasselhoffs das Highlight der diesjährigen re:publica. Und kaum ein Teilnehmer störte sich daran, das ausgerechnet NSA-Kollaborateur Microsoft als einer der Hauptsponsoren der Konferenz auftrat.
Damit spiegelt das Publikum zunächst einmal die gesellschaftliche Realität wider. Gleichzeitig rächt es sich jedoch bitterlich, dass ein Großteil der sogenannten Digital Natives das Netz lange Zeit vor allem als subkulturelle Spielwiese betrachtet hat. Während sie aber auf Twitter noch über „Internetausdrucker“ und „Totholzmedien“ spöttelten, lief das größte Spähprogramm der Menschheitsgeschichte bereits auf Hochtouren.
Die Herausforderungen derneuen Bürgerrechtsbewegung
Die Überwachungsmaschinerie wird nur zu stoppen sein, wenn die Orientierungslosigkeit rasch programmatischem Widerstand weicht. Den organisatorischen Ansatzpunkt für eine neue Bürgerrechtsbewegung bieten unter anderem die „Digitale Gesellschaft“, gewissermaßen das Greenpeace des Netzes, oder die politischen Hacker vom Chaos Computer Club.
Die wichtigsten politischen Forderungen liegen auf der Hand: Die Überwacher selbst müssen streng überwacht und kontrolliert werden. Dafür aber muss die Bundesregierung ihre Blockade der parlamentarischen Kontrollarbeit aufgeben; zugleich müssen die Befugnisse des Bundestages erweitert werden. Schließlich bedarf es internationaler Vereinbarungen, damit auch andere Staaten ihre Massenausspähwaffen abrüsten – allen voran die USA und Großbritannien.
Um diese Ziele zu erreichen, steht die Protestbewegung vor drei Herausforderungen: Erstens muss sie das Ausmaß und die Auswirkungen der Ausspähung greifbar machen. Vielen erscheint die Überwachung durch NSA und Co. noch immer als zu abstrakt und daher als nicht bedrohlich – weder für sich selbst, noch für die Demokratie. Erst wenn das Bewusstsein für die Bedrohung geschaffen ist, wird die Bewegung – zweitens – auch die vorherrschende politische Bequemlichkeit überwinden können.
Fest steht: Mit Likes, Retweets und Online-Petitionen wird die Übermacht der Geheimdienste nicht zu brechen sein. Stattdessen bedarf es konkreter politischer Aktionen – und nicht zuletzt auch Spenden.[9] Beides bildet schließlich die Voraussetzung dafür, um den Protest – drittens – lautstark auf die Straße zu tragen.
Beispiele für vergleichbare politische Mobilisierungen gibt es in der jüngeren Geschichte genug – etwa in der Friedens- oder Anti-Atombewegung. Gelingt es der neuen Bürgerrechtsbewegung, es diesen gleichzutun und die Grundrechte zu verteidigen, hätte sie sowohl der digitalen Sphäre als auch der analogen Demokratie einen überlebenswichtigen Dienst erwiesen.
- [1] Vgl. Daniel Leisegang, Schöne neue Überwachungswelt, in: „Blätter“, 8/2013, S. 5-8.
- [2] Vgl. Reform in homöopathischen Dosen, in: „Der Tagesspiegel“, 14.3.2014.
- [3] Vgl. www.netzpolitik.org, 2.5.2014. Die Bundesrepublik müsste Snowden bei einer Anhörung in Deutschland auch nicht an die USA ausliefern: Vgl. www.zeit.de, 8.5.2014.
- [4] Vgl. Snowden-Vernehmung: US-Schützenhilfe für die Bundesregierung, www.spiegel.de, 1.5.2014.
- [5] So berichtete es Edward Snowden dem EU-Parlament in einer Anhörung am 7.3.2013.
- [6] Vgl. den Beitrag von Glenn Greenwald in dieser Ausgabe.
- [7] Vgl. Ärger über liberale Urteile: CDU will Rechte der Verfassungsrichter beschränken, www.spiegel.de, 6.4.2014.
- [8] Vgl. Snowden: NSA spioniert auch Bürgerrechtler aus, www.dw.de, 8.4.2014.
- [9] Vgl. dazu Sascha Lobos pointierte Rede auf der re:publica, „Zur Lage der Nation“, (www.youtube.com/watch?v=3hbEWOTI5MI) sowie Felix Schwenzels Vortrag „Wie ich lernte, die Überwachung zu lieben“, www.wirres.net, 9.5.2014.
Der Text erschien zuerst in »Blätter« 6/2014, Seite 5-8. Daniel Leisegang bloggt auf Tinbrain.