Ein deutscher Skandal

Die Jenische in Deutschland gibt es zwar, unbestreitbar, aber offiziell als eigenständige Volksgruppe sind sie nicht existent – im Vergleich zur Schweiz und künftig wohl auch im Vergleich zu Österreich. Der Minderheitenbeauftragte der Bundesregierung, der Bundespräsident schweigt.

von , 15.4.22

Nahezu vergessen: Vor 50 Jahren, am 15. April veröffentlichte der Schweizer Beobachter eine Geschichte aus der Feder des großartigen, investigativen Journalisten Hans Caprez. Der deckte auf, dass eine Unternehmung der halbstaatlichen Stiftung Pro Juventute zwischen 1926 und 1972 hunderte Kinder ihren Familien entrissen hatte, um sie in Heimen, auch in Gefängnissen oder in fremden Familien unter zu bringen. Diese Zwangshandlungen gründeten auf rassistischen Annahmen über die auseinander gerissenen Familien. Das waren Familien der Landfahrenden in der Schweiz, überwiegend jenische Familien aber auch einzelne Kinder aus Roma-Familien. In der Stiftung mit ihrem kriminellen Projekt waren die Protagonisten der Auffassung, dass so aus – wie es hieß – minderwertigen Kindern arbeitsame und gesetzestreue Bürgerinnen und Bürger werden könnten.

Es wurden offiziell 619 Fälle gezählt, in denen Kinder, genau genommen, von Staats wegen entführt worden waren. Aus der betroffenen Gruppe der Jenische ist zu hören, dass es tatsächlich mehr Kinder waren. Die Schriftstellerin Mariella Mehr gehörte zu diesen Kindern. Sie landete in vielen Heimen, in psychiatrischen Anstalten und auch in einem Frauengefängnis auf der Grundlage einer Verfügung zur »administrativen Versorgung«, einer Zwangsmaßnahme gegen Menschen, die sich wehrten: Meist ohne Gerichtsurteil. Sie hat später mit anderen zusammen die Radgenossenschaft der Landstraße, die Interessenvertretung der Jenische der Schweiz gegründet. Das alles flog vor 50 Jahren auf. Die Schweizer beendeten den Skandal, indem sie dieses Projekt auflösten. Die Jenische sind mittlerweile anerkannte nationale Minderheit im Alpenland.

Blick auf den Nachbarn: Da dauert der deutsche Skandal an. Die Jenische in Deutschland gibt es zwar, unbestreitbar, aber offiziell als eigenständige Volksgruppe sind sie nicht existent – im Vergleich zur Schweiz und künftig wohl auch im Vergleich zu Österreich. Der Minderheitenbeauftragte der Bundesregierung, Professor Bernd Fabritius, mauert. Der Bundespräsident schweigt zum Thema Jenische. Einzelne Bundestagsabgeordnete wie Marianne Schieder oder Petra Pau sind aktiv. Es sind aber zu wenige.

Zwar heißt es im Ampel-Koalitionsvertrag: »Die Initiative Minority SafePack unterstützen wir proaktiv und setzen sie in Deutschland um. Projekte für den Erhalt und die Entfaltung der Minderheiten, ihrer Sprachen und Kultur bauen wir aus.« Minority SafePack ist eine supranationale Bürgerinitiative, die die Rechte der Minderheiten in Europa stärken und der deren Stimmen größeres Gewicht geben will. Europäisches Parlament und Kommission stehen hinter der Initiative, der fünften dieser Art mit Millionen Befürwortenden.

In der Bundesregierung tut sich freilich nichts. Projekte für den Erhalt und die Entfaltung der jenischen Sprache, deren Kultur? Fehlanzeige. Warum ist das so? Nahezu vergessen?

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