#digitale Wirtschaft

Disruption verkommt zum Unwort

von , 5.8.14

Disruption ist eines dieser Modeworte der digitalen Wirtschaft, das für mich so langsam zu einem Unwort verkommt. Eine disruptive Technologie (engl. disrupt – unterbrechen, zerreißen) ist lt. Wikipedia
 

“eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt. Disruptive Innovationen sind meist am unteren Ende des Marktes und in neuen Märkten zu finden. Die neuen Märkte entstehen für die etablierten Anbieter in der Regel unerwartet und sind für diese, besonders auf Grund ihres zunächst kleinen Volumens oder Kundensegmentes, uninteressant. Sie können im Zeitverlauf ein starkes Wachstum aufweisen und vorhandene Märkte bzw. Produkte und Dienstleistungen komplett oder teilweise verdrängen.”

 
Der Begriff soll lt. Heise zurückgehen auf Prof. Clayton M. Christensen (Harvard Business School) und sein 1995 erschienenes Buch “The Innovators Dilemma”, beziehungsweise auf den Fachartikel “Disruptive Technologies: Catching the Wave“.

Eigentlich kann Disruption nach dieser Erklärung nur dazu dienen, eine Entwicklung zu beschreiben, die bereits eingetreten ist. Seit einiger Zeit zerstören aber Start-ups durch Pressemeldungen und Präsentationen auf Konferenzen systematisch die Bedeutung dieses Begriffs. Ich habe mittlerweile aufgehört, zu zählen, in wie vielen Ankündigungen von der “Revolution eines Geschäftszweigs” oder “Disruption einer Branche” die Rede ist.

AirBnB betreibt die Disruption des Hotel- und Uber die des Taxigewerbes. Groupon sollte mobile Coupons disrupten (gibt es das Verb überhaupt? [nein]) und Square den Zahlungsverkehr. Letztere sind übrigens Beispiele dafür, auf welche Weise sich die Erwartungen an eine “Disruption” bisher nicht erfüllt haben.

Die inflationäre Verwendung des Begriffs Disruption entwertet diesen. Einige scheinen zu glauben, dass es sich in Präsentationen für VCs gut macht, wenn man als Gründer ganze Branchen verändern will. Ich lösche mittlerweile alle Newsletter und Pressemeldungen, bzw. höre auf zu lesen, wenn mir wieder einmal jemand etwas von der Revolution einer Branche erzählen will. Zu selten gelingen Revolutionen mit Ansage.

Frank Wiebe erweiterte vergangene Woche in der ePaper-Ausgabe des Handelsblatts (28.7., nur gegen Entgelt) die Kritik und sieht in der Verwendung des Begriffs sogar einen gefährlichen Zynismus der Gründer. Er schreibt u.a.:
 

“Wer heute etwas auf sich hält, gibt also damit an, die eigene Branche – oder auch eine andere – zu zerreißen, zu zerschmettern oder jedenfalls enorm zu stören. Das ist so, als hätte Johannes Gutenberg sich damit gebrüstet, die fleißigen Mönche in den Skriptorien arbeitslos zu machen.

Statt in den Vordergrund zu stellen, dass der Buchdruck die Bildung der breiten Bevölkerung ermöglicht. Oder als hätten die Pioniere der Dampfschifffahrt vor allem damit geprahlt, die Treidler um Lohn und Brot zu bringen. Wer weiß noch, was Treidler sind? Antwort: Wikipedia, die disruptive Innovation im Bereich der Lexika.

Es liegt ein ungeheurer Zynismus darin, nicht das Neue und den Nutzen zu betonen, sondern sich quasi als wirtschaftlicher Knock-out-Sieger über das Alte zu zelebrieren. So nach dem Motto: “Wie geil ist das denn – jetzt kann man mit einer einzigen App weltweit Millionen von Taxifahrern arbeitslos machen.” Vielen, die sich jetzt “disruptiv” finden, ist dieser Zynismus wahrscheinlich gar nicht bewusst. Aber macht es das besser? Bewusster Zynismus reizt wenigstens noch zum Widerspruch. Unbewusster stumpft nur ab.”

 
Auf manchen Veranstaltungen feiern sich Gründer und ihre Mitarbeiter gegenseitig ob des disruptiven Charakters ihrer Geschäftsmodelle. Andere dagegen sind mittlerweile genervt von diesem Schmoren im eigenen Saft, zumal sie ahnen, dass manche Idee bzw. deren Umsetzung die hochgesteckten Erwartungen verfehlen wird.

Katharina Brunner hat neulich auf Netzpiloten einen interessanten Text zur Debatte um Disruption veröffentlicht. Sie skizziert darin die Auseinandersetzung um den kritischen Artikel von Jill Lepore im New Yorker, The Disruption Machine; beide Texte eignen sich gut zur Vertiefung.

Wer noch ein wenig theoretischen Hintergrund mag, der kann sich die Bachelorarbeit von Marcel Knöchelmann und seine Literaturhinweise vornehmen.

Abschließend meine Empfehlung an die Start-ups: Redet nicht im Vorfeld von Disruption und Revolution. Wenn ihr wirklich eine Branche umgekrempelt habt, werden genügend Leute von ganz allein die Scheinwerfer auf Euch richten.

 

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