von Lukas Franke, 5.9.21
Die politische und kulturelle Arena übt sich in diesen Tagen in Realitätsverweigerung. Das erinnert an Baudrillards »Verschwinden der Realität« – und dreht diese zugleich um.
Wer in diesen Tagen an der Berliner Volksbühne vorbei geht, mag sich um 20 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt fühlen. Vor dem Haus, das wegen des politisch erzwungenen Abgangs der über 25 Jahre herrschenden Castorf-Intendanz in jüngerer Vergangenheit Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen war, steht ein Zirkuszelt, in dem das ikonische und mittlerweile für die Ewigkeit installierte Logo der Castorf-Ära (»Räuberrad«!) eine Art Altar erhält. Davor stehen Planwagen jener »Rollenden Road Show«, mit der das Theater in den Neunziger- und Nullerjahren hoffte, das damals noch völlig gentrifizierungsfreie Neukölln und den Ost-Bezirk Marzahn für die Idee der »Volksbühne« und ihr bereits weiland wenig volksnahes Programm zu begeistern. In der Zwischenzeit wurde ein französischsprachiger Kunstkurator rausgemobbt, das neue Programm unter Castorf-Zögling René Pollesch verspricht nun bis in Einzelheiten, nichts an dem zu ändern, worauf die Macher der früheren – und neuen – Volksbühne so stolz waren – und sind. Ihr utopisches Potenzial ist indes auf eine Zeitreise in die 90er geschrumpft, die Auseinandersetzung mit einer verstörend vielschichtigen Gegenwart wird zugunsten eines Weiter-so verweigert. Die einstige Avantgarde steht nun für Beharrung.
Paradoxerweise wird die alt-neue Volksbühne damit einem Zeitgeist gerecht, der auch den gegenwärtigen Wahlkampf und überhaupt die politisch-diskursive Arena prägt: Make Vergangenheit great again. Trumps tumber Wahlkampf-Slogan scheint in den letzten Jahren eine tragische Wirkmächtigkeit weit über die USA und die politische Szene hinaus erlangt zu haben. Auf rasenden globalen Wandel wird im sogenannten Westen gegenwärtig vor allem mit rückwärtsgewandten Affekten reagiert. Die globale Realität und die damit einhergehenden, wahrlich planetarischen Herausforderungen werden unterdessen meist ausgeblendet.
Rückschau: Als am 11. September 2001 die Türme des World Trade Center in New York einstürzten, war nach dem ersten Schock und angesichts einer bis dahin unbekannten Bilderflut auf allen medialen Kanälen schnell vom »Einbruch der Wirklichkeit« die Rede. Die real existierende Realität schien in die von Medien und Kulturindustrie erzeugte »Hyperrealität« eingebrochen zu sein. Die Bilder waren seltsam vertraut, weil in unzähligen Filmen bereits gesehen – irritierend war indes die Ähnlichkeit des Ereignisses mit den bereits bekannten Bildern. Zugespitzt hatte der französische Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard in seiner Theorie über die Funktion und Produktion kultureller Zeichen und Symboliken formuliert, die Simulation sei an die Stelle der Produktion getreten sei, die Wirklichkeit durch eine medial erzeugte Hyperrealität im Verschwinden begriffen. 20 Jahre später markieren die Anschläge vom 11. September 2001 eher den Beginn einer dystopischen Ära, in der sich die Krisen und Katastrophen zu jagen scheinen und ein Gefühl von Kontrollverlust breit macht. Wir sehen, dass vieles gründlich schief läuft, sind aber nicht in der Lage, den Kurs zu ändern. Depressiver »kapitalistischer Realismus« (Mark Fisher), geeignet, das Verschwinden der Realität doch noch ins Werk zu setzen – wenn auch in einer Weise, die Baudrillard nicht hat sehen können.
Die gegenwärtige Schwindsucht des Realen stellt sich demgegenüber mehr als eine Art von Eskapismus dar, als kollektive Verdrängung, die mal bewusster, mal weniger bewusst verläuft. Die »alternativen Fakten« der zeitgenössischen Rechten, die offenkundige, weil eindeutig dokumentierte Tatsachen ebenso wie wissenschaftliche Erkenntnisse trotzig leugnen, um ihr traditionelles Weltbild der white male supremacy aufrecht zu erhalten, passen ebenso in dieses Bild wie die viel diskutierten Filterblasen im Netz, die Spinnern aller Couleur obsessive und allzu oft störungsfreie Realitätsverweigerung ermöglichen.
Dramatischer, weil unmittelbar folgenreicher, ist die Verweigerung der Realität im politischen Feld. So erscheint die Finanz- und Fiskalpolitik seit der Krise 2007/2008 als eine international abgestimmte Vogel-Strauß-Strategie des Weiter-so, ein neuerlicher Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte wird seit über einem Jahrzehnt nur durch gigantische Geldspritzen der Zentralbanken verhindert, vermutlich aber eher aufgeschoben. Auch das nicht erst seit 2015 etablierte und zunehmend militante Grenzregime der EU, das eigentlich illegale Push-backs und den massenhaften Tod von Migranten billigend in Kauf nimmt, gründet wohl in der Annahme, globalen Entwicklungen mit immer krasseren Abwehrmaßnahmen begegnen zu können, statt die Leitlinien eigenen Handelns zur Disposition zu stellen.
Ähnliches gilt für den Abzug der Westmächte aus Afghanistan, der dem »America first«-Phantasma von Ex-Präsident Trump geschuldet ist, das von Navid Kermani in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als Versuch beschrieben wird, sich »die Wirklichkeit vom Leib zu halten«. Gegen die ultimativ-planetarische Katastrophe unserer Zeit sind all diese, für sich genommen schon dramatischen Realitätsverweigerungen aber ihrerseits im Verschwinden begriffen. Denn der jüngste Bericht des Weltklimarates IPCC zeichnet nichts weniger als ein apokalyptisches Bild einer Klimazukunft, das von den Brandkatastrophen in Südeuropa, den USA, Lateinamerika und Afrika, dem beschleunigten Abschmelzen polarer Eismassen der damit verbundenen Freisetzung großer Mengen von Treibhausgasen, der Flutkatastrophe in Westdeutschland und vielen weiteren katastrophischen Ereignissen ein weiteres Mal eindrucksvoll untermauert wird.
Die Klimakatastrophe, die nach den derzeitigen Erkenntnissen bevorsteht, wenn keine radikalen globalen Maßnahmen ergriffen werden, lässt die Realität zweifach verschwinden. Einerseits, weil die Herausforderungen, denen sich die globale Gesellschaft gegenübersieht, ein tatsächlich apokalyptisches Ausmaß angenommen haben, dem mit menschlichem Verstand und erst recht mit den Institutionen westlicher Demokratien kaum mehr begegnet werden kann und das mithin gern verdrängt wird. Andererseits, weil es um nichts weniger geht als um die ultimative und damit beinahe unfassbare Katastrophe: Den Untergang der Welt, wie wir sie kannten. Im Unterschied zu Baudrillard ist das Verschwinden der Realität und das Verschwinden des Menschen keine Metapher mehr, sondern reale Möglichkeit.
Doch auch ohne Apokalyptik erscheint der Modephilosoph der 1980er- und 90er-Jahre derzeit in überraschender Weise aktuell. Denn das Tempo realer Veränderungen überfordert nicht nur Einzelne, sondern auch Institutionen und Strukturen moderner Gesellschaften. Baudrillards Ansatz hat sich umgedreht: Nicht mehr die mediale Dynamik der Zeichenproduktion führt zu einem Verschwinden der Realität, vielmehr haben wir es uns im »hyperrealen Simulakrum« gemütlich gemacht, während die Wirklichkeit ihre mediale Simulation längst überholt hat. Die Klimakatastrophe, die nach den derzeitigen Erkenntnissen bevorsteht, wenn keine radikalen globalen Maßnahmen ergriffen werden, lässt die Realität zweifach verschwinden. Einerseits, weil sie in hysterischen medialen Feedbackschleifen tatsächlich kaum mehr eine Rolle spielt. Andererseits, weil die Herausforderungen, denen sich die globale Gesellschaft gegenübersieht, ein tatsächlich apokalyptisches Ausmaß angenommen haben, dem mit menschlichem Verstand und erst recht mit den Institutionen westlicher Demokratien kaum mehr begegnet werden kann.
Im Unterschied zur Theorie Baudrillards, der auf kapitalistische Konsum- und Verwertungsparadigma und vor allem auf die Eigenlogik der medialen und kulturindustriellen Zeichenproduktion abhob, hat der reale globale Wandel in kultureller, technologischer und ökologischer Hinsicht ein Tempo erreicht, dem die internationalen Funktionseliten derzeit nurmehr hinterherhecheln. Baudrillards Ansatz hat sich umgedreht: Nicht mehr die mediale Dynamik der Zeichenproduktion führt zu einem Verschwinden der Realität, vielmehr hat diese zu einer Beschleunigung der Realität geführt, die medial kaum mehr abbildbar ist.
Gibt es Lichtblicke? Kaum. Wenn, dann könnte ein Essay von Radwa Khaled-Ibrahim, Mitabeiterin von medico international einen Weg weisen: Der Westen muss den globalen Wandel anerkennen und sich verabschieden von der über Jahrhundert eingeübten Denkweise, die Welt zu dominieren. Stattdessen sei es geboten, wieder »Mitglied der Welt« zu werden.