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Die verblatterte Welt: FIFAs Angst vor der Technik

von , 30.6.10

Der amerikanische Fußballpieler Landon Donovan hat bei dieser WM eine Menge für sich selbst getan. Mit einem Küsschen aus der Ferne fachte er live via Fernseh-Satellit die Beziehung zu seiner geschiedenen Ex-Frau wieder an, einer TV-Schauspielerin. Und dank eines ziemlich guten Auftritts auf dem Rasen brachte er sich bei bestens bezahlenden englischen Proficlubs ins Gespräch. So soll es sein. Denn die Hauptfiguren bei einer solchen Veranstaltung sind nun mal die Spieler. Würde man zumindest denken.

Donovan durfte nach der Niederlage der Amerikaner im Achtelfinale gegen Ghana allerdings schon früh wieder die Heimreise antreten. Vorher hatte er gleich in zwei Begegnungen erlebt, wie auf dem Leistungsgipfel des internationalen Fußballs Schiedsrichter die Leistungen der Hauptpersonen zunichte machen. Zwei wichtige Tore in zwei Spielen wurden den USA regelwidrig aberkannt.

“Jeder Sportler ist irgendwann mal Opfer oder Nutznießer von Fehlentscheidungen. Irgendwann gleicht sich das vielleicht aus oder vielleicht auch nicht. Damit muss man als Sportler umgehen.” So fatalistisch hat es Wolfgang Weber am Wochenende formuliert, als er von FAZ-Redakteur Daniel Meuren gebeten wurde, das berühmte Wembley-Tor (das, wie Filmaufnahmen später zeigten, keines war) und den klaren, aber nicht gegebenen Treffer von Englands Frank Lampard in Bloemfontein in einen Meta-Zusammenhang zu rücken. Weber hatte als Mitglied der deutschen Mannschaft 1966 im Finale den besten Eindruck vom Geschehen. Denn er köpfte den Ball über die Latte ins Aus, nachdem er von der Linie zurück ins Feld gesprungen war.

Die Bewusstseinspaltung einer solcher Beschwichtigungsrhetorik scheint Weber allerdings nie ganz klar geworden zu sein. Denn im selben Interview sagte er über die Fehlentscheidung: “Es wird immer ein schlechtes Gefühl bleiben.” Und warum auch nicht? Nie wieder war er so nah an einem WM-Titel wie damals.

Dieses immerwährende schlechte Gefühl darf man nach dieser WM auch den Mexikanern prophezeihen. Schiedsrichter Roberto Rosetti gab am Sonntag ihren Gegnern aus Argentinien ein Tor, das nur wenige Augenblicke später durch die Bilder auf der Videowand im Stadion ad absurdum geführt wurde. Der Torschütze stand im entscheidenden Moment meterweit im Abseits.

Nach dem Lampard-Schuss (gegen Deutschland) und dem Tevez-Kopfball (gegen Mexiko) am Sonntag begann unter meinungsfreudigen Fußballinteressierten weltweit eine kompetente und sachliche Diskussion über die Einführung einer Instant-Replay-Regel, die es dem Schiedsrichter gestattet, seine Irrtümer mit Hilfe der bereits vorhandenen Videotechnik an Ort und Stelle auszuräumen. Es sind auch Alternativlösungen im Gespräch, wie ein Chip im Ball, der eine Positionsbestimmung erlaubt, oder der Einsatz von speziellen Torrichtern wie etwa im Eishockey.

Für die Verantwortlichen der FIFA hingegen war das alles überhaupt kein Thema, wie der wackere Sportjournalist Jens Weinreich nicht zum ersten Mal vor Ort bestätigt bekam. Das Echo bestand aus Indolenz, Ignoranz und windelweichen Ausreden. Das Motto lautete: Augen zu und durch. Auch die Schiedsrichter redeten nicht. Sie haben von der FIFA einen Maulkorb erhalten. Komisch nur, als Sepp Blatter, der Chef persönlich am Dienstag ankündigte, dass die Kardinäle der Sportart über den Einsatz von Technik zumindest nachdenken wollen, da bekamen einige Leute wieder den Mund auf. Dass sich allerdings irgendetwas Wesentliches ändert, ist nicht ausgemacht.

Denn die FIFA ist ein Laden, in dem niemand an der Aufklärung essentieller Sachverhalte interessiert ist. So werden im Weichbild von Präsident Sepp Blatter prinzipiell Korruption und Amtsmissbrauch notdürftig verschleiert. Und das bisweilen sogar mit Hilfe staatlicher Stellen wie sich jetzt beim offiziellen Abschluss eines Gerichtserverfahrens in der Schweizer Stadt Zug zeigte, in dem die Staatsanwalt ein perfides Bestechungssystem bei der Vergabe von Fernsehrechten ermittelte, aber keine Urteile erwirken konnte.

Zu einer solchen Verschleierungspolitik passt der laxe Umgang mit der Beweisnot in entscheidenden Situationen auf dem Spielfeld. Dort kann angesichts einer relativ geringen Torquote fast jede Schiedsrichterentscheidung in Strafraumnähe kolossale Folgen haben – für das jeweilige Spiel und für die Karriere von Spielern, dür die die WM eine Plattform ist, um sich gut bezahlenden Clubs zu empfehlen. Wer ungerechtfertigterweise früh ausscheidet, wird möglicherweise um viel Geld gebracht.

Warum hat man bei der FIFA etwas gegen die Technologie des 21. Jahrhunderts? Wenn man all die romantisierenden Deklamationen über den besonderen Charakter des vor knapp 150 Jahren in seinen heutigen Umrissen kodifizierten Mannschaftsspiels beiseite schiebt, kommt vor allem eines zutage: Niemand in der oligarchisch verwalteten Welt des internationalen Fußballs hat ein Interesse an einem Paradigmenwechsel. Das Spiel – geprägt von einem ehrenwerten urenglischen Sportsgeist – kam lange Zeit ganz gut mit einem Minimum an Regeln aus (anders als etwa American Football, mit dessen dickem Vorschriftenhandbuch man Kleintiere erschlagen könnte und das bei den Profis ein ausgeklügeltes System mit Video-Replay-Entscheidungen der Referees besitzt). Aber inzwischen müssen Mitwirkenden etwa im Bereich des DFB eine 120 Seiten dicke Kladde durcharbeiten, wenn sie die vielen Wechselfälle des Alltags regelgerecht bewerten wollen.

Der Freiraum produzierte im Laufe der Zeit nicht nur eine exzessive Kultur der Interpretationen und Emotionen, gespeist von regionalen und nationalen Loyalitäten, die Fußball-Anhänger als berauschend und euphorisierend empfinden. Zu den Resultaten gehören aber auch noch andere Phänomene. Ganz unten auf der sozialen Leiter sind es die besoffenen, gewaltbereiten Hooligans. Ganz oben in der Managementetage der Sportart ist es der Hang zu einer gesetzlosen, unkontrollierten Gewalt des Gebens und Nehmens, praktiziert in Missachtung der Strafgesetze. So lässt sich neben der Weberschen Meta-Hoffnung auf das Prinzip einer ausgleichen Gerechtigkeitung durchaus noch ein anderer Zusammenhang feststellen: So wie im Zentrum des Geschehens – also auf dem Platz und im Umgang mit den Spielern – kein Wert darauf gelegt wird, klare Beweise von Versagen und Fehlvergehen zu berücksichtigen, so gilt auch für die Arbeit der Funktionäre eine Mathematik des schönen Scheins. In der sind Fünf im Zweifel immer gerade.

Die Vorgehensweise wirkt so ähnlich wie in einer anderen historischen Institution von Rang und mit Massen-Appeal: der Katholischen Kirche mit ihrem unfehlbaren Papst und einer Bibel, mit der man für alles und jeden Anlass einen Spruch finden kann. Der Vatikan kämpfte schon vor der Aufklärung mit Macht und mit dem Scheiterhaufen gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und deren Gesetze. Zuletzt zeigte er im Umgang mit seinen pädophilen Priestern, was er von den ebenso wichtigen staatlichen Gesetzen hält, die etwa den Missbrauch von jungen Menschen unter Strafe stellen: Nichts.

Auch die Machtstruktur in der FIFA funktioniert nach dem gleichen Muster. Demokratie gibt es nur auf dem Papier. Wer es mal bis nach oben in der Hierarchie geschafft hat, denkt nur noch an eines: Wie er möglichst lange oben bleiben kann und wie er das Volk der Gläubigen mit möglichst viel Opiumersatz abspeisen kann.

Das gelingt inzwischen auf vielen Ebenen. So wurde zum Beispiel vor kurzem, als sich ein bekannter Torwart das Leben nahm und Anhänger mit der Projektionsfläche aus Fußballplatz und Depression “die Funktionsweise unserer modernen Gesellschaft als Erregungsgemeinschaft” vorexerzierten, die “heillose Quasireligion der Sportlichkeit” inszeniert, wie das Burkard Müller-Ulrich im Deutschlandfunk charakterisierte. Im Suizid des Robert Enke sahen deutsche Fußballfunktionäre eine gute Gelegenheit, sich in eine gesellschaftliche Rolle vorzutasten, die keinen anderen Sinn hat, als “gemeinsame Ekstase” zu erzeugen.

http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,702709,00.html
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