#CSU

Die unbehausten Ängste der Bürger

von , 15.12.15

In seiner Parteitagsrede forderte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel seine Parteifreunde auf, das Gespräch mit den Bürgern, gerade in den sozialen Brennpunkten, zu suchen. Das ist richtig, aber dieser Forderung ein solches Gewicht beizumessen, ist symptomatisch für das Versagen der politischen Parteien. Die politischen und zum Teil auch publizistischen Eliten reden nur darüber, dass Bürger Sorgen haben, aber benennen weder deren Ängste öffentlich, noch setzen sie sich mit ihnen argumentativ auseinander. So waren sie kein Thema in der Rede Gabriels, es sei denn die berichtenden Korrespondenten haben diese Passagen nicht beachtet. Gelänge der SPD das, könnte sie die Zustimmungsquoten deutlich erhöhen.

Ähnlich war es bei CSU-Chef Horst Seehofer. Neben parteipolitischem Machtkalkül hat er als einer der ersten die Ängste der Bürger aus dem völlig legitimen Grund, keine Stimmen zu verlieren, wahrgenommen. Nur nahm auch er sie nicht wirklich Ernst, sondern versuchte, mit der Illusion einer Obergrenze für Flüchtlinge die Menschen zu beschwichtigen. Gerade dieses politische Spiel wird der CSU Stimmen kosten.

In der Sendung “hartaberfair” argumentierte die kluge Moderatorin des Morgenmagazins, Dunja Hajali, gegen den Vorwurf der AFD-Chefin Frauke Petry, man dürfe in Deutschland vieles nicht sagen. Tatsächlich haben beide Recht: Natürlich wird niemand hier zu Lande für seine Meinung bestraft, die AFD findet in den von ihr verleumdeten Medien angemessenen Raum, eher etwas zu viel, was bei neuen Erscheinungen aber üblich ist.

Petry meint das gegenwärtig bestimmende Meinungsklima in der Öffentlichkeit und benennt damit ein echtes Problem. Dafür lohnt ein Rückblick: Der Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ ist auch deshalb so bewegend, weil er die ganz andere gesellschaftliche Stimmungslage in den ersten zehn bis zwanzig Jahren der Bundesrepublik nachempfinden lässt, in denen die Parteigänger und Claqueure des „Dritten Reiches“ die Erinnerung daran entsorgen wollten. Heute leben wir in einer anderen Welt. Natürlich ist das offene und liberale gesellschaftliche Klima unserer Zeit ein großer Fortschritt. Aber die Offenheit zersetzt sich, wenn sie selbst zur Ideologie erstarrt und schon das Ansprechen von Problemen in den Ruch liberaler Unzuverlässigkeit oder gar rechtsradikaler Sympathien gerät.

Wie das im Alltag abläuft, hat André Mielke von der Berliner Zeitung eindrucksvoll in einer Kolumne geschildert, die sich ganz zu lesen lohnt: „(…) Nun gab der Elternausschuss auf Facebook bekannt, wegen der Umwandlung von Turnhallen in Notunterkünfte ‚mehr als besorgt und beunruhigt‘ zu sein. Der Sportunterricht sei in Gefahr. Das Ganze war holprig formuliert, aber darin fand sich kein böses Wort über Zuwanderer. Nein, schlimmer: Der Text begann mit ‚Wir haben auch Verständnis für Flüchtlinge, jedoch…‘ Dabei sind einschränkende Konjunktionen in diesem Zusammenhang absolut verboten.“

Die Reaktionen reichten von „ganz übel“ bis „Pamphlet“. Eine Auswahl: „Da sind Menschen, die vor Krieg und Terror flohen. Und ihr heult wegen ein paar Sportstunden? Schämt euch!“ Oder: „Ich persönlich würde mich in Grund und Boden schämen, anderen Obdach zu verwehren.“ Auch nicht schlecht: „Immer unter dem Deckmäntelchen des ach so besorgten, rechtschaffenen Bürgers, der in Wirklichkeit eine fremdenfeindliche, rassistische und diskriminierende Weltanschauung vertritt. Die Historie wiederholt sich.“ Mein Favorit: „Leben retten ist wichtiger als Schulsport…“ Soweit Mielke, es ist einer der wenigen Texte, in denen die Flüchtlings-Probleme des Alltags aus der Sicht betroffener Einheimischer in einer Zeitung aufgegriffen wurden. Ansonsten tauchen sie vorwiegend als Samariter oder Ausländerfeinde auf.

In der Tat fragen sich die Bürger, warum angesichts der Flüchtlingsnot aus dem Stand heraus tausende neue Stellen geschaffen werden und Steuermittel in Milliardenhöhe zur Verfügung stehen. Dabei bestreiten sie gar nicht die Not, und viele helfen. Aber sie erleben in ihrem Alltag, dass Schulräume wegen Baufälligkeit geschlossen und Grünanlagen in Großstädten nicht mehr gepflegt werden. Viele der Turnhallen, in denen jetzt Flüchtlinge leben, waren schon zuvor in einem schaurigen Zustand. Dass Eltern ihre Kindergärten selbst renovieren, mag ja noch unter bürgerliches Engagement fallen, ist angesichts der nicht geringen Sozialabgaben auf das Einkommen kaum nachzuvollziehen. Sie wissen, wie mühsam um jede Stelle gerungen wird, die ihren Alltag betrifft. Straßen verfallen nicht nur in den dunklen Ecken des Ruhrgebiets. Erschwinglicher Wohnraum ist in München überhaupt nicht mehr, in Berlin immer seltener zu mieten, von kaufen gar nicht zu reden. Wäre es völlig abwegig gewesen, dafür ein Programm aufzusetzen?

Wohl gemerkt sind das Probleme auf dem hohen Niveau eines funktionierenden Wohlfahrtsstaates. Die Lebenserwartung der Menschen wächst weiter. Wenige stürzen vollständig ab, erst recht gemessen an den Verhältnissen des letzten Jahrhunderts. Und es gibt dank der weltweit geachteten und gefürchteten Bundeskanzlerin auch keine nationale Demütigung, die wie einst den Boden für einen starken Mann in Deutschland bereiten könnte; in Frankreich hingegen wurden die Terroranschläge schon als Demütigung empfunden.

Dass je mehr der Nationalsozialismus zur Geschichte wird, die Bereitschaft zum Kampf gegen Rechts (eigentlich Rechtsradikalismus) zunimmt, birgt eine Gefahr in sich: Viele, die dort dankenswerter Weise demonstrieren, glauben, ihre Schuldigkeit damit getan zu haben. Das ist ein Irrtum. So lange keine Antworten auf die Ängste und Fragen der Bürger gegeben werden, wird die Radikalität anhalten. Das konnte jüngst die FAZ erleben, als sie in einem klaren Leitartikel den völkischen Charakter von AFD und Pegida Anhängern beschrieb und dann erstmals sozusagen am eigenen Leibe völkische Wut erfuhr. Nun ist die Redaktion erschrocken über das, was schon lange wächst. Es ist richtig, sich darüber zu empören, und notwendig, klugen Konservativen wie Alexander Gauland und Konrad Adam vorzuhalten, mit welchem Pack sie sich einlassen.

Aber die Radikalisierung wird erst einzudämmen sein, wenn sich die Eliten in Politik und Medien auf die Sorgen der Bürger einlassen und sich mit ihnen beschäftigen. Diese Herausforderung gilt übrigens international – für Hillary Clinton, die Begegnung mit Menschen nur als Inszenierung kann, für Frankreich trotz des redlichen Mühens von Präsident Hollande und für Merkel, deren Mutti-Image mit der Krise verschwand.

So lange die Eliten nur über die reden, die Angst haben, aber nicht mit ihnen, wird die Angst bleiben, im Zweifel wachsen. Angst essen Seele auf, heißt der große Film von Rainer Werner Fassbinder. In Frankreich ist die Seele schon ziemlich angefressen, in Deutschland erst angeknabbert.

 


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