von Hans-Jürgen Arlt and Wolfgang Storz, 18.4.13
Erwartbar war, dass für die Frankfurter Allgemeine Zeitung Reichtum in der Regel Resultat persönlicher Leistung ist, Armut Folge von persönlichem Versagen, soziale Klüfte wirtschaftlich eher produktiv denn schädlich sind, Staatsverschuldung und die Lage der Mittelschichten die eigentlichen sozialen Fragen bilden.
Überraschend ist dann aber doch dieses: Die FAZ-Redaktion pflegt mit großer Regelmäßigkeit ein negatives, teilweise herablassendes, gar verächtliches Bild von Politik. ‘Der Politik’ wird – ohne nähere Begründung und ohne jede Differenzierung – selbstverständlich und stereotyp vorgeworfen, sie verfolge ihre Themen und Positionen vor allem aus instrumentellen, selbstsüchtigen Gründen.
Einige Beispiele: Die Staatsschulden sind so hoch, weil Wähler mit Wohltaten gelockt werden. Die Reichen werden geschröpft, weil es der Mehrheit der Wähler gefällt. Ministerin von der Leyen macht die Altersarmut zum Thema, weil sie sich profilieren will. Das Thema Steuerflüchtlinge wird von der Politik stark gemacht, um Stimmung gegen die Reichen zu machen. Vor allem der systematisch vorgetragene Vorwurf, Politik steigere bedenkenlos die Staatsschulden, um rein egoistische persönlich-politische Ziele auf Kosten der Allgemeinheit zu verfolgen, kann – wenn die Kommentierung nicht als politisch-publizistische Propaganda abgetan, sondern ernst genommen werden soll – nur als im Grundsatz politik-feindlich wahrgenommen werden; ähnlich negativ kommen nur noch die Sozialtransfer-Empfänger und unter denen vor allem die Sozialtransfer-Eltern weg.
Der entscheidende Punkt besteht darin, dass das Politikverhalten jeweils als Vorwurf formuliert wird, der Politiker und Parteien, Regierende und Oppositionelle als tendenziell unaufrichtig und persönlich-berechnend denunzieren soll. Es gibt keinen Zweifel, dass Politiker und Parteien ungeachtet ihrer Grundpositionen ihre Praxis auch an den Aspekten der öffentlichen Zustimmung, der Erringung von Einfluss und der Durchsetzung ihrer Positionen ausrichten – das gehört zu den Kernelementen einer parlamentarischen Parteien-Demokratie. Ein Politiker, der nicht nach Macht strebt, um politische Ziele durchsetzen zu können, hat seinen Beruf verfehlt. Dies als Vorwurf zu formulieren ist so sinnvoll, wie Unternehmer in einer kapitalistischen Wirtschaft generell dafür zu kritisieren, sie wollten ja nur Gewinne machen.
Die FAZ-Linie, die Politik herabzuwürdigen, schlägt sich sprachlich beispielsweise so nieder: Bei dem Plan für eine Zuschuss-Rente geht es um “Wohltaten”. Die Mittelschichten werden vom Staat “geschröpft”. Die Politik, vor allem die Sozialpolitik, ist ein “Kartell der Kassierer”. In Deutschland haben wir es mit einer “alimentierenden Gesellschaft” zu tun. Bundesministerin von der Leyen wird als “Ministerin für Bedürftige” bezeichnet. Der Sozialstaat ist “spendabel” und es droht “ein neues Schwungrad für den Sozialstaat”.
Es handelt sich um einen “wuchernde(n) Sozialstaat”, der “Verteilungspolitikern” erlaubt, “die jeweilige Klientel zu bedienen”. Der Sozialstaat schafft “gefährliche Abhängigkeiten”. Und er lässt einen “Teufelskreis” entstehen, “in dem eine schrumpfende Schar von Leistungsträgern eine steigende Zahl von Transferempfängern finanzieren soll”. Es ist die Rede von “der Lieblingsgruppe der Sozialpolitiker, der Alleinerziehenden”, die in Deutschland kräftig wachse, “viermal schneller als in anderen Industrieländern”. Und: “Die Ursachen für den öffentlichen Schuldensumpf sind leicht auszumachen. Für Politiker ist das Verteilen sozialer Wohltaten auf Pump, also zu Lasten kommender Generationen, wegen der sofort wählerwirksamen Auswirkungen verführerisch.”
Transfer-Leistungen werden auch mit Begriffen aus der Medizin verbunden. Ein Beispiel: “Die Unkultur des Ruhigstellens durch Umverteilung ….” müsse von einer Kultur des sozialen Aufstiegs abgelöst werden. Vor allem in Verbindung mit dem Thema Staatsverschuldung werden Sprachbilder aus der Welt der Sucht verwendet: “Deutschland ist auf Entzug. Das Land befreit sich vom süßen Gift der Verschuldung.” Es ist die Rede von dem “unersättlichen Staat”, der ständig “gefüttert” werde und der “trotz ungekannter Rekordmarken bei den Steuereinnahmen nicht aufhören kann, neue Schulden zu machen”. Und: “Nach Jahren einer unverantwortlichen Politik, welche die Daueralimentierung zum Prinzip erhob und die Wirtschaftskraft des Landes systematisch schwächte, wurde eine rigorose Kehrtwende unvermeidlich.”
Argumente hinzudrehen, wie man sie gerade braucht, eine beliebte Klage über Politiker, das beherrscht auch die FAZ. Ein prominentes Beispiel liefert Holger Steltzner, der für den Themenbereich Wirtschaft und Finanzen verantwortliche Herausgeber. In dem Leitartikel “Arme Arbeiter, reiche Beamte” (1.10.2012) setzt er sich grundsätzlich mit dem Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung auseinander.
Er widerspricht den Befunden nicht so richtig, will sie allerdings relativieren und kritisiert Arbeitsministerin von der Leyen (CDU). Sie schüre mit ihrer Zuschussrente die Angst vor der Altersarmut und befeuere mit ihrem Armuts- und Reichtumsbericht die Empörung der ‘unteren’ Hälfte der Bevölkerung über das ‘oberste’ Zehntel, das über mehr als die Hälfte des Nettovermögens verfügt. Steltzner fügt dann das folgende grundlegende Argument an, mit dem er belegen will, dass die Befunde des Berichtes so nicht stimmen:
“Auch perlt die Kritik an den methodischen Mängeln des Berichts an ihr (von der Leyen sto/at) ab. Niemand hätte sich über die wachsende Zahl von Haushalten mit geringeren Einkommen und Vermögen gewundert, wäre der gesellschaftliche Wandel hin zu mehr Alleinlebenden und Alleinerziehenden berücksichtigt worden. Merkwürdig ist, dass Frau von der Leyen in ihrem Bericht die kapitalisierten Ansprüche an die Rentenkasse und an das staatliche Pensionssystem unter den Tisch fallen lässt. Dabei handelt es sich nicht um Kleingeld, sondern Schätzungen zufolge um fünf bis sieben Billionen Euro. Offenbar ist es dem Arbeitsministerium wichtiger, die heimischen Familienunternehmen, in denen die großen Vermögen meist gebunden sind, an den Umverteilungspranger zu stellen, als ausgewogen über die finanzielle Lage der verschiedenen Gesellschaftsschichten zu berichten.”
Wenige Monate später, in der FAZ-Ausgabe vom 11. April 2013, beschäftigt sich Steltzner, ebenfalls in einem Leitartikel, mit dem Bericht der Europäischen Zentralbank zur Verteilung der Vermögen in Europa. Dessen Ergebnis auf den ersten Blick: Die Deutschen haben im Durchschnitt viel weniger Vermögen als Spanier, Portugiesen oder Zyprioten.
Nun gibt es das Gegenargument gegen diesen Befund, das Steltzner vertraut ist, wendete er es doch selbst an, um den Befunden des Armut- und Reichtumsberichtes zu widersprechen: Die Rentenansprüche der Deutschen sind nicht eingerechnet worden, müssten jedoch eingerechnet werden. Aber: Überraschung! In seinem aktuellen Leitartikel verwendet Steltzner sein Argument nicht, sondern widerspricht ihm heftig; vermutlich weil ihm der Befund der EZB in sein ‘Weltbild’ passt im Gegensatz zu den Befunden des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung. Steltzner widerspricht seinem eigenen Grundsatzargument grundsätzlich:
“Manche wollen die Deutschen nun sogar mit ihren angeblich üppigen Rentenansprüchen reich rechnen. Das ist putzig. Seit wann werden in einem Umlageverfahren Vermögen gebildet? Der heimische Rentner oder Pensionär mag einen Rechtsanspruch haben, aber aufbringen muss das Altersgeld die nachwachsende Generation aus dem laufenden Einkommen. Das ist nicht vergleichbar mit Kapitalbildung über Lebensversicherung, Fonds oder Sparbuch.”
Übrigens: Um die Verhältnisse in Deutschland zu rechtfertigen, scheut sich der FAZ-Herausgeber auch nicht, als letzten Rettungsanker auf die Regierungsbilanz von Erich Honecker zurückzugreifen. Das geht so: “Wer trotz der Mängel in Frau von der Leyens Bericht zum Klassenkampf in der Sozialen Marktwirtschaft Deutschlands aufrufen will, sollte sich zuvor anschauen, wie im ‘real existierenden Sozialismus’ das Vermögen verteilt war. Wie der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder herausgefunden hat, verfügten 1989, zum Ende der DDR, in der es bekanntlich kaum privaten Immobilienbesitz gab, zehn Prozent der Kontoinhaber über sechzig Prozent des Geldvermögens. Kommen uns diese Zahlen nach der Lektüre des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung bekannt vor?” DDR-Verhältnisse dienen jetzt als Beleg dafür, dass es in Gesamtdeutschland gut so ist wie es ist.
Die Autoren haben auf Carta eine Zusammenfassung der Ergebnisse ihrer Studie veröffentlicht.
Am 20. April stellen die Autoren ihre Studie “Portionierte Armut, Blackbox Reichtum · Die Angst des Journalismus vor der sozialen Kluft” im Rahmen der Tagung “Zwischen Skandalisieren und Verschweigen – Reichtum und Armut im öffentlichen Diskurs” offiziell vor. Einen Auszug als PDF gibt es hier; der Volltext der Medien-Studie ist auf Anfrage bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhältlich und ab 20. April 2013 online abrufbar.