#Bürgerschaftswahl

Die Piraten vor Hamburg: “Wir wollen wegkommen vom Image der Spaßpartei”

von , 18.2.11

Wie viele Interviewtermine hast Du gegeben, seit feststeht, dass die Bürgerschaft neu gewählt wird?

Claudius Holler: Vier Print-Interviews und zwei, drei Online-Termine.

Ist das für Dich ein Erfolg oder würdest Du Dir von den Medien mehr Aufmerksamkeit wünschen?

Holler: Wir werden medial ziemlich vernachlässigt. Die Ursache liegt in der Hamburger Medienlandschaft, die sehr oligarchisch aufgeteilt ist: Springer und die SPD-freundliche Hamburger Morgenpost, da ist es schwer, einen Fuß reinzukriegen. Es gibt auch nur wenig lokale Netze in Hamburg. (…)

Was waren aus Deiner Sicht die größten Fehler der gescheiterten schwarz-grünen Koalition?

Holler: Die Grünen haben ihre Seele verkauft. Sie hatten fünf oder sechs Wahlkampfversprechen, wovon ein einziges überlebt hat: die Stadtbahn. Auch deren Umsetzung wird scheitern. Das hat die grüne Basis enorm gewurmt. Die extreme Unzufriedenheit konnten wir während des Unterschriftensammelns auch bei den Wählern feststellen. Die GAL hat ‚Kohle von Beust‘- Plakate aufgestellt und zwei Wochen nach der Wahl den Vertrag für das Kohlekraftwerk in Moorburg unterschrieben. So was geht nicht.

War der Druck der CDU auf die GAL zu groß?

Holler: Nein, es war Machtgeilheit. Sie wollten in die Regierung und haben dafür alle Kröten geschluckt. Wahrscheinlich haben sie gehofft, dass sie die Schulreform und die Stadtbahn durchkriegen, dann hätten sie wenigstens ein bisschen was zu feiern gehabt. Aber schlussendlich haben sie nichts durchgekriegt.

Ich finde es auch erstaunlich, dass die CDU überhaupt in eine dritte Amtszeit gehievt worden ist, nachdem sie in ihrer ersten Amtszeit den Rechtsaußen Ronald Schill hoffähig gemacht hat. Dass sie anschließend trotzdem die absolute Mehrheit erhielt, lag nur daran, dass Schill einen so komischen Abgang gemacht hat. Dass die CDU dafür belohnt wurde, fand ich damals schon erschreckend für Hamburger Verhältnisse. Denn wir sind eigentlich eine sehr liberale Stadt. Es lag wohl an Ole von Beusts speziellem Charakter, der in Hamburg sehr hoffähig war. Im Vergleich zum Rest der CDU war der Bürgermeister eine progressive Kraft. Für rechte SPD-Wähler durchaus wählbar. Und er hatte Charisma. Das kann man ihm nicht absprechen.

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Medienunternehmer Claudius Holler (33)

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Du schätzt Hamburg als recht liberale Stadt ein. Ist das nicht eine sehr junge Sicht auf die Dinge? Hamburg ist die reichste Stadt Deutschlands. Mit der höchsten Millionärsdichte, vielleicht nach München. Vielleicht gibt es auch gar keine liberale Stadt, sondern nur eine liberale Gruppe. Hat der Volksentscheid zur Schulreform nicht gezeigt, dass es mehr konservative Kräfte gibt, als man vermuten könnte.

Holler: Nein, der Volksentscheid hat leider gezeigt, dass die Politik im Dialog mit der Bevölkerung versagt hat. Solche Bauernfänger wie Walter Scheuerl haben gerade bei Leuten, die von der Schulreform am meisten profitiert hätten, Ängste geschürt. Sie wurden von seiner Omnipräsenz regelrecht erschlagen. Er hatte einfach verdammt viel Geld zur Verfügung. Der eigentliche Fehler wurde schon am Anfang gemacht. Diese Schulreform wurde über die Köpfe hinweg entschieden und es wurde verpasst, den Menschen zu erklären, warum sie eigentlich stattfinden soll.

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Bürgerbeteiligung und maximale Transparenz

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Wie wollt ihr die Kommunikation verbessern?

Holler: Wir haben in unserem Wahlprogramm stehen, dass sämtliche Protokolle zeitnah veröffentlicht werden müssen, dass wir Livestreams von den Sitzungen machen. Und das bis auf die Bezirksebene hinunter. Es soll auch keine Ausschüsse mehr geben, die nonstop unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen. Wie der Bauausschuss in Hamburg-Mitte. Das ist eigentlich nicht legitim. (…) Wenn man ein Großprojekt wie die Schulreform plant, wäre es nicht doof gewesen, Eltern-, Schüler- und Lehrervertreter mit an den Tisch zu holen und mit ihnen gemeinsam ein Konzept zu entwickeln, so dass sie es mittragen.

Solche Konsensentscheidungen stelle ich mir sehr langwierig vor. Auch innerparteilich seid ihr für solche Entscheidungsstrukturen.

Holler: Ich glaube, in der Politik geht es nicht um Zügigkeit. Was wir jetzt haben, ist eine gescheiterte Schulreform, die eine viel größere Bremse darstellt, als wenn versucht worden wäre, einen Konsens zu erzielen, der vielleicht erst in zwei Jahren gegriffen hätte.

Ihr arbeitet mit Werkzeugen wie Liquid Feedback, das ist eine E-Democracy-Software, die Entscheidungsprozesse transparent macht.

Holler: Genau. Das läuft zweistufig. Das Parteiengesetz schreibt ja vor, wie Beschlüsse gefasst werden müssen, nämlich in echten Veranstaltungen, mit der Möglichkeit zu geheimen Wahlen. Noch vor diesen Veranstaltungen versuchen wir, die Meinungsbildung per Liquid Feedback zu strukturieren. Das heißt, dass sich möglichst viele Leute, die später auch abstimmen werden, vorher schon am Entscheidungsprozess beteiligen. Konkret bedeutet das: Wenn sich jemand in einem Thema sehr gut auskennt, arbeitet er einen Vorschlag aus und stellt ihn online. Dann gibt es die ersten Leute, die das Thema auch interessiert. Nach einer Weile kann die Relevanz des Themas für die Partei abgelesen werden. Ist es für viele Piraten wichtig, geht es um den Feinschliff: Die Mitglieder können dann anmerken, unter welchen Bedingungen sie dem Beschluss zustimmen würden. Es muss aber nicht jeder Pirat diesen ganzen Prozess mitverfolgen, er oder sie kann die Entscheidung auch an Leute delegieren, denen die Kompetenz zugetraut wird.

Die Systeme laufen also immer parallel zu eurer Arbeit. Aus dem EDV-System wird ersichtlich, welche Themen gerade anstehen.

Holler: Jedes Thema hat eine gewisse Laufzeit. Man wählt den Startzeitpunkt, und der Endpunkt ergibt sich automatisch. Je populärer ein Thema bei Liquid Feedback war, desto eher besteht die Chance, dass es auch auf einem Landes- oder Bundesparteitag behandelt und entschieden wird. Das heißt, wir machen die Vorbereitung online und erreichen so schon mal eine konsensfähige Substanz, die dann auf dem Landes- oder Bundesparteitag meist eine ähnliche Zustimmungsrate erreicht. Wenn etwas mit 90% bei Liquid Feedback durchkommt, ist ziemlich sicher, dass es auch auf dem Parteitag so sein wird. (…)

Ihr müsst euer Wahlergebnis vom Februar 2008 (0,2%) ungefähr verzwanzigfachen, wenn ihr in die Hamburger Bürgerschaft einziehen wollt. Gesetzt den Fall, es klappt: Was würdest du in Hamburg als erstes erreichen wollen?

Holler: Maximale Transparenz.

In welchen Bereichen?

Holler: Alle Zahlen. Alle Ausschüsse. Alles. Der Bürger hat einfach ein Recht, zu wissen, woran gerade gearbeitet wird, und was die Ziele für die nächsten fünf oder zehn Jahre sind, um es eben nicht erst 20 Jahre später bei WikiLeaks zu erfahren. Wir wollen dafür sorgen, dass die Bevölkerung das Interesse an Politik nicht verliert und auch nicht das Gefühl hat, dass ‚die da oben‘ sowieso machen, was sie wollen. Ich möchte, dass die Bevölkerung als erstes über Transparenz und dann auch über Partizipation wieder in politische Prozesse einbezogen wird. Zum Beispiel beim Großprojekt Altonaer Bahnhof, wo Wohnungen entstehen sollen. Ich möchte nicht, dass sich da erst einige Gruppen in Hinterzimmern treffen und überlegen müssen, was sie da machen können, sondern sie sollen die Fakten kennen. Die Anrainer sollen von vorneherein mit ins Boot geholt werden. So können gemeinsame Konzepte entwickelt werden, die den Ansprüchen dieser Stadt auch gerecht werden.

Was haltet Ihr von Volksbegehren und -entscheiden?

Holler: Ich halte sie nicht für ein Allheilmittel, sondern für ein Korrektiv fehlgeleiteter Politik. Ich möchte kein Modell wie in der Schweiz einführen, wo über jeden Kram direkt abgestimmt wird. Dieses Modell ist anfällig für Populismus. Aber man kann die Leute durchaus einbeziehen. Ich glaube, die Bevölkerung ist zu viel mehr Partizipation imstande, als man glaubt. Sie würde im Zweifel mehr Steuern zahlen, wenn sie wüsste warum. Sie würde gewisse Probleme in Kauf nehmen, wenn sie wüsste warum. Aber das tut sie natürlich nur, wenn sie richtig informiert und mit einbezogen wird in die Entscheidungen.

Ihr seid eine junge Partei, die sich auch für eine Herabsetzung des Wahlalters stark macht. Bist du der Meinung, dass 16-Jährige sich heutzutage überhaupt noch für Politik interessieren?

Holler: Man muss Anreize schaffen, damit sie sich dafür interessieren können. Wir haben heute 40 bis 50 Prozent, die nicht mehr wählen gehen und sich auch nicht mehr für Politik interessieren. Selbst von denen, die wählen gehen, sind viele uninformiert und machen ihr Kreuz dann an den rechten und linken Rändern. Aber man kann in jedem Fall eine Brücke bauen, indem man die Leute ernst nimmt, mit ihnen redet und sie mit einbezieht. Und im Zweifel auch auf sie hört. Dann wird die Politikverdrossenheit auch wieder abnehmen. Auch die Bildungspakete, die wir statt irgendwelchen Sparmaßnahmen im Bereich Bildung und Kultur auf den Weg bringen wollen, könnten helfen. Ich glaube, eine intelligente und gebildete Gesellschaft, die am politischen Geschehen partizipiert, hat das geringste Risiko, politikverdrossen und anfällig für Populismus zu sein.

In der Vergangenheit haben sich unter dem Deckmantel der freien Meinungsäußerung und Liberalität auch einige Piraten als braune Nestbeschmutzer erwiesen. Wie sollen solche Vorgänge in Zukunft vermieden werden?

Holler: Es lässt sich nicht vermeiden. Es lässt sich nur kompensieren. Wir sind circa 12.500 Piraten. Bei dieser Größenordnung hat man natürlich auch vier oder fünf Vollidioten dabei. Und die krakeelen natürlich am lautesten und werden von den Medien gehört. Die haben aber in Wirklichkeit nichts zu melden. Wir müssen uns an das Parteienrecht halten. Das bedeutet, wir können nicht so einfach jemanden rauswerfen, dessen Meinung uns nicht gefällt. Da sind uns die Hände gebunden. Wir müssen durch unsere Programmatik beweisen, dass wir genau das nicht unterstützen, wir müssen zeigen, dass diese Extremisten fehl am Platz sind. Unser Grundsatzprogramm ist mittlerweile derart menschenfreundlich, dass uns sogar die Grünen und die Linken um unsere Gender- und Familienpolitik beneiden. Es dürfte ohnehin immer schwieriger werden, in dieser Partei Mitglied zu sein und ein krasses rechtes Meinungsbild mit sich herumzutragen.

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Sozialer Wohnungsbau und Aufwertung der Ghettos

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Wenn man die Wahlplakate von Linkspartei, Grünen und Piratenpartei vergleicht, sind die Botschaften sehr ähnlich: Senkung bzw. Abschaffung von KITA- und Studiengebühren, grüne Politik, soziale Stadtplanung. Warum braucht die Hamburger Bürgerschaft die Piraten und wo positioniert ihr euch im politischen Spektrum?

Holler: Am Anfang haben wir gesagt, wir sind weder rechts noch links, aber auch nicht Mitte, sondern vorn. Für mich persönlich ist das ein bisschen abgedroschen. Ich sehe mich als linksliberal oder linkslibertär. Es spielt aber auch keine große Rolle. Ich werfe den Linken vor, dass sie dogmatisch sind und an alten Konzepten für moderne Probleme festhalten. Ich werfe den Grünen vor, dass sie schon so früh ihre Wähler und ihre Prinzipien verraten haben, obwohl sie eine der jüngsten Parteien in Deutschland sind. Das fing an mit den Kriegseinsätzen, die sie unterstützt haben. Es ging weiter mit Hartz IV. In Hamburg haben sie sich mit Moorburg und der Elbvertiefung aufgegeben. Sie haben ihr Profil komplett verwässert. Bei den Piraten sind die Gründungsthemen bestimmend. Mit uns wird es keine Internetzensur geben, wenn wir in Regierungsverantwortung kommen. Mit uns wird es auch keine Einschränkung der Meinungsfreiheit geben. Dass man Kompromisse machen muss, und dass man unter Umständen für die Umsetzung von Sachen fünf oder zehn Jahre länger braucht als man möchte, ist uns klar. Wir würden aber eher in die Opposition gehen, als unsere Ziele aufzugeben.

Das haben die Grünen auch mal gesagt.

Ja, wenn ich in 15 Jahren meine Versprechen brechen muss, weiß ich, dass das der übliche Weg ist, den man machen muss. Aber dann würde ich auch konsequent sein und aufhören mit der Politik. (…)

Ein wichtiges Thema in Hamburg ist die Wohnungspolitik. Die Piraten wollen dem Leerstand von Gewerbeimmobilien bei gleichzeitiger Wohnungsknappheit mit der Abschaffung der Steuerfreiheit bei Veräußerung von Immobilien und der Abschaffung des Umsatzsteuer-Privilegs bei Gewerbeimmobilien begegnen. Daran sind gewiss auch andere Politiker schon gescheitert.

Holler: Die Vermietung von Immobilien ist per se von der Mehrwertsteuer befreit. Aber bei Neubauten kann man die Mehrwertsteuer geltend machen. Das bedeutet: Jemand baut einen Gewerbekomplex für 1 Million Euro, kriegt 190.000 Euro an Steuern zurück, bezahlt also effektiv nur 810.000 Euro. Anschließend wartet er, bis das Haus das Doppelte wert ist und verkauft es, ohne es jemals genutzt zu haben. Das ist derart attraktiv, dass es ständig passiert. Wir haben in diesem Jahr knapp 1,5 Millionen Quadratmeter Leerstand bei Gewerbeimmobilien in Hamburg. Trotzdem sind weitere Bauten beantragt und geplant. Wenn wir dieses Steuerprivileg abschaffen, könnte Folgendes passieren: Entweder entscheiden sich die Leute für einen Wohnkomplex, den sie mit Gewinn vermieten können, weil sich der Leerstand nicht mehr lohnt. Oder es bleibt so wie gehabt, weil der Bauherr das Haus aus anderen Gründen leer stehen lässt. Dann muss der Staat aber nicht mehr 19 Prozent Mehrwertsteuer zurückführen. Ergebnis: Entweder gibt es mehr Steuereinnahmen oder mehr Wohnraum. Das wäre leicht zu machen.

Der Wohnraum ist dadurch aber noch nicht bezahlbar. Wie sollen sich Leute mit niedrigem Einkommen eine Wohnung leisten können, ohne ihr altes Innenstadt-Quartier dafür verlassen zu müssen?

Holler: Die Stadt besitzt die gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft GWG/SAGA. Die muss ihre Mehreinnahmen an die Stadt abführen. Diese Mittel könnten in die Finanzierung von neuem Wohnraum gesteckt werden. Auf der anderen Seite gibt es das Instrument des sozialen Wohnungsbaus, das ziemlich vernachlässigt wurde. Sozialen Wohnungsbau gab es meist nur noch in Randlagen. Diese Quartiere werden aber schnell zu sozialen Brennpunkten. Wir haben in Hamburg zu wenig Geld ausgegeben für sozialen Wohnungsbau, und so viele Bewohner des Schanzenviertels und St. Paulis verdrängt. Wir Piraten möchten eine Mischung in der Stadt haben. Wie in Ottensen zum Beispiel. Da gibt es viele junge Eltern, ausländische Mitbürger, Punks, Studenten. Die leben dort recht friedlich zusammen.

Ottensen ist inzwischen aber auch recht teuer.

Holler: Ja, dem wird aber dadurch entgegengewirkt, dass sich mehrere türkische Familien in die Straßenzüge eingekauft haben. So wird der Gentrifizierung ein natürlicher Riegel vorgeschoben. Ein positives Beispiel für das Zusammenleben von Armen und Reichen, Menschen mit und ohne hohen Bildungsstandard, mit und ohne Kinder. Das sollte das Ziel der ganzen Stadt sein. Wir brauchen keine Blankeneses oder Alsterdörfer im Gegensatz zur Veddel. Wir brauchen sozialen Wohnungsbau in Blankenese, in Alsterdorf, in der City. Wir sollten gucken, wie wir das durch Umwidmung von Gewerbeflächen zu Wohngebieten realisieren können und dort dann sozialen Wohnungsbau betreiben. Dass die Innenstadt quasi tot ist, weil dort keiner mehr wohnt, ist kein guter Zustand.

Und was soll mit den “Ghettos” passieren?

Holler: Wir brauchen eine soziale Stadtentwicklung. Das heißt, die Aufwertung von Quartieren darf keine Opfer produzieren. Wenn die Leute mit ihrem Viertel wachsen und Veränderungen mit gestalten können, ist gegen Veränderungen nichts einzuwenden. Wenn man in Gebieten wie Veddel oder Neu-Allermöhe Pilotschulen startet, die besser ausgestattet sind, kleinere Klassen haben, Ganztagsschulen sind und aufs Abitur vorbereiten, könnte man eine Aufwertung aus sich heraus innerhalb von ein oder zwei Generationen erreichen. Wenn man es schafft, junge Leute für diese Stadtteile zu interessieren, so dass eine soziale Durchmischung stattfinden kann, dann reicht das aus. Ottensen ist auch nicht schön geboren, sondern so geworden, weil sich dort z.B. viele WGs angesiedelt haben.

Das hat man auf der Veddel mit dem Studentenförderungsprogramm versucht.

Holler: Man kann eine Fehlentwicklung aus 40, 50 Jahren nicht innerhalb von zwei oder drei Jahren kippen. Stadtentwicklung darf keine Hau-Ruck-Politik sein. Ich glaube, dass sich in ganz Hamburg etwas ändern würde, wenn man sozialen Wohnungsbau in der Stadtmitte betreiben würde. Dann könnten Leute, die an den Rand gedrängt wurden, aber ihre Wurzeln eigentlich mitten in der Stadt haben, wieder zurückziehen. (…)

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Kostenlose Kinderbetreuung und kostenlose Bildung

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Die Piraten fordern kostenlose KITA- und Studienplätze, kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, kostenfreien Zugang zu Kulturstätten für Empfänger von Transferleistungen… Wie wollt ihr das angesichts leerer Kassen finanzieren?

Holler: Wir haben keine leeren Kassen. Hamburg verdient und verballert ein Schweinegeld. Um kostenlose KITA-Plätze werden wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren gar nicht herumkommen, denn dann gehen die Babyboomer-Generationen in Rente. Wir werden einen derartigen Fachkräftemangel bekommen, dass wir Frauen händeringend für qualifizierte Jobs suchen werden. Spätestens dann – viel zu spät und hektisch – wird sich die Politik Gedanken machen müssen. Kostenlose Betreuungs- und Bildungsinstitutionen sind unter sozialen, aber auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll. Das mag in den nächsten fünf Jahren noch ein Zuschussgeschäft sein, aber in der Folge zahlen die Eltern, deren Kinder kostenlos betreut werden, ein Vielfaches an Steuern. Dieser Punkt muss auf die Agenda, auch wenn wir nicht ab dem 20. Februar im Rathaus sitzen.

Gilt das auch für kostenlose Studienplätze?

Holler: Ja. Je früher ein Mensch sein Studium vollendet und in den Job einsteigt, desto früher wird er Steuern zahlen. Und Akademiker zahlen tendenziell mehr Steuern. Investitionen des Staates in das Studium sind also eine Investition in die Zukunft, die Maximalrendite bedeutet. Man kann das krass BWL-mäßig runterbrechen: Studiengebühren sind wirtschaftlich nicht sinnvoll. Die 500 Euro, die ein Student an Semester-Gebühren zahlt, muss er verdienen. Das hält ihn womöglich vom Studieren ab, so dass er entweder länger braucht oder aber erst gar nicht anfängt und dadurch später weniger in die Steuerkassen einzahlt. Alle Leute sollen individuell die Möglichkeit bekommen, sich dahin zu entwickeln, wo sie hin wollen. Unabhängig von ihrer Herkunft.

Warum haben wir dann trotzdem Studiengebühren?

Holler: Weil wir Legislaturpolitik machen. Dass das in 30 Jahren viel höhere Kosten verursacht, weil wir dann weniger Steuerzahler und einen Fachkräftemangel haben, erscheint heute nicht so wichtig. Hauptsache, das Geld kommt jetzt in die Kassen.

Wenn Sie ins Rathaus einziehen, wird dann eine Piratenflagge am Rathaus wehen?

Holler: Nein. Erstens glaube ich nicht, dass das erlaubt ist. Zum zweiten wollen wir in Hamburg versuchen, vom Image der Spaßpartei wegzukommen. Es wird aber mit Sicherheit ein anderer Wind im Rathaus wehen, und es wird mit Sicherheit mehr nach außen dringen, weil unsere Strukturen nun einmal vernetzter sind.

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