von Meike Lobo, 29.8.12
Lieber SpiegelOnline, liebe Medien dieser Welt,
ich lese jeden Tag die neuesten Nachrichten, weil ich gerne mit einem Mindestmaß an Information durch die Welt gehe. Natürlich lese ich nicht alles; Sportmeldungen lese ich zum Beispiel gar nicht. Aber im Allgemeinen würde ich mich durchaus als interessierten Menschen bezeichnen, der sich gerne über die verschiedensten Themen und Ereignisse informieren möchte.
Leider bedeutet informieren bei Ihnen immer häufiger, Augenzeuge zu werden, weil bestimmte Meldungen nur als (Handy-/Überwachungs-)Videos zur Verfügung stehen, die bei Klick automatisch starten.
Ein Beispiel (etwas holperig, zugegeben, aber es trifft den Kern des Problems ganz gut).Heute, 28.08.12, ist bei SpiegelOnline folgender Screenshot zu sehen (links). Der kurzen Schlagzeile entnehme ich, dass wohl irgendein gefühlsamputierter Vollidiot seinen Esel kurzerhand an sein Auto gebunden hat und losgefahren ist. Gefilmt wurde er dabei anscheinend von einem anderen Autofahrer.
Liebe SpiegelOnline-Menschen, ich möchte gerne wissen, was mit dem Esel geschah, ob sein Peiniger gefasst wurde und wenn ja, welche Strafe er bekommen hat. Kurz: ich möchte mich über das Verbrechen informieren.
Was ich nicht möchte, ist, Augenzeuge dieses und anderer Ereignisse zu werden. Ich möchte keine gequälten Esel sehen, ich möchte nicht sehen, wie Katzenbabies an Pythons verfüttert werden, ich möchte nicht sehen, wie Luka Magnotta seinen Liebhaber isst, ich möchte nicht sehen, wie Teenager einen ganzen Wurf fiepender Hundewelpen in die Fluten eines reißenden Flusses werfen, und ich möchte auch nicht sehen, wenn in China kleine Mädchen von Autos überrollt und von Passanten stundenlang liegengelassen werden.
Ich. Möchte. Das. Nicht.
Und falls ich das wider Erwarten doch einmal möchte, dann SUCHE ICH DANACH.
Das Internet zeigt uns heute alles. Nichts bleibt verborgen, weil immer irgendein Depp seine Handykamera draufhält. Bilder, für deren Bewältigung Betroffene und Augenzeugen früher sofort psychologische Unterstützung bekommen hätten, werden heute hochauflösend frei Haus geliefert. Man kann sich das alles anschauen. Freiwillig und ohne psychologische Unterstützung. Das kann man beklagen und verteufeln, einzig aufhalten wird man diese neue Grausamkeit nicht können.
Martin Weigert von netzwertig.com befasste sich gerade gestern mit diesem Thema und vermutet hinter dem Beklagen der Bilderflut einen Wunsch nach einer bereinigten, geschönten Darstellung der Wirklichkeit. Weiters formuliert er:
In der westlichen Welt hat sich über die Jahrzehnte des Friedens und Wohlstands eine sehr distanzierte Haltung zum Tod entwickelt. Man versucht, ihn so wenig wie möglich zu thematisieren, und viele Menschen haben in ihrem ganzen Leben noch nie eine Leiche gesehen. Natürlich handelt es sich dabei um eine enorme Errungenschaft der modernen Gesellschaft. Doch es hat den Nachteil, das wir extrem sensibel reagieren, wenn wir doch einmal mit der “dunklen Seite” des Lebens konfrontiert werden und etwa einen ungeschönten Blick auf den Tatort eines Gewaltdelikts oder Unglücks erhalten.
Mit dem gesamten Tonfall impliziert der Autor eine positive Belegung solcher grausamer Bilder und Filme. Wer sie sich ansieht, stellt sich der hässlichen Wirklichkeit (und dem Tod gleich mit) und fällt nicht herein auf Wattebäuschchen-Journalismus. So ungefähr.
Geht es mir also um eine geschönte Darstellung? Will ich mir die Finger in die Ohren stecken, die Augen zukneifen und “LALALALALA!” machen? Habe ich ein distanziertes Verhältnis zum Tod und möchte Leichen aller Art aus meinem Kopf verbannen?
Die Antwort ist nein. Ich will die Augen nicht verschließen vor der Beschissenheit der Welt und der Menschen. Wird ja alles nicht weniger beschissen, wenn ich es ausblende. Mein Verhältnis zum Tod ist offen und aufgeklärt. Ich saß 20 Zentimeter neben meinem Vater, als er seinen letzten Atemzug tat.
Aber es ist eine Sache, sich mit dem Tod von Lebewesen auseinanderzusetzen, und eine völlig andere, sich Blut, Schreie, Todesangst und Eingeweide in bewegten Bildern anzuschauen. Bilder und Filme mit Blutlachen, abgetrennten Gliedmaßen und qualvollem Miauen fügen nicht das kleinste Bisschen Informationsgehalt zu einer Meldung hinzu.
Ich muss mich der Hässlichkeit der Welt stellen, so wie jeder andere Mensch auch, aber ich muss das nicht in epischer Breite, in Farbe und HD sehen. Ich muss mir nicht das Gefühl holen, dabeigewesen zu sein.
Und es ist für mich auch nicht Ausdruck von Stärke, Realismus oder einer besonders fortschrittlichen Haltung zum Tod, das zu tun.
Für mich, und vermutlich für die meisten anderen Menschen auch, ist es ein Unterschied, ob ein Ereignis in sachlichen Journalistensprech geschildert wird, oder ob man sich das direkt in HD mit eigenen Augen ansehen muss.
Bewegte Bilder von grausamen Ereignissen zu sehen, erzeugt einen Schmerz und eine Wut in mir, die augenblicklich dazu führen, dass ich entweder selber nicht mehr leben möchte, oder dass ich möchte, dass alle anderen nicht mehr leben. Bewegte Bilder machen mir Bauchschmerzen und Übelkeit, Albträume und Seelenqual.
Und ich möchte, dass diese Inhalte in den Gore-Portalen dieser Welt liegen bleiben und mir nicht von seriösen Medien auf dem Silbertablett präsentiert werden.
Dass ich wählen kann, ob ich so etwas sehen möchte oder nicht, ohne damit – falls nicht – auch gleichzeitig die Entscheidung gegen Information zu treffen.
Liebe Medienleute und Journalisten, bitte geben Sie mir die Möglichkeit, mich zu informieren, ohne dass ich Filme sehen muss.
SpiegelOnline-Menschen, bitte stellen Sie Ihren Videoclips kurze Beschreibungen voran (länger als die auf dem Screenshot) und das automatische Abspielen ab.
Geben Sie mir die Möglichkeit zu erfahren, was mit [hier irgendein Lebewesen einsetzen] geschah, ohne dass ich sein Leiden mit eigenen Augen sehen muss.
Bitte. Danke.
Ihre
Meike Lobo
Crosspost von Fuck you, I’m human.