von Christoph Kappes, 8.7.16
Es ist interessant, dem Journalismus in einer Debatte um sich selbst dabei zuzusehen, wie er Erwartungen an sich selbst stellt: unabhängiger, hintergründiger, langsamer, distanzierter, meinungslastiger soll er beispielsweise sein – in manchen Punkten auch das Gegenteil. Das Thesenpapier der OTTO-Brenner-Stiftung wirkt aus meiner Perspektive wie ein Musterbeispiel: in Schritt eins wird über die Staatsform der Demokratie die Notwendigkeit und Unabhängigkeit von Journalismus betont und in Schritt zwei die Bedrohung durch trojanische Informationsangebote beklagt, die „Animationscharakter“ haben, um der „Aufmerksamkeitsökonomie“ zu dienen. Das sind keine erregenden Neuigkeiten, und wenn sie dann noch im Duktus der Frankfurter Schule vorgetragen werden (Stichwort: Nachrichten als Ware), wirkt das ein bisschen aus der Zeit gefallen.
Nimmt Wissen durch Debatten ab?
Noch interessanter ist aber, wie eine Journalismus-Debatte verläuft. Denn sie hat viele Stimmen, sie ist unübersichtlich, findet kein Ende, gereiztes „Hört doch bitte auf!“ oder amüsiertes „Meta Meta!“ ist zu hören. Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, dass das Wissen über den Zustand des Journalismus und seine Zukunft nicht mit jedem Text über dieses Thema zunimmt, wie man hoffen könnte. Das Wissen nimmt mit jedem Text ab, weil jeder Text eine neue Interpretation hinzufügt und alte Interpretationen infrage stellt. Es gibt fast kein empirisches Vorgehen, Meinungen türmen sich auf Meinungen, gefolgt von Befragungen über Meinungen, denen man Meinungen hinzufügt; das Lagebild ist widersprüchlich, brüchig, lückenhaft. Weniger als eine Woche nach einem klaren Votum des britischen Souveräns ist jedenfalls nicht mehr klar, ob es dazu kommt. Rudolf Augstein sagte „Die Zahl derer, die durch zu viele Informationen nicht mehr informiert sind, wächst“. Leider ist es schlimmer, denn das Problem ist nicht nur quantitativ, sondern qualitativ: Wissen im Sinne einer Information, die vielleicht nicht wahr, aber doch gesichert ist, nimmt bei Debatten nämlich ab.
Diese Beobachtung ist der Schlüssel, um die Probleme des Journalismus zu verstehen. Denn was für Texte über den Journalismus gilt, gilt für jeden journalistischen Text über jeden anderen Gegenstand. Zwar gibt es noch eine Ebene verlässlicher Fakten, etwa ein Abstimmungsergebnis, ein erlassenes Gesetz, eine Zahl im Bundeshaushalt. Auf der Ebene der Bewertungen und der Einordnungen aber ist der Journalismus in den Fängen der steigenden Komplexität seines Berichtsgegenstandes. Das ist auch ganz subjektiv meine Erfahrung auf den Gebieten Digitalisierung und Netzpolitik, wo ich die steigende Komplexität nachweisen könnte – auch ich als Experte bin in einigen Teilbereichen überfordert und nicht sofort sprechfähig. Komplexität im engeren Sinne und nicht als „Kompliziertheit“ heißt ja, dass es keine einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mehr gibt. Die Konsequenz: Man lernt mit jedem gelesenen Text, dass alles auch ganz anders sein könnte. Ein Gefühl, gesichertes Wissen erworben zu haben, stellt sich nicht ein; vielmehr fühlt man sich unbefriedigt wie ein Junkie. Die Funktion der Massenmedien ist nicht Erkenntnis, sondern die Erzeugung/Bearbeitung von Irritation und die Steuerung der Selbstbeobachtung der Gesellschaft, um es mit Luhmann mit zwei Formulierungen aus „Die Realität der Massenmedien“ zu sagen. Wir müssen die Unklarheiten selbst lösen oder uns auf andere verlassen.
Das Problem des Journalismus ist seine Umwelt
Man muss das noch weiterdenken: Eine sinnvolle Diskussion über den Journalismus ist nie eine Diskussion nur über Journalismus allein, sondern eine der Beziehung zwischen dem Journalismus und seiner Umwelt. Wir sehen nämlich, wie sich die Umwelt des Journalismus wandelt. Erstens die räumliche Verdichtung durch EU und Globalisierung – Nordafrika ist beispielsweise in den Tagesnachrichten hinzugekommen, China wird in jeder Beziehung wichtiger und durch EU und Nato rücken Konflikte wie die Ukraine in unsere Nähe. Wir sehen zweitens die Zunahme der technischen Geschwindigkeit durch Digitalisierung, aktuell gerade beispielsweise bei Live-Video gut zu beobachten, das über Periscope und Twitter, Facebook Live-Video und nun auch Youtube zu uns dringt. McLuhan hat das als globales Dorf vorhergesehen, doch so fühlen wir es nicht, vielmehr stürzt die Wirklichkeit aus allen Richtungen auf uns ein.
Die „Vertrauenskrise“ kommt von Außen
Leser nutzen viel mehr Produkte als noch zu Print-Zeiten. Durch die digitalen Zugriffswege zu Medienprodukten auf der Angebotsseite entsteht auf der Rezipientenseite massive Unsicherheit: Diese vielen Sichten auf die Welt fügen sich nicht ohne weiteres zu einem großen Bild, sind widersprüchlich, brüchig, lückenhaft. Wer kann denn im Publikum wirklich erklären, ob es zu einem Brexit kommen wird? Oder wie es zum Scheitern des Arabischen Frühlings kam? Wer hat den Streit FBI vs. Apple wirklich verstanden – außer zehn Tech-Journalisten? Niemand kann die medialen Auswerfungen zu einem Topos von ihren Unstimmigkeiten, Unschärfen und Widersprüchen bereinigen, weil die Topoi selbst so unklar oder widersprüchlich geworden sind oder die Auflösung höchste Kenntnis der Zusammenhänge voraussetzt. Mit einfachen Erklärungen geben wir uns ja nicht mehr zufrieden: Den Glauben an Kirche, Kaiser, politische Autoritäten, Brockhaus, Knigge und Eltern haben wir uns ja in der Moderne selbst genommen (jetzt sind unter anderem Parteien und Gewerkschaften dran). Hier sieht man sofort, dass die unbestreitbare Vertrauenskrise des Journalismus systematisch eine Tendenz seiner Umwelt ist: Wo Institutionen an Vertrauen verlieren, verliert auch der Journalismus als institutionelle Praxis an Vertrauen.
Internet als Kritikmaschine
Schon ohne das Internet war angesichts zerfallender Institutionen keine ketzerische Frage mehr: Wieso sollten wir denn ausgerechnet Journalisten weiterhin glauben, wenn wir auch Kirche, Duden und Politikern weniger glauben? Mit diesen Welterklärern muss die Glaubwürdigkeit verglichen werden, nicht mit Ärzten und Polizisten. Jetzt, mit Hinzutreten des Internets haben wir Jedermann-Kritik, die eine neue Dimension hat. Gerade Journalisten wissen, welche Wirkung Kritik haben kann: Mit Kritikschriften als Werkzeug der Aufklärung haben Kirche und Könige ihre Stellung eingebüßt. Die Kritikmaschine Internet stellt jede Aussage in Zweifel – und dies auch noch direkt an den Produkten des Journalismus. Es werden also nicht etwa nur Texte kritisiert, es wird mit den Texten immer auch Journalismus als Institution (soziale Praxis) kritisiert. Die Vertrauenskrise des Journalismus lässt sich also recht gut ohne selbstgemachte Ursachen des Journalismus erklären: sie hat mit Gesellschaft und Kommunikationsmitteln zu tun.
Selektionszwang spaltet das Publikum
Aus Leserperspektive zeigt es sich noch dramatischer. Denn der Leser – und zwar auch der, der unterhalten werden will! – muss Konzepte der Welt bilden, er muss Sinn für sich erzeugen. Der Nachrichtenkonsum der Onliner erfolgt mit weit weniger Markentreue (viele Medienmarken) als in der Prä-Internet-Zeit. Wer von diesen ein konsistentes Bild (etwa zur Finanzkrise) haben will, muss hohen Aufwand betreiben, um alle Information zu filtern und von Widersprüchen zu bereinigen. Der Aufwand des Lesers ist also durch Medienvielfalt gestiegen, ein schon 1973 von Daniel Bell beschriebenes Phänomen („Die nachindustrielle Gesellschaft“). Da trotz leicht steigenden Mediennutzungszeiten niemand alles verfolgen kann, spaltet sich das Publikum unter Selektionszwang in thematisch Interessierte und Desinteressierte. Unter beiden Gruppen gibt es Menschen, die dem Journalismus auf ihre Art zu schaffen machen, seien es gut informierte „Foristen“, die mit jeder Kritik die Institution angreifen, seien es Desinteressierte, welche trollen oder Texte unverstanden und zumeist auch ungelesen kritisieren. Beide Phänomene schaden dem Journalismus. Als „Onliner“ sehe ich immer deutlicher, dass das tägliche Bündel der Print-Zeitung eine Entlastung darstellt, weil es begrenzt und somit bewältigbar ist. Einige haben diesen Bedarf erkannt und mit ihren „Morning Briefings“, „Espressos“ und anderen Newslettern reagiert. Der Erfolg spricht dafür, dass wir mittelfristig dann doch zu einer Art teilpersonalisiertem Bouquet im Webclient kommen – eine Art Rösselsprung über den Newsletter zur Site als dessen URL-Geschwister. Tl;drs, Abstracts und Kuratierung zeigen auch in diese Richtung.
Qualitätsprobleme?
Qualitätsprobleme sind nicht zu übersehen: während ich diesen Text schreibe, meldet die SZ eine Petition, deren Manipulation durch 4Chan sie nicht erkennt, die FAZ postet „Die Volksrepublik treibt seine (sic) Weltraumpläne voran“, der SpOn-Ableger bento erklärt junge Briten zu Opfern der alten Briten und übersieht dabei deren geringe Wahlbeteiligung. Keiner dieser Fehler wäre in den 1980ern unterlaufen. Das ist aber ökonomisch nachvollziehbar: Anders als früher gewinnt der erste den Traffic, anders als früher braucht man Social Media Manager, die nicht Journalisten, sondern Textvermarkter sind, welche die Aufmerksamkeit des Publikums abmelken. Diese Qualitätsprobleme beruhen nicht auf Unvermögen, sondern sind ökonomisch verursacht. Sie wären daher ökonomisch prinzipiell behebbar, wenn nur die Einnahmenseite es erlauben würde. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass Journalisten dümmer oder schlechter geworden wären. Eher ist der Anspruch gestiegen und es gibt Kräfte, die der Qualität entgegenwirken, wofür der Journalist nicht haften kann.
Belastung durch „Animationsarbeit“
Onlinejournalismus ist in der Tat von „Animationsarbeit“ bedroht. Content Marketing kommt in Gestalt journalistischer Angebote daher, ist aber zumeist doch nur Werbung, sagt selbst der Content-Marketing-Guru Klaus Eck immer wieder (z. B. hier). Werbeformate werden aggressiver, zugleich ist mit Native Advertising ein Chamäleon auf den Plan getreten, das sich wie Journalismus färbt – man kann nur hoffen, dass bento und ze.tt, beide für Native Advertising geschaffen und defizitär, nicht vollends eine ebensolche Journalismusatrappe wie Buzzfeed werden. Das würde dem Journalismus schaden. Klar ist auch, dass es immer mehr obskure Medienangebote, immer mehr Lobbyismus, machtorientierten Egomanen-Aktivismus bis hin zu gezielter Desinformation gibt (Beispiel RT) sowie Trollarmeen, Fakeaccounts und Sockenpuppen. Der Journalismus könnte eines Tages in diesem Rauschen untergehen.
Entlastung des Journalismus
Viele digitale Phänomene lassen sich jedoch ganz wider den Zeitgeist nicht nur als Belastung, sondern sogar als Entlastung des Journalismus deuten.
- Mit der Nutzungsänderung vom Push zum Pull (Google etwa) und der Technik der Verlinkung wird Aufmerksamkeit auf andere Inhalte verschoben, etwa Quellendokumente, Studien, Websites der Akteure.
- Stabiler und instruktiver Inhalt findet sich häufig in der Wikipedia, die in den ersten Tagen eines Ereignisses halbwegs neutral und gesichert guten Überblick bietet. Ich jedenfalls beobachte bei mir, dass ich ein aktuelles Thema bei Wikipedia nachlese (und für weniger aktuelle die einleitenden Teile von Dissertationen).
- Trotz aller Kritik am Niveau von Onlinekommentaren finden sich auf Facebook gute Statements und Beiträge bei den Akteuren, Experten, Journalisten. Das eine oder andere Medienmagazin nährt sich davon. Kann es sein, dass auf einer Art digitaler Allmende schon die Kühe grasen, während Medienprofis auf die privaten Bauernweiden starren?
- Twitter ist eine weitere mediale Schicht, welche schneller operiert als journalistische Produkte sein können, daher entlastet Twitter den Journalismus. Was über Social Media eine Nachricht war, lässt den Massenmedien Raum für Deutung. Die Erwartung, man müsse als Journalist so schnell wie Twitter sein, ist nicht nur völlig praxisfern, sie ist auch systemisch ohne Nutzen.
- Neben der Sicht, dass der Journalismus angegriffen wird, ist auch die Sicht valide, wonach die Massenmedien in vielen Dimensionen eine Erweiterung erfahren, „entgrenzt“ sind. So erzählen animierte GIFs der Netznutzer zum Brexit ein Narrativ, mit dem sich Journalismus auseinandersetzen kann, so übernehmen bestimmte Twitterer Kritik-, Moderations- oder Verstärkerrollen, so erspart das E-Plus-Magazin „Curved“ journalistische Handyberichte, ohne dass die demokratische Willensbildung gefährdet wäre.
Vereinfachung bleibt nötig
Nach Thorngate kann sich der Vereinfacher aussuchen, ob er auf Genauigkeit oder Generalisierung sozialer Theorie verzichtet – das ist der Grund dafür, wenn im Boulevardjournalismus, im Talkshowjournalismus und im Social Web meist nur Polaritäten aufeinanderprallen und eine brauchbare Abstraktion nicht zur Sprache kommt. Wer eine Idee hat, wie das weniger medienkompetente Publikum diesen Unterhaltungsstoff durch weniger drogenhaften Stoff ersetzt, kann zur Zeit den Pulitzerpreis gewinnen.
Lösungen
Es liegt auf der Hand, dass bei „Ausbildung“ und „Bezahlung“ sowie „Unabhängigkeit“ Handlungsbedarf ist. Dabei ist die Finanzierungsfrage vorrangig, sie erscheint mir aber wegen der Bedeutung des Journalismus für die Gesellschaft letztlich unkritisch – eine Gesellschaft, die ihre Selbstbeschreibungen nur noch mit Content Marketing erhält, würde sofort zu kollabieren drohen und folglich eine öffentlich-rechtliche Lösung finden.
In Zeiten des Umbruches muss „outside the box“ gedacht werden. Es sind ein paar grundsätzliche Dinge zu klären:
- Spezialisierung. Nur wenige Journalisten können noch Welterklärer sein (er wirkt ohnehin etwas unzeitgemäß), sie müssen die Spezialisierung angehen wie jeder andere Beruf auch. Das Ziel ist, sich so auszukennen, dass man Kontexte versteht und Aussagen hinterfragen kann. Neben der fachlichen Ebene heißt das aber auch, die eine oder andere Social-Media-Krawallnudel an Markenartikler abzustoßen und diese Funktion journalistisch zurückzuerobern.
- Expertisen. Journalismus darf sich weiter als Vermittler zu Fachexperten verstehen, diese müssen aber für das Publikum verständlicher werden. Das geschieht, in dem man sich als Journalist mit einer Materie beschäftigt und nicht nur zum Interview greift, dem Format für Arbeitsscheue. Wer zum Beispiel über Brexit schreibt, sollte die entscheidenden Dokumente kennen und die Experten mehr herausfordern, als sie nur zu moderieren.
- Kollaboration: Journalismus kann sich viel von Prozessen des Software Engineering abgucken (http://christophkappes.de/software-engineering-als-muster-fur-journalismus-der-zukunft-2/). Kollaboration ist einer solcher Aspekte. Zusammenarbeit erzeugt schneller bessere Texte.
- Open Source Software: Zur Verbesserung der Unabhängigkeit gegenüber digitalen Plattformen sind Software-Projekte zu fördern, die mit Open Source die Infrastruktur für vernetzte Angebote entstehen lassen. Wenn wir über das öffentlich-rechtliche System Sendemasten und Satelliten bezahlen, ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Voraussichtlich wird es aber sehr lange bei Nischenjournalismus auf diesem Wege bleiben, wie wir es ja auch von den „Stattzeitungen“ und „Offenen Kanälen“ der Vergangenheit kennen. Gewerkschaftsstiftungen gewinnen hier zwar keine neue Klientel, könnten aber mit gutem Beispiel selbstlos vorangehen.
- Institutionalisierung. So sympathisch Einzelkämpfer auch sind: Einzelne Journalisten können zwar sehr hohe Vertrauenswerte erreichen, eine Organisation kann aber durch Prozesse und „Checks und Balances“ mehrerer Personen die Vertrauensstellung besser sicherstellen. Daher sollte es auch Versuche geben, mit organisatorischen Mitteln „den Journalismus neu zu erfinden“. Hierzu gehören Medienkritik (auch überkreuz), qualitätssichernde Instanzen (Qualitätssiegel). Ansonsten ist eine Frage der Zeit, bis Aggregatoren und Pay-Anbieter wie Blendle diese Rolle einnehmen und die Aufmerksamkeit steuern.
- Aufmerksamkeitsmaschinen vom Typ Buzzfeed, aber auch bento und ze.tt und viele andere mehr, verkehren Mittel und Zweck aus Vermarktungsgründen. Das ist in der Marktwirtschaft die Regel (Stichwort „Ökonomisierung“), kann man also schlecht verbieten. Dennoch muss das Trennungsgebot nach UWG, Pressegesetzen und RStV von Durchsetzungsmaßnahmen flankiert werden, sei es durch Klagemöglichkeiten oder Rechtswidrigkeit von Werbeverträgen. Die Kennzeichnungspraxis ist jedenfalls inakzeptabel. Die Akteure des Journalismus schädigen sich so selbst.
- Journalismus der zwei Geschwindigkeiten. An vielen Stellen wird diskutiert, ob mehr Leistung nicht durch zwei getrennte Systeme erzeugt werden kann. Ob nun als „IT der zwei Geschwindigkeiten“ oder der Organisation allgemein, wie John Kotter in „Accelerate“ beschreibt. Möglicherweise wäre es ein Ansatz, Nachrichten und Meinungen bzw. Hintergründe organisatorisch stärker zu trennen, da sie andere Kompetenzen erfordern.
- Duktus und Milieu. Den Zielen des Journalismus stehen Journalisten selbst im Weg, wenn sie die Sprache des Volkes nicht sprechen. Hier fehlt wohlmöglich ein Relaunch der Boulevardkultur, um die sich unter Intellektuellen niemand schert und sie mit Verachtung straft. In diesem Zusammenhang ist auch die Gefahr zu nennen, sich ungeachtet aller Widersprüche in der Welt sich vom weissen Blatt Papier aus die Welt kohärent zu erschreiben, ein Phänomen, das Armin Nassehi den scholastischen Epistemozentrismus im Sinne Bourdieus nennt. Nils Minkmar hat gerade im DLF ein Beispiel davon gegeben, indem er angeblich ungelöste Krisen aufzählte (jeden Einzelpunkt könnte man mit guten Argumenten bestreiten), in der Politik dreier Staaten „Hoffnungsträger“ vermisste und sich ein „Aufwachen“ des Volkes wünschte. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man es für einen unsubstanziierten Querfront-Beitrag halten.
Rollenbilder
Menschen vergleichen heute das Gehirn gern mit einem Computer, nachdem es die Generationen davor erst für eine Wachstafel, dann für ein mechanisches Werk und dann für eine Schalttafel gehalten haben. Ist der Journalist ein „Informationsverarbeiter“ oder fallen wir auf eine Analogie zur Arbeitsweise von Computern herein, die so unpassend wie der alte „Bote“ ist? Denn wie kann den Journalismus etwas unterscheiden, was für Richter, Politiker, Mediziner gleichermaßen gilt, die ja ebenso nichts anderes als Informationsverarbeitung betreiben? Ist er „Sprecher“, wie das Papier der Brenner-Stiftung sagt? Muss ein Journalist von seiner Rolle her vielleicht immer mehr auch irgendwie ein Didaktiker sein, irgendwie ein Dirigent und Moderator und Diskurs-Strukturierer, in Zeiten der Groko ein Oppositioneller oder irgendwie ein Change Manager oder ein Konfliktbearbeiter sein? Ein Ziele-Sucher mehr als ein Ziele-Haber, wie Dirk Baecker über postheroische Führung schreibt? Mir gefällt diese Sicht, denn den heroischen Leitartikler, der uns seine beschriebene Tafel herabreicht, kann ich nur noch in der größten Krise als Welterklärer ertragen.
Vielleicht ist er aber auch Vermittler und Schnittstelle, das überschneidende Element des Mediensystems und des Berichtsbereiches zugleich, da er der Gesellschaft fortlaufend eine Beschreibung von ihr liefert, die sie fortlaufend braucht. Das klingt abstrakt, ist aber die Erklärung für ganz konkrete Phänomene wie zum Beispiel Meldungs-Redundanzen und –Selbstverständlichkeiten, etwa zu Verurteilungen von Mördern. Vielleicht ist der Journalist sogar in einer Position wie das mittlere Management, von dem Luhmann schreibt, es sei für eine lose Kopplung der Personenkreise „oben“ und „unten“ zuständig. Sinn des mittleren Managements sei es, die Ebenen so zu trennen, dass „die oben“ und „die unten“ ihre Routinen erledigen. Für Journalisten könnte das heißen: Journalisten sind an der Grenze von beispielsweise Politik und Gesellschaft und haben in beide Richtungen zu vereinfachen. Die zynische Interpretation dessen: Journalismus bietet dem Politiker das Gefühl, eine chaotische Welt als geordnet wahrzunehmen, und eine Illusion von Steuerbarkeit der Welt. Dem Publikum bietet er neben Unterhaltung einige einfache Erklärungen und eine Illusion von Steuerbarkeit der Welt. Dass sie für beide Seiten nicht steuerbar ist, hat gerade der Brexit eindrucksvoll bewiesen.
Der Text erscheint im Rahmen des Dossiers „Journalismus – Aufklärung oder Animationsarbeit?“, das in Zusammenarbeit mit der Otto Brenner Stiftung entsteht. Ausgangspunkt ist das dort publizierte Arbeitspapier „Journalist oder Animateur – ein Beruf im Umbruch. Thesen, Analysen und Materialien zur Journalismusdebatte“ von Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz. Wir setzen die Debatte in den nächsten Wochen fort.
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