von Oliver Suchy, 8.5.15
Die Debatte um die Digitalisierung der Arbeitswelt wirft momentan mehr Fragen als Antworten auf. Einigkeit besteht in der Aussicht, dass sich die Arbeit der Zukunft mit der digitalen Vernetzung und Vermessung der Welt grundlegend verändern wird. Doch die Arbeitswelt 4.0 ist noch nicht konfiguriert, sie entsteht nicht per Mausklick. Noch liegen die Perspektiven in der Cloud. Die Arbeit der Zukunft ist ein Experimentierfeld. Forschungsprogramme laufen auf Hochtouren. Und das ist auch gut so. Denn die Digitalisierung ist ein Prozess, eine politische Gestaltungsaufgabe.
Die Aussicht auf neue Chancen – höherwertige Arbeit und bessere Arbeitsbedingungen – hat die gleiche Berechtigung wie der Blick auf neue Risiken, zum Beispiel die massenhafte Verdrängung – auch hochwertiger – Arbeitsplätze. Nehmen wir die Zukunft also gemeinsam in die Hand. Doch verhalten wir uns dabei nicht wie die Lemminge. Entscheidend ist, technologische Innovationen nicht allein auf die künftige Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz auszurichten, sondern auch und vor allem auf die Rolle des Menschen, der Beschäftigten und damit auf die Arbeitsmarktverfassung, die Qualität der Arbeit. Schließlich liegt hier schon heute viel im Argen.
Nehmen wir die Aussicht auf mehr Flexibilität, also größere Spielräume, dem Versprechen neuer Freiheiten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Von einem neuen Flexibilitätskompromiss ist die Rede. Klingt gut. Doch spiegeln wir diese Perspektive mit einem aktuellen Megatrend auf dem Arbeitsmarkt, der seit Jahren erfahrbar ist: Stress. Arbeit ist Stressfaktor Nummer Eins, der Boom psychischer Erkrankungen inklusive – zuletzt 59 Mio. registrierte Fehltage im Jahr. Kein Wunder: Mehr als die Hälfte fühlt sich seit Jahren gehetzt bei der Arbeit, zwei Drittel müssen immer mehr in der gleichen Zeit schaffen. Viele müssen permanent erreichbar sein und können nicht abschalten. Generell führt die Flexibilisierung zu einer deutlichen Verlängerung der Arbeitszeit. Pro Jahr werden eine Milliarde unbezahlte Überstunden geleistet.
Bislang war Flexibilität also ein sehr einseitiges Instrument zur Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung im Sinne der Unternehmen. Mehr Freiheit für die Beschäftigten ist im wahrsten Sinne notwendig und keine Modeerscheinung der Generation Y. Doch kann die Digitalisierung für einen “neuen Kompromiss” im Sinne der Beschäftigten genutzt werden und wie kann dieser aussehen?
Arbeit wird mobiler und kann durch digitale Instrumente neu organisiert werden. Ein Beispiel ist KapaflexCy – ein Forschungsprojekt des Fraunhofer IOA, das eine bedarfsorientierte Steuerung der Arbeitszeiten via Smartphone-App ermöglicht. Allerdings wird der Bedarf vor allem auf die Effizienz, sprich die Auftragslage des Unternehmens, ausgerichtet. Das mobile Endgerät wird also zum Instrument, um Beschäftigte auf Distanz zu führen und den Arbeitseinsatz, auch jenseits regulärer Arbeitszeiten, zu optimieren. Old School heißt das Arbeit auf Abruf – ein Modell, das nicht neu ist, aber durch die Digitalisierung an Bedeutung gewinnen kann.
Doch wie entstehen so neue Freiräume für Beschäftigte? Verbunden werden solch digitalen Flexibilisierungsstrategien gern mit den Interessen der Beschäftigten, die vielfältiger werden. Doch werden neue Bedürfnisse und notwendige Bedarfe wie Kinderbetreuung, Pflege, Fortbildung oder Erholung und Teilhabe am sozialen Leben durch solch wettbewerbsorientierte Arbeitszeitmodelle erfüllt? Erleichtern digitale Möglichkeiten tatsächlich die Tages-, Wochen- oder gar Lebensplanung? Oder haben wir es mit einer ganz neuen Form der Fernsteuerung zu tun, die Arbeitszeit unter dem Diktat der unternehmerischen Effizienz sogar entwertet? Ein neuer Flexibilitätskompromiss, also die Nutzung digitaler Möglichkeiten für mehr Freiheit von Arbeit, eine selbstbestimmte Verteilung von Arbeitszeit und Privatleben setzt voraus, dass die Beschäftigten darüber mitbestimmen können, was wann zu leisten ist und wie Flexibilität organisiert wird.
Die politischen Initiativen für die “Arbeitswelt 4.0” brauchen nicht nur gemeinsame Plattformen, sondern ein solidarisches Grundverständnis – klingt vermutlich voll Achtziger, ist aber auch und gerade in digitalen Zeiten kein Anachronismus. Denn dazu gehört nicht nur die Frage, wann und wo wir arbeiten, sondern wie wir den neuen Anforderungen gerecht werden können, wie Aufgaben und Leistungsziele definiert werden. Dafür brauchen wir in Zukunft mehr Beteiligung und Mitsprache der Beschäftigten. Was nützt die Freiheit für Ort und Zeit, wenn die Leistungsziele zu hoch, der Takt zu schnell und die Aufgaben nicht zu schaffen sind? Was nützt zum Beispiel eine Vertrauensarbeitszeit, wenn abhängig Beschäftigte zu Arbeitskraftunternehmern im Unternehmen oder in der Cloud gemacht werden und über Ziele gesteuert werden, die sie ebenso wenig beeinflussen können wie die dafür notwendigen Ressourcen. Byung-Chul Han (Psychopolitik, 2014, z. B. hier) nennt dies seduktiv – also verführend – und spricht von der Ausbeutung der Freiheit. Die Verantwortung für Arbeitsergebnisse wird bei solchen Formen indirekter Steuerung individualisiert, die Entgrenzung der Arbeit von der Frage und Verantwortung der Arbeitsorganisation abgelöst und den Beschäftigten selbst angeheftet. Schnell fällt in diesem Kontext das Stichwort Selbstausbeutung – eine bezeichnende, weil Interessen geleitete Interpretation. Als Gegenkonzept zu den – zum Teil so ausgelösten – boomenden psychischen Erkrankungen wird gern die Stärkung der individuellen Resilienz angeführt. Resilienz – dies nur eine Fußnote – stammt ursprünglich aus der Materialforschung und meint die Fähigkeit von Stoffen, selbst nach extremer Verformung wieder den ursprünglichen Zustand anzunehmen. Von ausgepressten Zitronen ist diese Fähigkeit allerdings nicht bekannt.
Die große Verführung könnte also mit der Digitalisierung in eine neue Dimension eintreten. Das gilt nicht zuletzt für die Überwachung und Kontrolle von Arbeit bzw. den Beschäftigten. Während inzwischen ganz offen neue Algorithmen zur umfassenden Arbeits- und Leistungskontrolle entwickelt werden, ermöglicht schon allein das Arbeiten in der Cloud eine ganz neue Transparenz und lädt zu permanenten Leistungsvergleichen ein. Dazu kommen Optimierungsprogramme für Beschäftigte in Form von Apps, Wearables oder auch Implantaten, die einen persönlichen Nutzen versprechen, mit denen aber Vitaldaten erhoben und im Sinne ökonomischer Effizienz ausgewertet werden. Selbst der Schlaf wird getrackt – alles anonymisiert und aggregiert, wer es glauben mag. Gibt es die neue Freiheit nur im Tausch gegen den Verlust von Freiheit? Greift die Verführung digitaler Möglichkeiten auf Kosten der Privatsphäre auf die Arbeitswelt über? Oder entsteht ein neues Bewusstsein, wenn nicht nur anonyme Datenkonzerne das Privatleben ausspähen, sondern plötzlich die Aussicht besteht, dass auch der Chef das eigene Ich ausleuchten kann und die persönliche Zukunft von Algorithmen abhängt?
Es wäre reichlich naiv, allein darauf zu hoffen, dass sich die Potenziale der Digitalisierung für eine Humanisierung der Arbeit von selbst entfalten. Die entscheidende Frage ist, wie wir den digitalen Transformationsprozess für Gute Arbeit nutzen können. Und hier sitzen wir tatsächlich in einem Boot. Denn der Wandel zur Industrie 4.0 und der Smart Service Welt lässt sich nur gemeinsam von Unternehmen und Beschäftigten bewältigen. Deshalb reicht eine alleinige Fixierung auf Effizienzgewinne nicht aus. Es ist nötig, das Know-how digital der Beschäftigten upzugraden und Arbeit so flexibel zu organisieren, dass sie nicht krank macht. Dafür braucht es neue Spielräume, die sich aber nur erschließen lassen, wenn die Beschäftigten selbst- und mitbestimmen können. Dies ist eine entscheidende politische Gestaltungsaufgabe für die Arbeit der Zukunft.
Wieviel Ideologie steckt in der Vorstellung, dass jede zweckgerichtete Tätigkeit Arbeit sei? Wie verändert sich die Arbeitswelt mit der Digitalisierung? Welche Rolle spielt das Individuum angesichts globalisierter Produktionsströme? Wie verändert sich die Kommunikation über Arbeit, und wie die Kommunikation, wenn sie zur Arbeit wird? Beiträge zu diesen und anderen Aspekten von Arbeit finden Sie in im Carta-Dossier: “Ausbeutung 4.0? Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?”.
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