#Absprachen

Die Gewalt in den Gedanken

von , 18.9.15

Einige vermeintlich widersprüchliche Eindrücke zum Thema Flüchtlinge und Integration im Verlauf des gestrigen Tages:

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Aus der Sendung des Deutschlandfunks “Tag für Tag, Aus Religion und Gesellschaft”:

Hashem, eine Freundin, schreibt auf Facebook: “Ich habe heute in einem Geschäft einen Dialog gehört. Der eine Mann sagt: ‘Hast du gesehen, die vom IS haben vier geköpft?’ Der andere: ‘Wirklich? Aber das sind dann eher keine Muslime.’ Mann eins: ‘Die vom IS haben eigentlich gute Ziele, aber die Umsetzung ist falsch. Sie wollen alle Nicht-Muslime vernichten. Und das ist eigentlich halal [arabischحلال , rein, erlaubt, Anm. BF]. Aber sie übertreiben es ein bisschen.’ Der zweite sagt: ‘Das stimmt. Das sind echte Gläubige, aber ein bisschen extremistisch.'”

Die Männer in der Runde [gemeint ist ägyptische politische Salon namens “Merit”, der in der Sendung porträtiert wurde, Anm. BF] schauen sich ratlos an. Auf solche Unterhaltungen haben auch sie keine Antworten mehr. Sie wundern sich nur noch, wie die extremistische Variante einer Religion den Alltag durchwirkt. Sie sind müde, lehnen sich zurück, ziehen an ihren Zigaretten und genießen lieber noch ein bisschen die Musik.”

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Auf Facebook werde ich auf die Petition “Sofortige Amtsenthebung Frau Merkels”  aufmerksam gemacht, die zu dem Zeitpunkt schon knapp 27.000 Unterstützer hat. Häufig werden als Gründe für die jeweiligen Unterschriften zur Petition angeführt: “fühle mich verraten” oder “fühle mich nicht mehr sicher im eigenen Land”. Die Sprache ist oft aggressiv, es werden durchweg Behauptungen ohne Belege aufgeführt, vor allem zu Rentner/innen, Kindergartenplätzen und Schulen.

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Von dieser Petitions-Seite gelange ich auf die Seite netzplanet.net, die inzwischen – wie ich später lese – auf Facebook so eingeschränkt wurde, dass man auf ihr nicht mehr posten kann. In den Kommentarregeln auf ihrer eigenen Website sagen die Netzplanet-Betreiber/innen: “Besonderen Wert legen wir auf einen sachlichen Stil und freundlichen Ton, auch wenn es bei vielen unserer Themen, die einen Menschen extrem aufregen können, schwer fällt.” Überschriften wie “Berlin: Gutmenschen-Deppen schockiert über Verhalten von ‘Flüchtlingen’” gibt es dennoch; der Tenor in den Kommentaren ist noch weit aggressiver.

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Später am Tag stoße ich auf eine Meldung, nach der eine beleidigende E-Mail mit Drohungen durch Referenzen auf die KZs Auschwitz und Buchenwald an einen türkischen Bundestagsabgeordneten, die von ihm zur Anzeige gebracht wurde, keine Strafverfolgung der Absender nach sich zog.

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Bevor ich diesen Artikel zu schreiben begann, erreichte mich noch die Meldung, dass in Berlin – ganz in der Nähe eines Freundes – ein Islamist, der seine elektronische Fußfessel am Morgen abgelegt hatte, nach Messerangriffen auf mehrere Passanten erschossen worden sei.

 

All diese Ereignisse und noch unendlich viele von mir an diesem Tag nicht gesehene, gehörte oder erfahrene berühren das Thema der Integration von Fremden, zurzeit vor allem von Menschen mit muslimischer Religionszugehörigkeit, in unsere Gesellschaft. In den Medien sehen wir Menschen, die Flüchtlinge willkommen heißen, die gar Urlaub nehmen, um sie zu unterstützen. Wir sehen Politiker/innen, die sich gegenseitig heftige Vorwürfe machen, ohne trotz der Dringlichkeit der Lage in der Sache weiterzukommen. Aus den Top-Nachrichten-Überschriften derzeit verschwunden, aber dennoch festgehalten: Die Pegida-Bewegung in Sachsen erstarkt wieder. Die Anschläge auf geplante oder in Funktion befindliche Asylantenheime gehen bundesweit weiter.

Manchmal möchte ich mich angesichts der Größe des Themas und der Aggression, die in ihm wohnt, ähnlich wie die ägyptischen Männer auch lieber zurücklehnen und ein bisschen von Musik ablenken lassen. Und selbst in meinem, überwiegend akademisch gebildeten, Freundeskreis höre ich öfter: „Ich will schon gar keine Nachrichten mehr hören oder lesen.“ Ich weiß aber auch: Davon wird es nicht besser werden. Aber warum ist es denn so geworden, wie es nun ist? Aus meiner, sicherlich beruflich geprägten Sicht als Kommunikations-Beraterin, entstand die aktuelle Situation, weil wir als Bürger/innen dieses Landes mehrheitlich offenbar nicht geübt darin sind, unsere eigene Wahrnehmung sowohl deutlich als auch respektvoll auszudrücken, wenn sie von der der Anderen abweicht. Oder einfach nur um Beachtung der geltenden Regeln zu bitten.

Also zum Beispiel, wenn sich erkennbar Nicht-Deutsche im öffentlichen Nahverkehr gegen die Regeln benehmen. Genervtes Augenrollen bemerke ich in den Berliner U- und S-Bahnen oft. Eine höfliche Bitte, zum Beispiel die aus dem Lautsprecher des Mobiltelefons schallende Musik leise zu stellen oder das Rauchverbot einzuhalten, dagegen höchst selten. Übrigens auch nicht bei deutschen Mitbürger/innen, die ebenso agieren – die sind nur derzeit kein Feindbild größerer Gruppen.

Ein konfliktbewusstes Verhalten wird uns auch medial nicht durchgängig vorgelebt, wenn Pegida-Demonstrierende beispielsweise von dem Theologen Friedrich Schorlemmer ob der Nutzung der Parole “Wir sind das Volk” als “unverschämt, frech, geschmacklos und missbräuchlich” benannt werden. Ein Vokabular, das wirkt, als ob Schorlemmer annehme, er könne wie ein konservativer Vater durch seine maßregelnden Worte eine Verhaltensänderung auslösen. Oder, wenn rechtsradikale, gewalttätige Demonstranten in Heidenau von Vizekanzler Sigmar Gabriel als “Pack” bezeichnet werden – eine Bezeichnung, die suggeriert, dass er sich ihnen moralisch und/oder sozial überlegen fühlt.

Deutschland hat, geschichtlich gesehen, gute Gründe, Angst vor der eigenen, historisch zwar weidlich analysierten, aber psychologisch offenbar nicht aufgearbeiteten Gewalt zu haben. Ein Gewaltpotenzial, das sich unter materiell guten Bedingungen lange Zeit öffentlich einigermaßen unauffällig verhielt. Welches sich nun aber nicht nur in Anschlägen auf Wohnstätten für Asylanten entlädt, sondern sprachlich noch weit öfter entgleist – in Facebook-Kommentaren, in Stammtischrunden, auf U-Bahnhöfen oder eben auch in Sätzen von Politiker/innen aller Couleur.

Denn es gibt da einen Zusammenhang: Die Gewalt in den Gedanken existiert zuerst, die Sprache folgt und dann die Taten. Man kann das derzeit beobachten wie aus dem Lehrbuch der Konfliktforschung von Friedrich Glasl. Nur: Angesichts der Situation mit immer mehr Flüchtlingen, die ebenfalls Traumata durch Gewalt mitbringen, haben wir keine Zeit mehr, abzuwarten, bis individuelle oder gesellschaftliche Gewaltthemen aufgearbeitet sind. Unser nach wie vor gemütliches, bundesrepublikanisches Tempo muss ein anderes werden und gleichzeitig verbietet sich jeder übereilte Aktionismus. Denn Einzelne überschreiten den in Glasls Konfliktpyramide aufgezeigten “point of no return” der Klärung des Konflikts durch die beteiligten Parteien selbst, indem sie bereits körperliche, lebensbedrohende Gewalt anwenden. Doch deren Aggressionsniveau ist – auch, wenn dies zunächst empörend wirken mag – genährt durch all die verbale Gewalt vorher, wie Erkenntnisse der Neuropsychologin Naomi Eisenberger aufzeigen.

”Die Sprache ist eine Waffe, haltet sie scharf!” sagte Tucholsky. Doch in dieser Situation – und ich denke, auch Tucholsky hätte dem zugestimmt – geht es eher darum, sich der Schärfe bewusst zu werden und sie nicht derart zu nutzen, um den Konflikt weiter anzuheizen. Es sei denn, man wollte dies ernsthaft und möglichst auf breiter Front – dann eröffnen sich ganz andere Fragen, die man schnellstmöglich persönlich mit einem fähigen Psychologen klären sollte. Es geht aber genauso sehr darum, die Sprache nicht so unscharf werden zu lassen, dass Wahrnehmungen, Konflikte oder auch nur bestimmte Begriffe nicht mehr benannt werden dürfen aus Angst, in eine jeweilig unpopuläre politische Ecke gestellt zu werden. Dazu passt das sechste Erlebnis, das ich heute hatte.

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Meine Büronachbarin, eine schwarze US-Amerikanerin, erzählte mir, wie sie bei einer Versammlung in den USA nach einer Äußerung, in dem sich von sich als “black American” sprach, von ihrer Sitznachbarin auf die Schulter getippt wurde und dann den Satz hörte: “I am sorry, we don’t say ‘black American’. The correct term is ‘Afro-American’.”

Derzeit besteht sowohl eine Scheu davor, anzuerkennen und mit klaren, wenngleich nicht übergriffigen Worten zu benennen, dass es unter den Flüchtlingen welche geben wird, die es “halal” finden, Nicht-Muslime mit friedlichen oder gewaltsamen Mitteln zu ihrem Glauben zu bekehren wie es der Islamist mit der entfernten Fußfessel gestern versuchte. Eine strukturell ähnliche, nur inhaltlich anders gelagerte Scheu besteht darin, einem türkischstämmigen deutschen Bürger nicht zu attestieren, dass gegen ihn eine verfolgenswerte Straftat in Form von verbaler Gewalt begangen wurde – allein schon, wenn er als “Kümmelficker” bezeichnet wird. Aufgrund genau dieser Scheu, in der sich die inhaltlich konträr positionierten Seiten spiegelbildlich ähneln, wird der Streit immer unversöhnlicher. Und man könnte diese beiden Beispiele vielfach fortsetzen.

Es gibt auf keiner Seite dieses multiplen Konflikts quer durch unser Land ausschließlich gut gesinnte Menschen – ein mehr oder minder großer Teil ist von individuellen Ängsten (sei es vor subjektiv empfundener Überfremdung, sei es vor der Angst, dass von Deutschland fremdenfeindliche Signale ausgehen) mehr oder minder bewusst getrieben. Aber es gibt für alle die Möglichkeit, „gut“ in dem Sinne zu wirken, ihre Worte zu auf inhärente Gewalt zu überprüfen, bevor sie sie über welchen Kanal auch immer äußern und sich damit im positiven Sinn “anzustecken”. Kurse für “gewaltfreie Kommunikation” sind dafür eine exzellente Möglichkeit. So unsexy der Begriff im Deutschen klingt, so wirksam ist diese Methode. Es gibt die Möglichkeit, Regeln zu vereinbaren und konsequent zu verfolgen – nicht nur mit und auf Facebook und anderen Online-Foren, auch in der politischen Auseinandersetzung und der Zusammenspiel der Politik mit den Medien. Es gibt auch die Möglichkeit, einen bundesweiten Dialog zum Thema “Zuwanderung” nach Regeln, die eine konstruktive Debatte ermöglichen, zu initiieren – einen, der durch die konsequente Befolgung dieser Regeln den Grat zwischen Verschweigen und lautstarker Verachtung hält und der die derzeit so zersplitterte Diskussion zusammenführen könnte.

Man kann also sehr einfach weit Klügeres tun, als sich zurückzulehnen oder verbal draufzuhauen. Man kann bei der eigenen Sprache anfangen und ihren positiven Einfluss ausbauen. Einfach, indem man Konflikte mit denen anspricht, mit denen man sie hat. Klar in der Sache, höflich im Ton. Offen für eine andere Sichtweise und eine gemeinsame Lösung. Umso wichtiger und wirksamer, wenn man in verantwortlicher Position ist. Ich hoffe, es ist mir mit diesem Artikel gelungen, obwohl ich mich dieses Mal bewusst nicht bemüht habe, bestimmte Begriffe auf ihre „political correctness“ zu überprüfen.

 


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