von Hans Hütt, 7.8.12
Die Idee war überfällig.
Sigmar Gabriel, der Vorsitzende der SPD, hatte Jürgen Habermas besucht und ihn um einen Beitrag für das Regierungsprogramm seiner Partei gebeten. Später gesellten sich der Philosoph Julian Nida-Rümelin und der Ökonom Peter Bofinger hinzu.
Heute [4.8.] erscheint in der FAZ dieser Beitrag von Jürgen Habermas, Julian Nida-Rümelin und Peter Bofinger. Wie so oft, wenn mehrere Autoren etwas zusammen schreiben, bleibt manches vage. Am undeutlichsten erscheint mir nach erster Lektüre, worin denn der Input dieses Essays für das sozialdemokratische Wahlprogramm des Jahres 2013 besteht. Vielleicht kommen wir dem noch auf die Spur.
Der Vorspann verspricht viel:
Ohne einen Strategiewechsel wird die Währungsunion nicht mehr lange überleben. Es bedarf eines neuen Kurses. Er muss die Rolle Europas im Rahmen der Weltpolitik definieren.
Ich werde den Eindruck nicht los, dass in dem angemahnten “Strategiewechsel” der bisherigen deutschen Europapolitik zuviel Ehre erwiesen wird. Wenn es bisher Ansatzpunkte einer Strategie gab, schien sie vor allem innenpolitischer Natur mit dem Ziel, durch irreführende Rhetorik (“scheitert der Euro, scheitert Europa”) und unklare bzw. für alternativlos erklärte Gesetzespakete auf Zeit zu spielen. Nicht das angeblich wieder herzustellende “Vertrauen der Märkte”, sondern das Misstrauen der deutschen Wähler bestimmt die Strategie der Kanzlerin. Jean-Claude Junckers Kritik galt nur vorgeblich den Vorsitzenden der CSU und der FDP. Er zielte auf die Kanzlerin, weil ihre Verhandlungspraxis de facto den Glauben an den Sinn einer europäischen Union unterminiert und damit zugleich den Glauben an den Sinn der gemeinsamen Währung sturmreif schießt.
Wie anders sollen wir – aus deutscher innenpolitischer Perspektive – den Sachverhalt beschreiben, dass die bisher “geretteten” Länder in der deutschen Medienöffentlichkeit als undankbare unverlässliche Schlamper dastehen, während der deutsche Michel sich für die Solidarität mit diesen Gesellen krumm buckelt? Die mittelbaren Wirkungen der bisherigen Europolitik seit Januar 2010 könnten wir insofern auch mit dem §130 StGB beschreiben: einer missbilligend in Kauf genommenen Volksverhetzung, die sich europaweit ausbreitet.
Das Erstaunlichste und mich am meisten Abstoßende an der bisherigen Politik der Kanzlerin liegt in einem politischen Paradox: Ihrer Legende nach waren die Gründungsverträge unzulänglich. Der größte Fehler lag bisher im wiederholten Bruch der Verträge (Schuldvorwurf an die deutsche Sozialdemokratie und an Frankreich, in wahlpolitischer Wiedervorlage). Und jetzt kommt’s: wo es keinen Kläger gegen Rechtsbrüche gibt, findet sich auch kein Gericht, darüber zu urteilen. Wenn die im Fiskalpakt vorgesehenen Automatismen aus politischen Gründen nicht greifen, dann sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Schlimmer noch: Wer den Glauben an diese Praxis politischer Rechtsschöpfung (Automatismen usw.) pflegt, unterminiert sehenden Auges den Glauben an das Recht und damit seine Wirksamkeit selbst.
Die größte politische Ungewissheit sehe ich in der Umkehrbarkeit der Merkelschen Europolitik, mit anderen Worten: dass Frau Merkel zu einem noch ungewissen Zeitpunkt vor den nächsten Wahlen europapolitisch eine ähnliche Kehrtwende vollzieht wie in der Atompolitik und in einem chauvinistisch aufgeheizten Wahlkampf die Sozialdemokratie als die Schuldigen an den Pranger stellt. Dann steht sie da als eine von den Verrätern Getriebene, die dem notorischen Schlendrian Einhalt gebietet.
Der Vorspann des Essays verfehlt daher möglicherweise den eigenen Gegenstand: Mit welcher politischen Bindungskraft kann eine europapolitische Strategie formuliert werden? Wie beschreiben und dekonstruieren die Autoren den Sachverhalt, dass die Politik der Kanzlerin allem Anschein nach aus innenpolitischen Gründen auf eine kohärente europapolitische Strategie verzichtet und so eine Reihe von losen Fäden hinter sich herzieht, die sich in einen Strick um den Hals ihrer Konkurrenten verwandeln lassen?
Die entscheidende Frage ist damit noch nicht gestellt: Wenn diese Analyse in extremis zuträfe, wie sähe ein belastbares plausibles Framing aus, mit dem die Sozialdemokratie den Vorwürfen von Verrat und Schlendrian wirksam entgegenträte?
Die Euro-Krise spiegelt das Versagen einer perspektivlosen Politik. Der Bundesregierung fehlt der Mut, einen unhaltbar geworden Status quo zu überwinden. Das ist die Ursache dafür, dass sich trotz umfangreicher Rettungsprogramme und kaum noch zu zählender Krisengipfel die Situation des Euroraums in den beiden vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert hat.
Ist die Politik der Kanzlerin perspektivlos? Oder versagt ihre Politik gerade deshalb nicht, weil sie auf eine “Perspektive” verzichtet? Was macht den Status quo unhaltbar? Die steigenden Kosten? Ein in Kauf genommenes Demokratiedefizit? Oder die Unerreichbarkeit der vorgeblich verfolgten politischen Ziele? Von den Antworten auf diese Fragen hängt es ab, ob die drei Wahlhelfer der Sozialdemokratie überzeugende Antworten auf den Ausnahmezustand geben können.
Es folgt eine knappe sozioökonomische Beschreibung der Lage in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Die sozialpolitischen Kosten der Krise explodieren. Mögliche Kettenreaktionen scheinen unbeherrschbar. Die Fragilität der Finanzmärkte und steigende Zinsen für Staatsanleihen der “Problemländer” führen zu einem vicious circle. Das “kopflose” Management der Krise habe sie verschärft, nun sei es an der Zeit, einen großen europäischen Integrationsschritt zu wagen, da erst eine “Selbstermächtigung der Politik” sie in die Lage versetze, das gespenstische Paralleluniversum der Finanzmärkte in den Griff zu bekommen.
Die bisherigen Versuche einer koordinierten Regulierung seien stecken geblieben: Die Eurozone könnte eine Avantgarderolle übernehmen und die politische Integration (finanz-, wirtschafts- und sozialpolitisch) vertiefen und Ungleichgewichte ausgleichen. Noch ehe sie zu den politischen Folgen (und Voraussetzungen) einer verstärkten politischen Integration kommen, readressieren die Autoren den Kern des Problems: die Refinanzierungskrise einzelner Eurostaaten sei das Ergebnis unzureichender institutioneller Absicherung der gemeinsamen Währung.
Die bisherige Rettungspolitik setze auf konsequente Sparpolitik. Um für die Absurdität der Situation ein eigenes Bild ins Spiel zu bringen, könnten wir die EWU mit einem Baby vergleichen, das praktisch gelähmt geboren wurde, sich nun aber endlich zusammenreißen solle. Mit anderen Worten: sie ist nicht nur untauglich, sie verfehlt für eine nachhaltige Strategie die wesentliche Voraussetzung einer genauen Analyse der Krise selbst.
Die Folgen sind zu besichtigen. Die Therapie schlägt nicht an. Die Probleme verschärfen sich. Jetzt kommt das Zauberwort. Die Probleme seien nicht in den Griff zu bekommen ohne eine systemische Antwort. Nun liegt die auf der Hand:
Nur durch eine gemeinschaftliche Haftung für Staatsanleihen des Euroraums kann das für die derzeitige Instabilität der Finanzmärkte konstitutive individuelle Insolvenzrisiko eines Landes beseitigt oder zumindest begrenzt werden.
Damit ist die Katze aus dem Sack. Im Gegenzug müssen Souveränitätsrechte übertragen werden – und damit stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimation des Verfahrens. Die zur Entscheidung anstehenden Alternativen seien klar:
entweder die Rückkehr zu nationalen Währungen in der EU insgesamt, die jedes einzelne Land den unberechenbaren Schwankungen hochspekulativer Devisenmärkte aussetzen würde, oder aber die institutionelle Absicherung einer gemeinsamen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Euroraum mit dem weitergehenden Ziel, die verlorene Handlungsfähigkeit der Politik gegenüber den Imperativen des Marktes auf transnationaler Ebene wiederzugewinnen.
Nun ist die “Handlungsfähigkeit der Politik” gegenüber gleichwelchen Akteuren eine Perspektive, die sich nicht so ohne Weiteres aufdrängt, wenn man bedenkt, wie die Politik im Krisenmanagement der letzten Jahre mit ihr selbst gesetzten Regeln umgesprungen ist. Welches Versprechen wäre in der Lage, die Selbstermächtigung der Politik zustimmungsfähig zu machen?
nur für ein politisch geeintes Kerneuropa besteht die Aussicht, den inzwischen fortgeschrittenen Prozess der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie umkehren zu können. Schon wegen der Verknüpfung mit dieser ausgreifenden Perspektive verdient die zweite Option den Vorzug vor der ersten.
Wir können getrost vermuten, dass dieser Absatz die Handschrift von Jürgen Habermas trägt, mit dem Implizitismus seiner politischen und zugleich sozialpolitischen Idee der Menschenwürde, Angleichung der Lebensverhältnisse nicht auf dem kleinstmöglichen Nenner, sondern nach Maßgabe einer politisch durchdeklinierten Transferunion.
Im folgenden Absatz, den wir Herrn Bofinger zurechnen können, werden die terms of trade definiert:
Der Charme des von der Bundesregierung abgelehnten Vorschlags des Sachverständigenrats zur Einrichtung eines Schuldentilgungsfonds besteht gerade darin, dass er die Illusion fortgesetzter einzelstaatlicher Souveränität durch eine offen etablierte gemeinsame Verantwortung beendet.
In aller Bescheidenheit darf ich darauf verweisen, dass ich diese Idee, nach einer etwas kryptischen Vorlage durch Mark Schieritz, sogar noch etwas früher als der Sachverständigenrat entwickelt habe.
Nach Peter Gauweilers Intervention gegen eine Zentralstaatlichkeitt in preußischer Tradition übernimmt an dieser Stelle Nida-Rümelin den Staffelstab:
An dieser Schwelle müssen die Völker selbst zu Worte kommen.
Die Bundesrepublik möge die Initiative ergreifen für einen europäischen Verfassungskonvent.
Nur auf diesem Wege könnte der unvermeidliche Zeitenabstand zwischen den fälligen, aber einstweilen noch widerrufbaren ökonomischen Sofortmaßnahmen und der gegebenenfalls nachholenden Legitimation überbrückt werden.
Daher weht der Wind. Das Management der Krise hat eine Eigendynamik erreicht, deren unausweichlichen Rechtsbrüche zumindest nachholend legitimiert werden könnten. Noch bleibt die politische Idee vage, ist der Zweifel am europäischen Souverän unüberhörbar, die doppelte
Eigenschaft der direkt beteiligten Bürger der reformierten Union einerseits, als indirekt beteiligtes Mitglied eines der beteiligten europäischen Völker andererseits
eine nicht nur mengentheoretisch zu abstrakte Idee, um im Wettbewerb zur nationalstaatlich verfassten Souveränitätsidee überzeugend zu klingen. Aber deshalb ist Nida-Rümelin an Bord des Trios, Präzision ist nicht seine hervorstechendste Stärke.
Die Wahlhelfer der Sozialdemokratie erinnern mich an dieser Stelle an eine dreiköpfige Figur politischer Ohnmacht, denn statt den eigenen Plan beherzt voranzutragen, eskamotieren sie ihn, überantworten die politische Initiative zu einem Plebiszit einem Richterspruch aus Karlsruhe, an dessen Vollstreckung sie drei Parteien vorneweg beteiligt sehen: SPD, CDU und Grüne. Ihre Dreieinigkeit amüsiert mehr, als dass sie überzeugt. Wo bleiben CSU, FDP und die sogenannte LINKE? Formiert sich im Windschatten des nächsten politischen Mythos die nächste politische Ausgrenzung? Ist in der Ausgrenzung das politische Überleben der drei designierten Gegenspieler schon eingepreist? Sollen so die europapolitischen Vordenker der CDU vom nationalkonservativen Kern der Partei abgekoppelt werden? Mit welcher Aussicht auf Erfolg?
Dass die LINKE in diesem Bild keine eigene Rolle zugewiesen bekommt, könnte Zweifel an den Details der “sozialstaatlichen Bürgerdemokratie” nähren, wäre die Partei nicht weiterhin vor allem damit beschäftigt, sich selbst zu zerlegen und in Solopirouetten ihrer wenigen Vordenker Ersatz für das realpolitische Versagen vorzugaukeln.
Kein Gründungsmythos kommt aus ohne Helden. Das ist der erstaunlichste Schachzug dieses Dreifaltigkeitsessays. Am Ende des Parcours kehren die Autoren zurück an den Anfang der Krise, ihre Zerstörungskraft, die nur durch den gemeinschaftlichen Einsatz der Steuerzahler in Schranken gehalten werden konnte.
Darüber erzürnen sich die Bürger. Doch könnten sie zugleich auch stolz darauf sein. Sie haben den Leviathan – vermittelt, ok – in die Schranken gewiesen, ohne bisher diese Gegenseite ihrer Leistungskraft als historischen Moment der Selbstermächtigung verstanden zu haben.
Ich gebe zu, dass in dieser Reinterpretation der Krise als einer Erzählung eine erstaunliche Kraft steckt. Ob sie überzeugend erzählt werden kann, ohne vom Geheul der Empörten verworfen zu werden, das ist noch nicht ausgemacht. In ihr liegt der Charme einer alten Idee, die noch darauf wartet, veranschaulicht zu werden: Tua res agitur!
Das könnte überzeugender klingen als die Charaden der Kanzlerin.
Ergänzung, 6. August
Der Beitrag des Dreigestirns und die Europolitik der SPD erzählen etwas von dem politischen Gefangenendilemma. Die Verteilung von Schuld und Unschuld, der Verbrauch an Vertrauen ist in diesem Spiel allerdings durch ein mehr als nur symbolisches Ungleichgewicht überschattet: die Macht der Regierungsparteien, den Schalter umzudrehen.
Deshalb rücke ich erst jetzt mit meiner These heraus: Das Dreigestirn hat ein politisches Dokument der Angst publiziert. Die Hoffnung, dass ein europäischer Souverän in der bisherigen Rettungspolitik die Selbstermächtigung eines europäischen Staatsvolks erkennen könnte, wirkt unwahrscheinlich, ein utopisches Lüftlein Hoffnung gegen den Panzerzug, der schon aufgestellt ist, in die andere Richtung loszubrettern. Der Zug ist praktisch schon abgefahren, das Spiel fast schon aus, nur eine Restchance noch da.
Insofern könnte was dran sein, dass das Papier im Grunde die Eintrittskarte für die nächste Große Koalition darstellt, wieder in der Funktion des Korrektiv-Feigenblatts. Allerdings auch, in der Größe der Resthoffnung und mit Blick auf die insgesamt nach links gerutschte Mitte eine Restchance, das Spiel zu drehen, den vermeintlichen Vorteil der Regierungsparteien umzukehren. Hinweis auf diese Lesart ist das Timing mit dem Bankenpapier Gabriels, übrigens auch das Interview Gysis Sonntag Abend in der ARD.
Crosspost von Wiesaussieht