von Patrick Spät, 7.9.13
„Wo Abhörapparate mit Selbstverständlichkeit verwendet werden, da ist die Hauptvoraussetzung des Totalitarismus geschaffen; und damit dieser selbst“,
schrieb der Philosoph Günther Anders im zweiten Band seines Werks Die Antiquiertheit des Menschen. Und er fügte hinzu:
„Ob sich nämlich der Staat A deshalb der Geräte bedient, weil er totalitär ist; oder ob ein Staat B deshalb totalitär wird, weil er sich der Geräte bedient, das macht keinen Unterschied aus.“
Diejenigen, die alles kontrollieren, sind der Kontrolle entzogen. Die NSA und Co. haben mächtige Geräte und agieren im Unsichtbaren. Und der teuflische Cocktail aus Geräten, Macht und Unsichtbarkeit führt zwangsläufig zum Totalitarismus – zumindest, wenn es nach Platon geht: In Platons Politeia findet sich die aufschlussreiche Erzählung vom „Ring des Gyges“.
Eines Tages entdeckte der arme Hirte einen Leichnam, an dessen Finger sich ein goldener Ring befand. Gyges steckte sich den Ring an seinen Finger und fand schnell heraus, dass er – wenn er am Ring drehte – sich mit dessen Hilfe unsichtbar machen konnte. Und was tat Gyges? Erst schlich er sich in die Gemächer des Königs Kandaules, um dessen wunderschöne Frau heimlich dabei zu beobachten, wie sie nackt umherläuft. Gelegenheit macht Spanner.
Und was tat er dann? Platon erzählt es uns:
„Da habe er denn dessen Weib zum Ehebruch verführt, habe in Gemeinschaft mit ihr dem Könige nachgestellt, ihn ermordet und sich der Herrschaft bemächtigt.
Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe und den einen der Gerechte sich ansteckte, den andern der Ungerechte, so wäre, wie mir scheint, wohl keiner von so eherner Festigkeit, dass er bei der Gerechtigkeit bliebe und es über sich gewänne, fremden Gutes sich zu enthalten und es nicht zu berühren, trotzdem dass er ohne Scheu sogar vorn Markte weg nehmen dürfte, was er wollte, und in die Häuser hineingehen und beiwohnen, wem er wollte, und morden und aus dem Gefängnis befreien, wen er wollte, und überhaupt handeln wie ein Gott unter den Menschen.
Wenn er aber so handelte, so würde er nicht verschieden von dem andern verfahren, sondern beide gingen denselben Weg. Und doch wird man dies als ein sicheres Zeichen betrachten, dass niemand freiwillig gerecht ist, sondern infolge von Nötigung, weil es für den Einzelnen nichts Gutes ist; denn glaubt sich jeder imstande Unrecht zu tun, so tut er’s.“
– Platon: Politeia, 360, a–c
Gyges tötete also König Kandaules, bestieg dessen Thron und riss die Herrschaft über das Königreich von Lydien an sich. Die Moral von der Geschichte war Platon durchaus klar: Der Ring des Gyges ist ein Prüfstein für moralisches Handeln.
Sobald jemand im Besitz von Gerätschaften ist, die ihm die Macht der Unsichtbarkeit verleihen, ist es zwangsläufig vorbei mit ethischen Normen und vertraglichen Vereinbarungen. Ob jemand gerecht oder ungerecht sei, ist nebensächlich, denn Macht korrumpiert selbst die „ehernste Festigkeit“. Selbst der durch und durch liebenswerte Hobbit Frodo wird durch die Macht des Rings schier um den Verstand gebracht. Der Herr der Ringe kann unmöglich Herr seiner selbst sein.
Wer träumt beim Ring des Gyges nicht von einem Spaziergang im Banktresor oder voyeuristischen Blicken? Oder eben der totalen Überwachung? Gelegenheit macht Lauscher.
Es ist also höchst naiv, zu glauben, dass die Geheimdienste freiwillig vom digitalen Hausfriedensbruch ablassen oder dass man sie auch nur ansatzweise kontrollieren kann. Denn Gesetze gibt es bereits, zum Beispiel heißt es in der Europäischen Menschenrechtskonvention unter Artikel 8, Absatz 1:
„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.“
Und, was bringt’s? Papier ist geduldig, der goldene Ring aber mächtig. Die Geheimdienste gehören nicht gebändigt, sondern abgeschafft. Der Ring der Unsichtbarkeit muss schleunigst in der Lava des Schicksalsbergs versinken. Andernfalls tun die Geheimdienste eben weiterhin das, was sie am besten können: am Ring des Gyges drehen und im Geheimen agieren. Denn wer den Ring trägt, wird zwangsläufig totalitär.
Dr. Patrick Spät arbeitet als Journalist und bloggt auf Patrick Spät