#Demokratie

Die Euro-Schlafwandler: Störung geboten

von , 28.5.13

Ich fasse hier meine Notizen seines Vortrags und des anschließenden Gesprächs zusammen. Auf das Buch komme ich in einem weiteren Beitrag zurück. Das Gespräch war unter dem Titel angekündigt: “Postdemokratie: Die vertagte Krise – oder Demokratie und Kapitalismus als Hase und Igel“

Streeck leitete seinen Vortrag mit einigen Fragen ein: Was sind die Gründe dafür, dass die Euro-Politik den Eindruck erweckt, einem ökonomischen Diktat hinterherzuhecheln? Warum gibt es aus dem Kreis der verantwortlichen Politiker keine Ursachenanalyse? (Ich erinnere daran, dass die Bundeskanzlerin mit dem Versprechen einer “schonungslosen Analyse” in den letzten Bundestagswahkampf gezogen ist. Kaum war die Wahl vorbei, verschwand das Analyseversprechen auf Nimmerwiedersehen.)

Sind die Spannungen neu, die wir zwischen den europäischen Regierungen im Zuge ihrer Euro-Beschlüsse wahrnehmen? Wie wird die Krise tatsächlich bearbeitet? Haben wir es infolge der bisherigen Beschlüsse nur mit einer bis auf weiteres vertagten Krise zu tun, ist nur Zeit gekauft worden?

Streeck steigt ein mit einem historischen Rückblick und erinnert an Hobsbawns Studie “The Age of Extremes“, in der er das kurze 20. Jahrhundert von 1914 bis 1991 analysiert. Wir stehen heute erneut vor der Frage, ob Demokratie und Kapitalismus miteinander vereinbar sind.

Wie reagierte das Besitzbürgertum in den kapitalistischen Ländern auf die Große Depression? Wie sahen im internationalen Vergleich verteilungspolitische Kompromisse aus für die Abfederung von Folgen der “kreativen Zerstörung” der kapitalistischen Ökonomie? Wie gingen, im Unterschied zu Deutschland mit dem NS und Italien mit dem Faschismus, die anderen westlichen Länder mit den Herausforderungen der Krise um? Er erinnert an den  “Matthäus-Effekt“:
 

Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.

 
Die zeitgenössischen Debatten in den 30er Jahren diskutierten über Deutschland, Italien und die UdSSR ähnlich, wie heute der chinesische Weg diskutiert wird: neidvoll auf die hohen Wachstumsraten schauen und die eingeschränkte Demokratie als Modernisierungsbeschleuniger interpretieren. Keynes sei lange Zeit Außenseiter geblieben. Trotz des New Deals habe Amerika Ende der 30er Jahre vor einem Rückfall in die Depression gestanden – allein der Kriegseintritt der USA habe das abgewendet.

Der Wiederaufbau nach dem Krieg , unter dem Schutz des amerikanischen Hegemons, sei aus heutiger Perspektive eine Ausnahmephase gewesen, die in den 70er Jahren zu Ende war. “Mit der Ablösung der chilenischen Regierung” (das Publikum lacht, Streeck provoziert pointiert) sei diese Ausnahme beendet gewesen. Andere Perspektiven auf die heutige Entwicklung vermittle beispielsweise der kanadische Philosoph Daniel A. Bell, der die Dämonisierung des chinesischen Regimes durch westliche Kritiker zurückweist.

Wesentliche Merkmale neoklassischer bzw. neoliberaler Entscheidungsregimes sieht Streeck in der Verlagerung von Entscheidungskompetenz auf demokratisch nicht legitimierte Superakteure wie die Zentralbanken, den IWF, den Europäischen Gerichshof und die Europäische Kommission.

Parallel zur inhaltlichen Entleerung demokratischer Entscheidungskompetenzen sei seit Ende der 70er Jahre eine sinkende Wahlbeteiligung der ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu beobachten. Die Dauerverlierer aller Krisen gehen nicht mehr wählen. Sie seien auch von den politischen Parteien aufgegeben worden. Der ökonomischen und sozialen Prekarisierung entspreche die politische Marginalisierung. Das gilt ebenfalls für die rückläufige Mitgliedschaft in den Gewerkschaften. Die Korrelation zwischen diesen Entwicklungen sei evident.

Thatcher und Reagan hätten anfang der 80er Jahre die Macht der Gewerkschaften brachial gebrochen und mit Leitzinsen von zeitweise über 20 Prozent nicht nur Helmut Schmidt zur Weißglut gebracht. Die Folgen seien zu besichtigen: die Inflation sei zurückgegangen, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder rückläufig, und ebenso sei die Zahl der Streiks deutlich zurückgegangen.

Parallel zu dieser Entwicklung – mit zunehmender Prekarisierung – sei der Matthäus-Effekt auch auf der anderen Seite der Skala durch kumulative Bevorteilung der Besitzenden evident.  Man beobachte etwa die degressive Entwicklung der Steuern und zunehmende Chancen Vermögender, der Besteuerung durch Unternehmens- oder Wohnsitzverlagerung zu entgehen. Ohne korrigierende Mechanismen wie etwa die Bildungspolitik und wohlfahrtsstaatliche Stabilisatoren vertiefe sich die Spaltung der kapitalistischen Gesellschaften rasant.

Die griechischen Schulden seien auch dadurch erklärbar, dass nach Beitritt Griechenlands zur Europäischen Währungsunion mit internationalem Applaus die Spitzensätze der Körperschaftssteuer von 40 auf 20 Prozent gesenkt und seitherige Budgetdefizite durch Kredite finanziert worden seien.

Emckes erste Fragen: Wie konnte es dazu kommen, dass der ökonomische Kernkonflikt aus den Augen verloren wurde? Haben wir eine Legitimations- oder eine Effizienzkrise – und wer oder was hat uns betäubt? Was hat dazu geführt, dass der Optimismus der Steuerbarkeit, wie er zuletzt noch von den Ausläufern der Frankfurter Schule propagiert worden sei, heute kein Thema mehr sei?

 

Nichts ist von Dauer

Streeck antwortet lakonisch, trocken, pointiert. Nichts ist von Dauer. Alles vergeht. (Leises Lachen im Saal). Er wendet die Aufmerksamkeit auf die “Gewinnabhängigen”: Unternehmen, Banken, Kapital. Ende der 60er, anfang der 70er Jahre sei es zu massiven Profiteinbrüchen gekommen, auch infolge damaliger verteilungspolitischer Konflikte. (Man erinnere sich an den ÖTV-Streik von 1974 unter dem Gewerkschaftsführer Heinz Kluncker mit einem Tarifabschluss von 11 Prozent!)

Emcke erinnert in dem Kontext an Versprechen (Wohlstand für alle, Aufstiegschancen, soziale Mobilität). Streeck hält dem entgegen, dass die “Gewinnabhängigen” in den 70er Jahren systemmüde geworden seien, zu viel Profitmasse politisch umverteilt sahen. Die Zeit für politische Umverteilung durch “funny money” sei definitiv vorbei gewesen. Öffentliche Güter seien seither mehr und mehr kreditfinanziert worden. Die progrediente öffentliche Verschuldung habe damals begonnen. Parallel dazu sei auch die private Verschuldung massiv gewachsen, in den USA etwa durch die kreditfinanzierten Studienkosten.

Politisch gesprochen, habe man die Direktionsfähigkeit des Kapitals unterschätzt. Auch die Idee, infolge keynesianischer Illusionen, Ökonomen seien zu jedwedem Thema, ähnlich wie Zahnklempner, auskunftsfähig, habe sich als nicht haltbar erwiesen. Die Idee, die Kapitalseite sei Milchkühe, wie sie in Deutschland gelegentlich durch Steuersünder im Fernsehen beklagt wird, habe die Raubtierseite derjenigen aus dem Blick gerückt, die sich nur zeitweise als Kuh verkleidet hätten.

Besonders verwundert zeigt sich Streeck über das völlig defizitäre historische Gedächtnis der Menschen. Die roaring twenties bzw. der Konsumismus unserer Zeit erweckt bis heute, wenn man etwa auf die Elogen über die aktuelle DAX-Entwicklung in den Wirtschaftsteilen der großen Medien schaue, den Eindruck, die Party gehe endlos weiter. Es seien auch vor 1929 nur Außenseiter gewesen, die, wie Keynes, vergeblich vor der kommenden Krise warnten.

Emcke verweist auf konkurrierende Narrative, die den Blick von möglichen Konflikten ablenkten, was Streeck dazu veranlasst, auf kürzere Produktzyklen, weit gespreizte Produktdifferenzierung und die seit den 70er Jahren massiv wachsende Marketingbedeutung (das ist die Apple-Story!) hinzuweisen. Das sei maßgeblich für den Konsumrausch gewesen, wogegen im Abseits parallel dazu aus den bisherigen Stadtbädern (ok, die Fliesen sahen scheiße aus, das Chlor stank zum Himmel, aber der Eintritt war niedrig, HH) plötzlich an Pächter vermietete Spaßbäder mit Wasserrutschen plus Palmendekor nebst Lianen geworden seien.

Oder er erinnert an die damalige Spaßbremse Bundespost und halbjährige Wartefristen auf ein beantragtes Telefon, das Posteigentum blieb und lediglich unter strengen Auflagen erlaubte, staatliche Leitungen mitzubenutzen. Kollektive Güter werden privatisiert mit der Folge zunehmender Verwahrlosung übrig gebliebener kollektiver Güter.

Streeck erinnert an Albert O. Hirschmans Klassiker “Exit, Voice, Loyalty: Responses to the Decline in Firms, Organizations, and States”, der Ähnliches am Beispiel der nigerianischen Eisenbahn und amerikanischer Universitäten beobachtet hatte.

Wenn in Nachfolge von Hayeks Doktrin alle gesellschaftlichen Bereiche sich marktförmig organisieren, sei es politisch kein Wunder, wenn bis dato demokratisch legitimierte Institutionen ihre Entscheidungskompetenzen auf nicht mehr demokratisch legitimierte internationale Institutionen verlagern. Wie dann im Einzelfall Konflikte ausgetragen und Interessen durchgesetzt werden, illustriert Streeck, indem er an Papandreous Idee eines Plebiszits erinnert, mit dem die griechischen Wähler Auskunft geben sollten, was sie von den verlangten Rentenkürzungen hielten.  Das Ultimatum, am schönen Gipfelort der Cote d´Azur formuliert, hätte kaum brutaler sein können: Wenn Du das machst, erschlagen Euch die Märkte. Und schon war Ersatz für Papandreou in Sicht, zudem ein alter Bekannter aus dem Europäischen Zentralbankrat.

Ähnliches sei am Beispiel von Montis Wahlergebnis von knapp 10 Prozent zu besichtigen gewesen – oder an dem Fiasko des an einem Freitagabend getroffenen Beschlusses, die zypriotischen Sparer umstandslos alle zu rasieren. Dass Griechenland heute als failed state gelte, dafür sei auch deutsche Politik verantwortlich gewesen. Die Demokratie sei in Griechenland, Spanien und Portugal, gewissermaßen auch in Italien, immer auf der Kippe gewesen. Mit dem Reformkommunisten Enrico Berlinguer habe keine deutsche Regierung je gesprochen, weil der zertifizierte Mafioso Giulio Andreotti als Staatsgast bevorzugt wurde.

Ob nun, im Zuge der Eurokrise, nachholende Entwicklungshilfe auch im Aufbau von funktionierenden staatlichen Institutionen sinnvoll sei, bezweifelt Streeck. “Jeglicher Imperialismus ist mir fremd, das schließt auch Modernisierungshilfe aus.” In dem Zusammenhang erinnert er an die italienische “Währungsunion” zwischen dem Norden und dem Süden, die seit Jahrzehnten trotz massiver Transfers keine Angleichung der Lebensverhältnisse erreicht hätte. Für Bürger von Milano beginne Afrika mehr oder weniger südlich von Rom. Ähnliche Entwicklungen mit stagnierender Angleichung seien trotz massiver West-Ost-Transfers in Deutschland zu besichtigen.

 

Warum sollen die Finnen mehr Geduld mit den Griechen haben als die Lombardei mit Sizilien?

Streeck kommt in Fahrt und geißelt Merkels Gleichsetzung von Europa mit dem Euro (ich brauch das nicht zu wiederholen), das sei ein demagogischer Trick, tatsächlich seien die Spannungen seit Einführung des Euro immer größer geworden.

Die einzigen Garanten demokratischer Kontrolle im Laufe der Krise seien die nationalen Parlamente und Verfassungsgerichte. Hätten sie nicht, oft zu allerspätester Stunde, interveniert, wären schon sehr viel mehr Entscheidungsrechte auf nicht mehr kontrollierbare europäische Behörden übertragen worden. Ausdrücklich ermuntert Streeck die Parlamente und Verfassungsrichter, die Reste nationalstaatlicher Einwirkungsmöglichkeiten mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Er erinnert an Jacques Delors’ Pläne zur sozialen Dimension des Binnenmarkts. An einer dazu berufenen Kommission sei er persönlich beteiligt gewesen. “Einen Markt kann man nicht lieben”, habe Delors gesagt, aber nach einem Gewerkschaftskongress in Stockholm sei von dieser Initiative nichts übriggeblieben. Der Zug sei abgefahren.

Alles, was den Lauf der weiteren Krisenpolitik aufhalte und störe, heißt Streeck ausdrücklich willkommen. Skeptisch bleibt er bei der Frage nach den Akteuren. Viele demokratische Institutionen seien fundamental geschwächt. Den politischen Konsens der Europolitik kritisiert er “als in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat” schärfstens. Auswege, wenn man davon überhaupt sprechen könne, sieht er heute allenfalls in den Positionen Oskar Lafontaines und Sahra Wagenknechts.

Soziale Bewegungen wie Occupy (Streeck erinnert an eine Kundgebung mit 2000 Teilnehmern in Frankfurt, gegen die ein Polizeiaufgebot von 15.000 Polizisten angetreten war), seien kaum berechenbar, erhöhten aber die politische Nervosität. Mit dem Euro habe die EWU de facto einen Goldstandard etabliert, der in Krisenfällen innere Abwertungen durch Lohn- und Rentenkürzungen erzwinge. Wie das in Ländern mit starken kommunistischen Parteien und Gewerkschaften aussehen werde, bleibe abzuwarten.

Die Notwehr der Unterlegenen sei programmiert, allerdings mit ungewissem Ausgang. Die nächsten Etappen der Krise würden immer unangenehmer, wir müssen mit zunehmenden Spannungen rechnen, wenn etwa die Ausgleichszahlungen für den Süden zu hoch werden und die Wähler im Norden  nicht mehr mitmachen.

Ob es Chancen für ein anderes Narrativ gäbe, fragt Frau Emcke. Streeck wird wieder lakonisch. Auch der Kapitalismus habe keine Ewigkeitsgarantie. Ihn verblüffe, wie wenig die Leute vom Geld verstehen. Die europäischen Strategien des quantitative easing seien bisher zwar halbwegs erfolgreich bei dem Versuch, eine Deflationsspirale zu verhindern, aber je länger das dauere, desto größer seien auch nicht kalkulierbare Inflationsrisiken. Die Lage werde immer verworrener.

Vor zwei Jahren habe Wolfgang Schäuble gesagt, wir operierten im Blindflug, ohne Bodenkontakt. Besonders bedrücken Streeck die unzureichenden Prognosekompetenzen, es gebe keine validen Szenarien. Und wie will man ein Narrativ in Verkehr bringen, wenn dieser Stoff buchstäblich fehlt?

Der Economist macht diese Woche mit einem Titelblatt auf, das die europäischen Spitzenpolitiker am Rand eines Abgrunds zeigt. Der Leitartikel hat die Headline: The Sleepwalkers. Streeck erinnert an die Gesprächsprotokolle des Beraterkreises von US-Präsident Hoover vor dem Schwarzen Freitag: die Leute seien völlig optimistisch und bar jeder Ahnung gewesen, was auf sie zukam.

Kommen wir zum Fazit (die Fragen aus dem Publikum waren so, wie Fragen aus dem Publikum in Berlin zu sein pflegen: lunatisch verpeilt, von zwei Ausnahmen abgesehen): Wies weitergeht? Wenn die Leute nicht auf Lafontaine und Wagenknecht hören, sagt der in der Wolle gefärbte Sozialdemokrat, dann kommen einige unangenehme, unberechenbare, extrem unbequeme Jahre auf uns zu.

Hoffnungen auf einen Wachstumsschub hält er für unangebracht. Wo soll der herkommen? Die Verteilungskonflikte in den Schuldnerländern werden schärfer, das gelte ebenso für die Nord-Süd-Konflikte in der EWU, bisher regionale Konflikte werden sich internationalisieren.

Die Frage danach, warum die USA funktionieren, macht Streeck noch skeptischer. Im Grunde sei es der Periode vom Ende des Bürgerkriegs bis zum New Deal zu verdanken, dass die Amerikaner ihre Instrumente beherrschen. (Aber wer will heute ernsthaft etwas davon hören, dass uns sieben Jahrzehnte des Schreckens bevorstehen? HH)  Es gehe – in letzter Instanz – darum, Wirtschaft und Demokratie miteinander kompatibel zu halten. Den Verweis auf die BRICS-Länder hält Streeck für zu verwegen, wenngleich es auch hier darauf ankomme, die terms of trade zu beachten. Wenn die Ipad-Produktion zu anständigen Löhnen erfolge, müsste das Ding in dem Luxusladen am Kurfürstendamm 5.000 € kosten.

Zum Schluss warnt er erneut vor der kumulativen Bevorteilung derer, die haben, zeigt sich zutiefst skeptisch im Hinblick auf weitere Verschuldung: das inhärente künftige Leistungsversprechen verliere an Glaubhaftigkeit. Wenn dieser Punkt erreicht sei, sei mit massivsten Krisenfolgen zu rechnen. Pragmatisch wird er nun doch noch: Die Rückkehr zu Parallelwährungen bei weiter bestehendem Euro sei denkbar, die AfD aber sei eine ähnlich bornierte single issue Partei wie die Lega Nord in Italien.

Hoffnung komme erst in Sicht, wenn die SPD mit dem Merkel-Kurs bricht.
 
Crosspost von Wiesaussieht
 

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