#Charts

Die Droge der Musikwirtschaft

von , 5.3.09

Stattdessen sind wir es, die als Erwachsene Ramones Museen gründen und pflegen, uns nicht altersgemäß kleiden und versuchen, uns im Zweifel gegenseitig zu provozieren, während diese verwöhnten Gören von Teenagern vorm PC oder Mac hängen und sich per Study VZ gruscheln oder mit Hilfe von Egoshooter Games gegenseitig abknallen.

Im ständigen Hase und Igel Spiel des Decodierens popkultureller Signale haben wir ganz klar die Nase vorn. Nachdem Gangsta Hip Hop aus dem märkischen Viertel und Emo aus Magdeburg dem Nachwuchs auch nicht geholfen hat, sind die Rotzlöffel in virtuelle Welten geflohen. Selbst schuld…

Selbst schuld ist auch die Popindustrie, die den oben beschriebenen Vorgang bis heute nicht wirklich verinnerlicht hat. Früher, als die Jugend in Sachen Pop und Rock noch ihren Job machte, konnte sie anhand der Charts sehen, was bald relevant werden würde. Wer Meinungsführer im Freundeskreis war, musste schnell loslaufen um sich die wichtigsten, neuen, „heißen Scheiben“ zu kaufen. Auf dem Schulhof wurde dann angegeben und mit den Mixtape die Mädchenherzen erobert. Eine Abbildung der Verkäufe einer Woche zeigte also das auf, was die schnellen, beweglichen und jugendlichen Trendsetter kauften und war ein wichtiges Signal, um in den vielen Schallplattenläden und Abteilungen für eine Marktabdeckung mit Tonträgern des jeweiligen Chartstürmers zu sorgen sowie Radio DJs von dessen Relevanz zu überzeugen.

Die Zeiten sind vorbei. Radioprogramme werden bei den meisten Stationen (Motor FM ist da natürlich eine Ausnahme :-)) nicht mehr von DJs gemacht, sondern durch automatisierte Playlist auf Basis von Callouts (Telefonumfragen) bestimmt. Schallplattenhändler gibt es kaum noch, dafür einige wenige, zentral belieferte Ketten und Onlineshops, die alles Repertoire ohne Bestandsrisiko vorhalten können. Echte Opinionleader holen sich die neusten Songs und Trends lange vor Veröffentlichung illegal aus dem Netz. Da landen sie zwangsläufig, sobald die Medien bemustert werden, um über sie zu berichten und den Konsumenten heiß zu machen. Der Bedarf soll gestaut werden, um sich dann in den Charts zu entladen.

Pustekuchen, die Charts haben ausgedient. Wenn wirklich spannende Musik veröffentlicht wird, hat die Zielgruppe sie entweder schon längst, oder sie ist so alt und souverän, dass sie alle Zeit der Welt hat, um sich diese zu beschaffen. Der neueste Trend ist auch drei Wochen später noch heiss genug… Abgebildet wird im Kern der Erwerb von Quängelware („Mami ich will Schnappi, sonst schrei ich“) oder das Verhalten Ewiggestriger, die mit dem Internet nicht warm geworden sind (besonders häufig unter Castingshow-Zuschauern und Hard Rock Fans zu finden). Die Charts und die mit ihr einhergehende Politik der Veröffentlichungsverschleppung sind somit eher zur Belastung, denn zum Mittel zur Absatzförderung der Musikindustrie geworden. Sie wirken sich sowohl inhaltlich als auch wirtschaftlich negativ aus.

Wie ein Drogensüchtiger, der vom Gift nicht lassen kann, kommen die meisten Labels dennoch von der alten Systematik nicht los. Verständlich, Charts liefern die letzten Zahlen, die einen bei Bossen oder den Headquarters in London und/oder New York gut aussehen lassen. Den Deutschen bedeutet die Liebe ihrer Bosse viel. Wir sind deshalb auch das einzige Land der Welt, das die Charts sogar für ihre jährlichen Musikpreise heranzieht. Das macht den Echo von den Preisträgern her (T. Godoj, S. Heinzmann , P. Potts…) dann zwangsläufig zur Castingparade. Wer aber Popmusik nur noch als Derivat von TV-Realiyshows erlebt, hat alles Recht der Welt, Authenzität lieber durch die Flucht in Socialcommunities und LAN-Battles zu suchen und sich der Erneuerung zu entziehen.

Tim Renner schreibt auf Motorblog, wo auch dieser Text erschienen ist.

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