Die Documenta provinzialisieren

Solange der Anspruch aber ist, eine Vielfalt von Kunst und Diskursen aus der ganzen Welt abzubilden, wird man wohl respektieren müssen, dass die hiesigen Wert- und Vorurteile nicht überall gelten.

von , 20.1.22

Wenn deutsche Antisemitismus-Vorwürfe auf internationale Kunst treffen.

Ein Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus beschuldigt die kommende Documenta antisemitischer Umtriebe. Einige der eingeladenen Künstler:innen, Kurator:innen und auch Mitglieder der Findungskommission haben offenbar auf unterschiedliche Weise Sympathien mit den Anliegen der Palästinenser gezeigt. Wohlgemerkt: bis jetzt ist noch nicht ein einziges Werk der Ausstellung bekannt. Natürlich hat sich das Kuratorenteam umgehend von Antisemitismus jeder Art distanziert. Trotzdem bläst die Presse zur Jagd. Letzte Woche machte Thomas E. Schmidt in der »Zeit« den Anfang. Andreas Fanizadeh sekundiert in der »taz« und warnt vor »Hass im Namen der Kunstfreiheit!« In der »Welt« fordert Swantje Karich, die Kulturstaatsministerin müsse sich der Sache annehmen.

Was genau sollte Claudia Roth tun? Es ist ofentlichtlich, dass sich unter den Künstler:innen wie auch den Kurator:innen der documenta etliche Stimmen finden, die die gegenwärtige Politik des Staates Israel kritisieren, sogar von Apartheid sprechen und sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen. Manchen gilt das bereits als »antisemitisch«. Und hier beginnt das erste Problem. Denn man kann sehr wohl gleichzeitig das Existenzrecht Israels entschieden verteidigen und trotzdem zugleich die dort gegenwärtig verfolgte Politik ablehnen. Wer jegliche Kritik an israelischer Politik als antisemitisch bezeichnet, tut am Ende dem Kampf gegen tatsächliche Antisemiten keinen Gefallen. Vor lauter obsessiver Jagd auf die angeblichen Feinde des Staates Israel gerät der immer wieder aufs Neue notwendige Kampf gegen die tatsächlichen Judenhasser und Rassisten ganz aus dem Blick. Die Verurteilung der BDS-Bewegung im deutschen Parlament illustriert genau dieses Dilemma. Der Aufruf zum Boykott israelischer Waren ist strikt abzulehnen, aus historischen Gründen und weil er wie jede Sanktion eine falsche Kollektivhaftung bewirkt. Wer allerdings je in Israel war und die Lage der Palästinenser dort selbst gesehen hat, kann durchaus nachvollziehen, wie jemand auf eine solche Idee kommt. Es macht keinen Sinn, Diskussionen oder künstlerische Auseinandersetzungen zu dieser Frage als »antisemitisch« zu brandmarken.

Zu diesem Irrweg kommt ein zweites, sehr deutsches Problem. Wenn es darum geht, hiesige Moralvorstellungen über alles zu stellen, schlägt oft ein durch und durch deutscher Hang zur Rechthaberei und Besserwisserei durch. Die Arroganz, mit der für hierzulande gepflegte Wert- und Moralvorstellungen Weltgeltung beansprucht wird, erinnert an die schlimmsten Zeiten wilhelminischer Überheblichkeit. Noch immer gilt hier offenbar die Losung »es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen«. Wer ein wenig über den Tellerrand schaut, wird feststellen, dass der Rest der Welt nicht so deutsch tickt, wie manche es hier gerne hätten. Zum Glück. Und wer Austausch mit internationalen Kulturschaffenden gesucht, wird sich damit abfinden müssen, dass in weiten Teilen der Welt die Palästinenser als Opfer eines Apartheid-Regimes mit kolonialen Ursprüngen angesehen werden. Einer solchen Einschätzung kann man widersprechen, aber »antisemitisch« ist sie nicht.

Dass eine Antifa-Gruppe aus Kassel auf die Verstrickungen hinweist, ist kein Problem. Im Gegenteil, es ist zu begrüßen und könnte eine Diskussion eröffnen. Die vermutlich beste Reaktion wäre es, wenn die Kurator:innen der Ausstellung die Kritiker zur Diskussion einladen. Wenn aber nun Journalist:innen von der zuständigen Ministerin verlangen, sie müsse derartige Umtriebe unterbinden, dann sollten sie auch gleich die nächsten Schritte mitdenken. Vielleicht müsste eine Prüfbehörde her, um künftig sämtliche Ausstellungen vorab zu sichten? Oder man könnte alle Angestellten in Kulturbehörden verpflichten, eine Gesinnungsklausel zu unterzeichnen, etwa nach dem Vorbild des Springer-Verlags?

Das postkoloniale Projekt einer Provinzialisierung Deutschlands käme damit einen großen Schritt voran. Und wenn dann die Documenta erst ganz zur deutschen Provinz-Posse herabgesunken ist, ließen sich die Abläufe sicher wieder verschlanken. Dann könnten die eingeladenen Künstler, sofern sie überhaupt noch kommen wollen, ihre Ausstellungsstücke geradewegs beim lokalen Kultur-Blockwart zur Prüfung vorlegen.

Eine Grenze wird man wohl ziehen müssen, aber nicht so. Sondern dort, wo Künstler oder Werke gegen Gesetze verstoßen, also etwa volksverhetzend sind oder zur Gewalt aufrufen. Um das festzustellen, sollte man die Arbeiten schon erst einmal gesehen haben, oder nachweisen können, dass die fraglichen Künstler genau das vorhaben. Ein gewisses Restrisiko kann bei Ausstellungen nie ganz ausgeschlossen werden. Wer das nicht aushält, muss nach dem Zensor rufen und verlässt damit die Zone liberaler Kulturpolitik und künstlerischer Freiheit.

Solange der Anspruch aber ist, eine Vielfalt von Kunst und Diskursen aus der ganzen Welt abzubilden, wird man wohl respektieren müssen, dass die hiesigen Wert- und Vorurteile nicht überall gelten. Der Ministerin bleiben nun zwei Wege. Sie kann sich dem Kulturprovinzialismus zuwenden. Oder sie kann der Zusicherung der Documenta vertrauen und auf sich zukommen lassen, was die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler am Ende zeigen.

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