Autoritäres »Stupsverhalten« untergräbt die Demokratie, die von den Beiträgen autonomer Individuen lebt. (...) Die meisten Menschen wissen besser als ihre selbsternannten Väter, was gut und was schlecht für sie ist. Eigenständige Entscheidungen können sie jedoch nur dann treffen, wenn sie wahrheitsgemäß und verständlich über ihre Wahlmöglichkeiten und die Kontexte ihrer Entscheidungen informiert werden.
von Gisela Schmalz, 10.12.19
»To nudge« heißt auf Deutsch, ganz niedlich, »stupsen«. Nudging ist aber nichts Niedliches. Es bezeichnet die subtile Modellierung von Entscheidungsarchitekturen mit dem Ziel, menschliches Verhalten ohne Anweisungen, Verbote oder Zwang in vorhersehbarer Weise zu ändern. 2008 erschien das Buch »Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness« des Verhaltensökonomen Richard Thaler und des Juristen Cass Sunstein. Mit gleicher Begeisterung lasen und lesen es Leute, die andere manipulieren wollen, und Leute, die mangels Selbstbeherrschung mit Nudges zum »besseren Verhalten« angestupst werden wollen. Eine im Pissoir klebende Fliege zum Draufzielen hat noch niemandem geschadet – auch nicht die Ausgabe kleiner Essteller oder das Platzieren von Obstschalen auf Sichtniveau in Kantinen. Auch am Straßenrand aufleuchtende Smileys, wenn Autos in gedrosseltem Tempo vorbeifahren und nicht einmal die Fotos von Lungenkarzinomen, Krebsgeschwüren und Leichen auf Zigarettenschachteln stören oder schaden. Mit derlei gesetzeskonformen Tricks versuchen Arbeitgeber und Staatsbeamte ihre Schutzbefohlenen zu erziehen. Nudges sollen Menschen auf den Weg der Tugend stupsen, sie dazu bringen, gesünder zu leben, für ihr Alter vorzusorgen oder Energie zu sparen. Den US-Präsidenten Barack Obama überzeugte das Stups-Konzept, das auf behavioristischen Erkenntnissen beruht. Von 2009 bis 2012 ließ er den Nudge-Fachmann Cass Sunstein im »Office of Information and Regulatory Affairs« Nudges für US-Bürger erarbeiten. Auch der britische Premierminister David Cameron und seine Regierung ließen sich verhaltenstheoretisch inspirieren und richteten eine Nudging-Abteilung ein. Die Stups-Begeisterung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel hielt sich zunächst in Grenzen. Sie stellte nicht, wie Barack Obama, bereits 2008 dreißig, sondern erst 2015 drei Nudging-Spezialisten ein, die Stups-Konzepte entwerfen sollten.
Doch Menschen pissen weiterhin fröhlich über Beckenränder, essen immer noch zu viel, darunter Mengen an Süßigkeiten, rauchen bis der Krebs kommt, fahren zu schnell und lassen Automotoren im Stand laufen. Nudging wirkt nicht bei jedem und jeder. Bei wiederholtem Einsatz zeigt es Abnutzungseffekte (Ekelbilder auf Zigarettenschachteln). Viele durchschauen das Nudging und auch die Rechtfertigung dafür, den Ausdruck »libertärer Paternalismus«, als Bevormundung. Die Formel »libertärer Paternalismus« ist in sich widersprüchlich. Dieses Begriffsmonstrum zeugt von der autoritären Überheblichkeit derer, die Nudging als seligmachend verkaufen wollen. Die Nudge-Heilsbringer Thaler und Sunstein stellten ihrem Terminus »Paternalismus« das Adjektiv »libertär« voraus, als wollten sie sich bei den Zielpersonen des Nudging für deren Freiheitsberaubung entschuldigen oder sie erneut austricksen. Stellen Autoritäten Menschen Obstschüsseln unter die Nasen oder lassen sie Formulare mit vorausgefülltem »ja« beim Stichwort »Organspende« unterschreiben, behandeln sie sie wie überlistbare Kinder. Sie befördern eine allgemeine Verdummung, die von schlechter Bildungspolitik vorbereitet wurde. Paternalistisches Nudging ist Manipulation. Nichts daran ist »libertär«. Freie Bürger brauchen keine väterlichen Stupser – weder von Arbeitgebern noch von Staatsbeamten – und schon gar nicht von den »Nutzererfahrungsspezialisten« der mächtigen Technologiekonzerne.
Die digitalen Stupser von datensammelnden, werbe- und propagandatreibenden Tech-Firmen sind perfider als die analogen, weil sie schlechter identifizierbar sind. Permanent auf Nutzende losgelassene Online-Nudges sollen sie zum Dauerkonsum von Social Media-, Video-, Game- und sonstigen Angeboten, zum Klicken von Werbehinweisen oder zum Konsum verleiten. In Tech-Konzernen werden Verhaltensökonomen und Psychologen derzeit hofiert. Auf der Grundlage behavioristischer Erkenntnisse, dass Menschen lieber kurz- als langfristig denken, mehr Angst vor Verlust als Lust am Risiko bei Gewinnchancen zeigen, sich an anderen Personen (Social Influence), an vorausgegangenen Reizen (Priming) oder den unmittelbar verfügbaren Informationen (Anchoring) orientieren, basteln sie in Teams mit Entwicklern und Programmierern an verhaltensverändernden, technologischen Nudges. Sie betreiben »Psychological Engineering« oder »Social Engineering«, wenn sie für fehlbare, vertrauensselige Menschen personalisierte Entscheidungsstrukturen, stupsende Blings, Pfeile, Meldungen, rote Buttons und andere Nudges kreiieren. US-Firmen wie Facebook (Instagram, WhatsApp), Alphabet (YouTube), Amazon, Twitter oder Snapchat und chinesische Konzerne wie Tencent (WeChat) oder ByteDance (TikTok) bauen ihren Algorithmen, Apps und Plattformen »persuasives Design« ein. Ziel ist es, damit das Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Verhalten möglichst vieler Nutzender möglichst lange zu kapern, um sie mit den Botschaften oder Waren (bezahlender) Auftraggeber konfrontieren zu können.
Mit einem Brief wandten sich im August 2018 50 US-Psychologen an die »American Psychological Association« (APA). Darin verwiesen sie auf die unethischen Praktiken ihrer Kollegen, die für Tech-Konzerne »versteckte Manipulationstechniken« designten. Sie forderten ihren Verband dazu auf, sich für den Schutz tech-dauernutzender Kinder zu engagieren. Der Experimentalpsychologe B. J. Fogg hat den Aufruf nicht unterschrieben. Der Gründer und Direktor des »Stanford Behavior Design Lab« forscht seit 1997, inzwischen auch unter dem Stichwort »Gewohnheiten«, in Stanford an den Fragen, wie Webseiten auf Nutzende glaubwürdig wirken und wie Computer die Meinungen und Handlungen von Nutzenden in zuvor festgelegter Weise beeinflussen können. Dazu kooperiert Fogg mit Konzernen wie Facebook. Einige spätere Silicon Valley-Größen, darunter die Instagram-Gründer Kevin Systrom und Mike Krieger, wurden in seinem Labor ausgebildet. Trotz des Psychologen-Apells und trotz in aller Welt immer lauter geäußerter Kritik basteln »Verhaltensarchitekten« weiterhin an süchtig machenden und »persuasiven Technologien«.
Doch genauso wenig wie Paternalismus »libertär« ist, sind Tech-Nudges persuasiv im Sinne von »überzeugend«. Sie richten sich nicht an die Ratio, sondern an das Unbewusste der Zielpersonen. Sie sind unterschwellig manipulativ. Verhaltensforscher haben festgestellt, dass Menschen Denkabkürzungen wählen, eher schnell und instinktiv, als langsam und überlegt vorgehen (Daniel Kahnemann: »Thinking, Fast and Slow«). Sie analysieren nicht misstrauisch jeden Pfeil, jedes Zeitlimit, jede Empfehlung oder jedes Autoplay, dem sie im Netz begegnen. Lieber geben sie sich dem Flow der Algorithmen, ihrer Neugier und Spiellust hin. In der Regel bleibt den Normalnutzenden sowieso nichts anderes übrig: Entscheidungsmodulationen erleichtern die Qual der Wahl. Außerdem sind sie für sie schlecht oder gar nicht identifizierbar, gerade wenn sie neu oder raffiniert sind – und neue, raffinierte Beeinflusserlein werden ständig ausprobiert. Ihre anscheinende Harmlosigkeit und Unbegreiflichkeit machen Nudges so wirkungsvoll. Menschen tappen in die auf Datenbasis speziell für sie maßgeschneiderten Fallen. Sie betrachten, klicken, kaufen, denken, wählen und tun das, wohin Nudges sie stoßen. Nudgenden Tech-Konzernen bescheren ihre Tricks nicht bloß höhere (Werbe-) Einnahmen. Neben wirtschaftlicher Macht verschaffen sie ihnen zusätzlich immer mehr politischen, sozialen und psychologischen Einfluss über Einzelpersonen, Gruppen und ganze Gesellschaften. Autoritäres »Stupsverhalten« untergräbt die Demokratie, die von den Beiträgen autonomer Individuen lebt.
Dass technologisches Bürger-Nudging breiten- und tiefenwirksam ist, illustriert das Sozialkreditsystem Chinas. In der Volksrepublik kooperieren der Zentralrat und die heimischen Tech-Konzerne erfolgreich an der Verhaltensmodulation chinesischer Bürger. Damit diesen die Gängelung Spaß macht und mögliche Befürchtungen zerstreut, ist sie wie ein großes Gesellschaftsspiel konstruiert. Wer sich nudgen lässt, wird auch genudged. Menschen sollten schleunigst System 2 (Daniel Kahnemann) anwerfen, ihr langsames, reflektiertes, überlegtes und schlussfolgerndes Nachdenken darüber, was ihnen technologisch so alles vorgesetzt wird und wie es sie und ihre Umwelt prägen könnte. Nur ihre Reflektiertheit kann sie vor den manipulierenden Designs monetär oder ideologisch getriebener Tech-Modellierer bewahren. Nutzende sollten langsamer und aufmerksamer als bisher durch technologische Welten reisen und womöglich öffentlich gegen Nudging mobilisieren. Auch Vater Staat muss hier aktiv werden, wenn er sich schon paternalistisch geriert. Regierungen des Westens sollten sparsam mit eigenen Nudges umgehen. Und sie sollten nudgenden Tech-Konzernen, die das Unbewusste, die Unkenntnis und die Trägheit von Menschen für ihre Zwecke ausschlachten, dringend Einhalt gebieten. Verhaltenssteuernde Architekturen und Technologien sind permanent zu beobachten. Die Unternehmen dahinter sind zur Offenlegung ihrer Methoden zu verpflichten. Das gelingt vermutlich nur, wenn Gesetze sie dazu zwingen, ihre Verfahren zu erklären und Nutzende jedes Mal deutlich darauf hinzuweisen, wohin welcher Stupser sie wie lenken soll. Flankierend sollten staatliche Aufklärungskampagnen und sinnvolle Bildungsmaßnahmen zur Erhellung der Nutzenden (Bürger) eingesetzt werden. Menschen brauchen Aufklärung, statt Nudges. Sie verdienen, ihre Würde und Wahlfreiheit respektierende Entscheidungsarchitekturen. Das sind Wahlsituationen, die mehrere und nicht nur ein bis drei Optionen bieten, und die die Vernunft (System 2) ansprechen, statt niedere Instinkte (System 1) auszubeuten. Die meisten Menschen wissen besser als ihre selbsternannten Väter, was gut und was schlecht für sie ist. Eigenständige Entscheidungen können sie jedoch nur dann treffen, wenn sie wahrheitsgemäß und verständlich über ihre Wahlmöglichkeiten und die Kontexte ihrer Entscheidungen informiert werden. Nudgende Regierungen und Tech-Konzerne müssen ihre Beeinflussungsvorhaben und -verfahren offenlegen. Und wollen sie Menschen für ihre Ideen, Ziele oder Produkte gewinnen, so sollten sie sie zu überzeugen versuchen, anstatt sie latent zu überrumpeln. Bürger und Kunden sind herausgefordert, bevormundende Designs aufzuspüren und besonnen auf sie zu reagieren. Nudge-Auge sei wachsam! Nur wer seine Optionen kennt und weiß, was er will und nicht will, kann selbstbestimmt und ungestupst entscheiden.