#Ägypten

Die Ägyptische Tragödie

von , 9.10.13

 

„Ich will, dass die Welt sich verändert. Sie wird sich aber nur verändern, wenn die Wahrheit verbreitet wird, wenn wir uns vernetzen.“

Lina Ben Mhenni, tunesische Bloggerin und Dissidentin

 
2011 war die breite westliche Öffentlichkeit überrascht, wie sehr sie sich in ihrer Vorstellung von orientalischen Gesellschaften getäuscht hatte. Man hatte ein überzeichnetes Bild des „Kriegs gegen den Terror“ vor Augen gehabt, in dem jede Diktatur gegen die befürchtete Gründung eines Gottesstaats zu unterstützen sei. Nun erlebte man junge Menschen aller arabischen Staaten, die zu ihren Despoten wie zu ihren oftmals kümmerlichen Lebensperspektiven Nein sagten.

Diese arabische Jugend vernetzte (und vernetzt) sich über Blogs, Facebook und Twitter. Die Welt wurde überflutet von Bildern und Emotionen, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Die digitale Revolution zeigte sich zum ersten Mal in ihrer ganzen Macht. Einerseits bekamen die Menschen außerhalb der arabischen Länder in Echtzeit mit, wie schnell sich epochale Umbrüche vollziehen können. Anderseits sahen sie, wie wenig es nützt, wenn man die bisherigen Leitmedien der Printmedien oder TV-Sender zensiert, während die Bürger einer Diktatur auf Informationen des Internets zurückgreifen können. Dass Mubarak versuchte, Ägypten vom Internet zu trennen, war ein letzter verzweifelter Versuch, die Kontrolle über das Land zurückzuerlangen.

Nun verstieg sich die westliche Öffentlichkeit zum entgegengesetzten Klischee. Sie glaubte, die arabischen Länder und gerade Ägypten würden demnächst von Sakko tragenden Google-Managern regiert werden, während die Errichtung einer pluralistischen Demokratie nur noch eine Formsache sei. Wo man vorher nur Islamisten gesehen hatte, sah man nun nur noch die demokratischen Aktivisten der Revolution von 2011.

Man verkannte die europäischen Irrungen und Wirrungen seiner eigenen Geschichte von 1789-1989, bevor die europäischen Staaten stabile Demokratien wurden. Man verkannte die Komplexität der eigenen Gesellschaften, und wie lange kulturelle Wandlungsprozesse zu einer pluralistischen Demokratie dauern können. Man sprach vom „Arabischen Frühling“ oder in Tunesien von der „Jasmin-Revolution“.

Sehr verniedlichende Begriffe, wenn man bedenkt, wie viele Menschen im Kugelhagel der Despoten starben, wie viele Menschen in finsteren Kerkern „verschwanden“; was es für die Menschen bedeutete, sich einer brutalen Staatsmacht entgegenzustellen, die wie in Libyen und Syrien auch nicht davor zurückschreckte, Panzer gegen Demonstranten zu schicken.

 

Mursis verlorenes Jahr

„Nur Gott weiß, wie viele Nächte wir die Situation unseres Landes diskutierten, das Siechtum analysierten und mögliche Heilmittel überlegten.“

Hasan Al-Banna, Gründer der Muslimbruderschaft

 
Die ägyptische Muslimbruderschaft, 1928 im ägyptischen Ismaïlia gegründet, ist die älteste und größte islamische Partei der arabischen Welt. Ihre Ableger regieren Tunesien, haben in Gaza eine Diktatur errichtet, sind eine parlamentarische Kraft in Jordanien und haben 1982 den ersten Aufstand in Syrien gegen die Assads gewagt.

Gestartet als soziale und islamische Bewegung gegen die westliche Bevormundung der Kolonialzeit, wurden die Muslimbrüder in wenigen Jahren zu einer Massenorganisation. Sie errichteten Suppenküchen, bauten Schulen und Krankenhäuser, förderten Sportvereine und installierten Elektrizität in ländlichen Dörfern. So wurden sie nach und nach zu einem straff organisierten Staat im Staate. Als sie dadurch nach der ägyptischen Unabhängigkeit die Macht der neuen militärischen Machthaber gefährdeten, wurden sie in den Untergrund getrieben. Verfolgt und gefoltert, wurden sie trotzdem – oder gerade deswegen – zur treibenden Kraft gegen die Diktatoren Ägyptens.

Die Islamisten zu bekämpfen, wurde zur Machtgrundlage der Militärs, denn nur sie würden nach eigener Ansicht den Gottesstaat verhindern können. Dass es die urbane Jugend war, die die Machthaber vertrieb, überraschte sie nicht nur selbst – da sie von dieser Seite der ägyptischen Gesellschaft wenig befürchtet hatte -, sondern besonders die Islamisten.

Doch im Gegensatz zu den zahlreichen neuen demokratisch-säkularen Parteien, die sich nicht auf eine gemeinsame Politik gegenüber Islamisten und Militärs einigen konnten und zerstritten blieben, konnten sich die Muslimbrüder wie die alten Eliten auf einen gewaltigen Apparat stützen. Dieser Apparat ermöglichte ihnen bei der ersten freien Präsidentschaftswahl 2012, zu triumphieren. Ihr Kandidat Mohammed Mursi erreichte die Stichwahl gegen den Kandidaten des Militärs, Šafīq, der der letzte Ministerpräsident unter Mubarak gewesen war.

Viele Ägypter, die den alten Staat ablehnten, hofften, dass Mursi, der lange in den USA gelebt hatte, einen moderaten Kurs anstreben würde, und wählten ihn. Diese Haltung zeigt das Dilemma der ägyptischen Zivilgesellschaft: Man fürchtete sich mehr vor den Militärs als vor den Islamisten, weshalb man sich zunächst den Islamisten zuwandte.

Mursi bestätigte zunächst viele Erwartungen. In seinem Kabinett waren Christen und Frauen vertreten, er wurde international für seine Vermittlung in der Gaza-Krise im Herbst 2012 gefeiert. Aber danach setzte er am 22. November 2012 die Demokratie außer Kraft, indem er sich selbst umfassende Vollmachten gab. Gegen diese despotische Politik gab es vom ersten Tag an Proteste, die von Monat zu Monat zunahmen. Wie traurig die Situation in Ägypten zu diesem Zeitpunkt, habe ich hier beschrieben.

Seit Mursi am 30. Juni 2013 mit Hilfe des Militärs gestürzt wurde, wenden sich nun immer mehr Menschen wieder den Islamisten zu, um die Militärs los zu werden. Eine Entwicklung, die bereits der ägyptische Intellektuelle Farag Fouda Anfang der 90er-Jahre den „ewigen Teufelskreis” nannte, bevor er selbst von Islamisten erschossen wurde.

 

„Die Revolution frisst ihre Kinder“ – Sommer/Herbst 2013

Gegen die undemokratische Politik Mursis formierte sich unter dem Banner „Tamarrud!“ (Rebellion) ein breites Bündnis von Einzelpersonen und Organisationen gegen Mursi. Ihr Ziel, ihn zu stürzen, haben sie erreicht. Millionen Menschen demonstrierten gegen Mursi und nährten die Hoffnungen auf einen neuen erneuten demokratischen Aufbruch. Doch der erhoffte Neuanfang blieb aus: statt einen nationalen Dialog einzuleiten und damit das Land aus der Krise zu führen, machen die Generäle dort weiter, wo die Bruderschaft aufgehört hat.

Gegen die Islamisten wird mit aller Brutalität vorgegangen, was bereits mehr als tausend Menschen das Leben kostete und Tausende Islamisten in den Gefängnissen verschwinden ließ. Gleichzeitig werden säkular-demokratische Kritiker der neuen Regierung verfolgt. Die staatlichen Medien wurden gleichgeschaltet, syrische Flüchtlinge werden als Sündenböcke missbraucht, während der neue starke Mann Ägyptens Militärchef a-Sissi sich als neuer Führer feiern lässt. Die Islamisten wiederum haben ganze Städte unter ihre Kontrolle gebracht. Es finden Hetzjagden auf die ägyptischen Christen statt, während die Proteste der Islamisten wegen der Repressionen wieder Zulauf erhalten.

 

Was bleibt?

Die arabische Revolution ist einmalig. Zum ersten Mal gingen Millionen Menschen auf die Straßen, um für sich und ihre Generation entscheidende politische und soziale Rechte zu fordern. Dieser Aufstand wird sich in das Gedächtnis der Menschen einbrennen, und das Rad kann trotz schwerster Repressionen nicht zurückgedreht werden. Die Menschen gerade in Ägypten wissen nun, wie groß ihre Macht sein kann, wenn sie sich vernetzen und zusammenschließen. Blogs und digitale Kommunikation werden den demokratischen Diskurs trotz Gleichschaltung der bisherigen Leitmedien weiter fördern.

Jetzt wäre es dringend notwendig, die Muslimbrüder einzubinden, um tatsächlich eine stabile Demokratie zu entwickeln, statt zum „ewigen Teufelskreis“ zurückzukehren. Es wäre notwendig, die Machtbefugnisse des Militärs maßvoll zu beschneiden, da es selbst ein Staat im Staate ist, andererseits aber notwendige Unternehmen und Infrastrukturen besitzt oder beaufsichtigt. Beides wird aber wohl kaum geschehen, nach all der Gewalt, die sich beide Seiten angetan haben. Zur Staatskrise kommt die Wirtschaftskrise: Der Tourismus befindet sich im freien Fall und wird durch die widersprüchlichen Meldungen kaum zunehmen.

Die Aussichten auf die nahe Zukunft Ägyptens sind düster. Im Gegensatz zu Tunesien ist das Land einem Bürgerkrieg näher als einer pluralistischen Demokratie. Die Tragödie, die sich im Land am Nil abspielt, liegt im Widerstreit seiner beiden mächtigsten Organisationen: Sie reißen Ägypten in den Abgrund. Die Zivilgesellschaft kann dem wenig entgegensetzen.
 

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