von Jürgen Drommert, 16.8.13
Im Englischen gibt es die schöne Wendung “the elephant in the room”: Alles starrt und lauscht gebannt in eine Richtung, und dabei merkt keiner, dass genau in diesem Augenblick ein Elefant im Zimmer scharrt und schnauft. Dieser elephant in the room heißt Vorratsdatenspeicherung.
“Vorratsdatenspeicherung”, das klingt etwa so geheimnisvoll wie “Einwohnermeldeamt” oder “Lohnsteuerjahresausgleich”. Mit Code-Wörtern wie “Prism” und “Tempora” kann dieses Bürokratenkonstrukt nicht mithalten. Ein klarer Fall von Understatement: Als Programm zur Massenüberwachung läuft die europäische Vorratsdatenspeicherung in derselben Spielklasse wie ihre amerikanischen und britischen Geschwister. Auch das ist eine Erklärung dafür, dass bei den Regierungen der EU-Länder die Empörung über die Enthüllungen der vergangenen Wochen denkbar matt ausfiel – wie könnten sich entschiedene Befürworter gigantischer Überwachungsapparate gegen die Bespitzelung ihrer Bürger durch ausländische Geheimdienste wenden, wenn nicht nur aus nationalem Dünkel? Ganz davon abgesehen, dass ihre heimischen Dienste allesamt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, am Tropf der NSA hängen. Denn die hat schließlich weit früher als etwa der BND das Neuland Internet nicht nur entdeckt, sondern auch besiedelt.
Auch die Medien haben die Vorlage, die ihnen die “US-Geheimdienst-Affäre” geliefert hat, ins Leere laufen lassen: Die ebenso naheliegende wie notwendige Verknüpfung zu einer Geheimdienst-Affäre der westlichen Demokratien ist weithin ausgeblieben. Das ist verständlich, schließlich wurde die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung schon 2006 vom Rat der Europäischen Union angenommen und hat damit in der öffentlichen Aufmerksamkeit keine Chance gegen frisch aufgedeckte Überwachungsprogramme von NSA und GCHQ. Schade eigentlich. Denn was das Ausmaß der Bespitzelung und der Verletzung bürgerlicher Rechte angeht, müssen wir uns mit diesem mächtigen Instrument zum Sammeln von Bestands- und Verkehrsdaten – heute modisch “Metadaten” genannt – nun wirklich nicht vor unseren amerikanischen Freunden verstecken.
Zugegeben: Es gibt einen gravierenden Unterschied. Anders als die US-amerikanischen und britischen Überwachungsprogramme ist die Vorratsdatenspeicherung kein Schattengewächs. Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung wurde nie geheim gehalten, sie hat mit mit den Stimmen der Sozialdemokraten und der Christdemokraten das europäische Parlament passiert, selbst das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Abgeordneten liegt offen.
Auch darüber, wie die Richtlinie in die jeweilige nationale Gesetzgebung umgesetzt wurde, herrscht vollkommene Transparenz. Kurz gesagt: Es ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Formal zumindest, denn für den Bürger macht es keinen gar zu großen Unterschied, wie die Massenüberwachung, der er ausgesetzt ist, zustande kam – und natürlich kann am Ende eines Gesetzgebungsprozesses nach allen demokratischen Regeln ein Gesetz und eine Rechtspraxis herauskommen, die demokratische Grundsätze verhöhnen.
Dass die Vorratsdatenspeicherung vom selben Kaliber ist wie ausländische Überwachungsprogramme, ist offensichtlich, der grand old man des Überwachungsstaats Otto Schily hat erst vor kurzem in einem Spiegel-Interview darauf hingewiesen. Und selbstverständlich sind sich auch die Verfechter von Privatsphäre und bürgerlichen Freiheitsrechten der Parallele bewusst. Der US-amerikanische Kryptograph Phil Zimmermann ist Mitgründer von Silent Circle, einem Anbieter von sicheren und privaten Kommunikationsdiensten. Um Repressionen in den USA zu entgehen, will das Unternehmen jetzt Server in der Schweiz einsetzen. Warum ausgerechnet die Schweiz? Phil Zimmermann stellt klar:
“Sie haben nicht die Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung, wie sie die EU hat. Alle EU-Länder unterliegen Gesetzen zur Vorratsdatenspeicherung. In dieser Hinsicht ist die EU schlimmer als die USA. Tatsächlich gibt es solche Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung bei uns nicht, auch wenn wir in diese Richtung steuern.”
Der enge Fokus auf ausländische Geheimdienste führt in die Irre, und das Ausblenden der Bespitzelung durch die eigenen Dienste und Ermittlungsbehörden hat Methode: Es verhindert zuverlässig, pragmatische Lösungen für diese Demokratiekrise zu finden. Um zu glauben – oder doch wenigstens zu behaupten –, dass sich die NSA reumütig von ihrem Kerngeschäft, der Auslandsspionage, abbringen ließe, müsste man schon ein Pofalla sein. Doch unsere eigenen Überwachungsprogramme lassen sich auf europäischer und nationaler Ebene tatsächlich abschalten. Der Widerstand gegen eine solche Wiedereinführung der Privatsphäre ist massiv, gerade hat die EU-Kommission ihr Dossier “Evidence for necessity of data retention in the EU” (pdf) vorgelegt.
Die versprochenen Beweise für die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung bleibt die EU-Kommission zwar mangels belastbaren Zahlenmaterials schuldig. Aber eines wird immerhin deutlich: Dieses Instrument zur Massenüberwachung wird, was Wunder, tatsächlich massenhaft genutzt, nämlich mit über zwei Millionen Zugriffen auf gespeicherte Daten jährlich in den 23 EU-Ländern, die in dem Dossier erfasst werden. Angesichts dieser Zahl dürfte wenigstens die schale Rechtfertigung, die Überwachung diene der Terrorbekämpfung, endgültig vom Tisch sein.
Ohne die Umtriebe von NSA und GCHQ beschönigen zu wollen – in Europa ist und bleibt die Vorratsdatenspeicherung der Prüfstein für die Frage, wie man zum Überwachungsstaat steht. Aktuelle Vorschläge für eine “Vorratsdatenspeicherung light”, etwa die Abkürzung der Speicherfrist auf drei Monate, sind dabei bloße Ablenkungsmanöver. Im Grundsatz geht es darum, ob wir alle ohne jeden konkreten Verdacht überwacht werden wollen. Und da spielt es keine Rolle, ob dabei auf unsere Daten aus drei zurückliegenden Monaten oder aus zwei Jahren zugegriffen wird.
Wenden wir zur Abwechslung also mal unseren Blick von den Monstern vor dem Fenster ab. Kümmern wir uns um den elephant in the room.