#Bundestagswahl

Der Tag, an dem die SPD die Wahlen verlor

von , 21.9.09

Wie man Gelegenheiten nutzt, das wissen die Konservativen. Und deshalb erklärte Angela Merkel am vergangenen Samstag, sie werde auch dann mit der FDP regieren, wenn es im Bundestag nur zu einer Mehrheit mit Hilfe von so genannten Überhangmandaten reicht. Prozentual genügen Schwarz-Gelb nämlich schon 46 Prozent.

Und die SPD? Sie beeilte sich, die CDU vor einer „verfassungswidrigen“ Mehrheit zu warnen. Dabei wusste sie längst, was kommen würde. Man könnte sogar sagen: Die SPD hat die Bundestagswahlen vorsätzlich verloren.

Und das kam so:

Am 3. Juli 2008 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Wahlrecht in punkto Überhangmandate geändert werden muss, da es durch den „Effekt des negativen Stimmgewichts“ zu einer Missachtung des Wählerwillens kommen könnte. Das Gericht gab den Abgeordneten auf, das Wahlrecht bis spätestens 2011 zu ändern. Doch diese Frist erschien den Fraktionen von SPD, Grünen und Linken zu lang. Sie wollten vermeiden, dass die Bundestagswahl 2009 „verfassungswidrige Mehrheiten“ erzeugt.

Noch im Februar 2009 brachten die Grünen deshalb einen „Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes“ ein. Er wurde am 5. März im Plenum erstmals beraten. Die dafür vorgesehene Redezeit: 30 (!) Minuten.

Warum so hastig? Die Betreiber der vorzüglichen Website wahlrecht.de (deren Klage zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts geführt hatte), mahnten die Abgeordneten, sie würden das Ausmaß des Problems nicht erkennen. Wahlrecht.de rechnete den Abgeordneten vor, dass das Potential von Überhangmandaten bei der Bundestagswahl 2009 „bei bis zu 100 Sitzen liegen“ könne. „Und wenn die Überhangmandate vor allem auf eine Partei entfallen, ist die Umkehr einer Stimmenminderheit in eine Mehrheit bei der Verteilung der Sitze im Bundestag möglich – gerade weil eine Partei nicht von ihren Wählern gewählt wird. Dies würde zu einem erheblichen Verlust des Vertrauens in unsere Demokratie führen.“

Aufgrund der Umfragen zu dieser Zeit war klar, dass die stärkste Partei – die CDU/CSU – bei den kommenden Wahlen 8 bis 10 Prozentpunkte vor der zweitstärksten liegen könnte. Zahlreiche Überhangmandate waren also äußerst wahrscheinlich.

Am 4. Mai 2009 kam es zu einer ersten Experten-Anhörung beim Innenausschuss des Deutschen Bundestages. Zu dieser Zeit sah alles noch nach einer einvernehmlichen Lösung aus. Auch Norbert Lammert von der CDU plädierte für rasches Handeln. Doch am 17. Juni scheiterte plötzlich die Absicht von CDU/CSU und SPD, das Wahlrecht noch vor der Bundestagswahl gemeinsam zu ändern. Die CDU wollte keine schnelle Wahlrechtsreform mehr und verwies kalt lächelnd auf den Koalitionsvertrag. Dort hatten CDU und SPD festgelegt, dass sie im Bundestag nicht gegeneinander abstimmen.

Am 28. Juni 2009 warnten die Fraktionen von Linken und Grünen noch einmal eindringlich vor einer möglichen „verfassungswidrigen Regierung“ durch Überhangmandate. Sie appellierten an die SPD, trotz Koalitionsvertrag für den Gesetzentwurf der Grünen zu stimmen. Die Kanzlerin dagegen drohte, sämtliche SPD-Minister zu entlassen, wenn die SPD für den Änderungsantrag der Opposition stimmen sollte.

Und dann passierte es: Am 1. Juli 2009 empfahl der Innenausschuss des Deutschen Bundestages den Abgeordneten die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Grünen (Vorsitzender dieses Ausschusses: der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy, Obmann: der SPD-Abgeordnete Dieter Wiefelspütz).

Zwei Tage später, am 3. Juli 2009, also exakt ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, votierte der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD gegen das von den Grünen eingebrachte „Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes“. Nur 3 SPD-Abgeordnete stimmten mit den Grünen, darunter der ehemalige Innenminister Otto Schily.

Die SPD wollte die Koalition, deren Amtszeit bereits zu Ende war, nicht platzen lassen. War das nun dumm oder strohdumm?

Weder noch. Die Nibelungentreue der SPD-Fraktion hatte ein klares politisches Ziel: Sie wollte es sich mit der CDU nicht verderben, weil sie hoffte, die große Koalition nach der Wahl fortsetzen zu können. Anders ausgedrückt: Die SPD-Führung hatte zu keiner Zeit eine politische Alternative zu Rot-Schwarz erwogen. Alle Überlegungen hinsichtlich Rot-Rot-Grün oder Rot-Gelb-Grün waren nur dazu bestimmt, jene SPD-Mitglieder, die eine Fortführung der großen Koalition ablehnten, im Wahlkampf zu mobilisieren. Seit dem Putsch gegen Kurt Beck lautete der Fahrplan der SPD-Spitze: Fortsetzung der Großen Koalition.

Grundlage dieses Fahrplans war der feste Glaube, Angela Merkel werde sich nicht trauen, nach dem 27. September eine „verfassungswidrige“ Regierung anzuführen, also eine schwarz-gelbe Koalition, deren Bundestagsmehrheit sich auf Überhangmandate gründet.*

Die SPD-Führung verwechselte dabei ihre eigene Angst mit der vermeintlichen Angst der Konservativen. Doch die hatten noch nie große Skrupel, Gelegenheiten zu nutzen, wenn sie sich boten.

So könnte die ‚Cleverness’ der SPD-Führung (den Koalitionsvertrag am 3. Juli 2009 bewusst nicht zu brechen) am 27. September zum Rohrkrepierer werden.

*Angela Merkel könnte vor allem dann mit Hilfe von Überhangmandaten regieren, wenn das Zweitstimmenergebnis für schwarz-gelb das Zweitstimmenergebnis für rot-rot-grün übertrifft, wenn also z.B. schwarz-gelb zusammen 47,6 Prozent der Stimmen hätte, rot-rot-grün aber nur 47,4 Prozent. Ein winziger Stimmenvorsprung würde das Legitimationsproblem halbwegs lösen.

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