#Bankenkrise

Der Selbstbetrug der alten Männer – Europa hat kein PR-, sondern ein Politikproblem

von , 20.11.14

Die alten Männer haben vorgemacht, wie Europa geht, so konnte man letzte Woche an dieser Stelle lesen. Mit Leidenschaft und Verve hätten sie engagiert für Europa gekämpft, darüber glaubhaft kommuniziert und so die Bürger auf die europäische Zeitreise mitgenommen. Mit alten Männern waren gemeint: Genscher, Kohl und wahrscheinlich auch Delors und Mitterrand. Die üblichen Verdächtigen eben. Heute hingegen werde einfach nicht richtig über Europa kommuniziert. Dies alles schrieb Peter Ruhenstroth-Bauer, der ehemalige stellvertretende Chef des Bundespresseamtes unter Schröder, kürzlich hier auf Carta.

Mitnichten soll in den folgenden Zeilen der emotionslose, spröde, ideenlose und unterkühlteUmgang mit Europa von Bundesskanzlerin Angela Merkel und den meisten anderen deutschen Politikern (mit Ausnahme von Wolfgang Schäuble) verteidigt werden, der in seiner geschichtszersetzenden Wirkung gar nicht genug kritisiert werden kann, ist doch Ignoranz des europäischen Projektes seine schlimmste Ächtung. Die derzeitige Selbstgefälligkeit des deutschen „Hegemons“ in Europa, der die innere Wendung zum europäischen Leader einfach nicht hinkriegt, ist in der Tat unerträglich. Und trotzdem geht es bei Europa nicht um Kommunikation; und schon gar nicht (mehr) um die von alten Männern!

Im Gegenteil könnte man den alten Männern retrospektiv vorwerfen, dass sie nicht gemacht haben, wovon sie immer mit Verve und Empathie geredet haben, nämlich den europäischen Bundestaat (zu Kohls und Genschers Zeiten stand er noch im CDU-Wahlprogram), die Vereinigten Staaten von Europa, die politische Union. Nicht gemacht in Zeiten, in denen das – vielleicht? – noch möglich gewesen wäre, in denen Europa weniger komplex, weniger zahlreich an Mitgliedsstaaten war, die Globalisierung noch in den Kinderschuhen steckte, der globale Paradigmenwechsel – 9/11, Arabischer Frühling, NSA-Affäre etc. – noch vor der Tür stand. Man könnte daher umgekehrt sagen: Die damalige europäische Diskurskoalition aus alten Männern, die alten Europa-Adepten, haben zu viel geredet und nicht genug geliefert!

Es war Leidenschaft statt Mut

Gut zwanzig Jahre später – setzt man den Maastrichter Vertrag als historischen Referenzpunkt für eine ever closer union an – ist Europa vielleicht gerade deshalb in Schwierigkeiten, und zwar sowohl die Politik in Europa wie der Diskurs über Europa, weil zu viel versprochen und nicht gehalten wurde. Weil zwar mit Wärme kommuniziert, aber politisch nicht gehandelt wurde; weil Leidenschaft den Mut ersetzt hat und zwar den, endlich mit den eigenen Sonntagsreden ernst zu machen und das nationalstaatliche Prinzip innerhalb Europas, zumindest innerhalb der Eurozone, konsequent zu durchbrechen; weil eine Währungsunion ohne eine Demokratie, ohne politische Union eben nicht funktioniert. So wurde die Diskrepanz zwischen der vormals proklamierten europäischen Leidenschaft der alten Männer und der europäischen Realität krisenbedingt einfach zu groß, zu unglaubwürdig. Keine PR-Strategie der Welt hätte daran etwas ändern können, der beste Kommunikationsberater nicht!

Der performative Sprechakt – „Wir sind wirklich eins“ – ist nämlich in Europa ausgeblieben. Er ist vor allem während der Eurokrise ausgeblieben und darum glaubt heute keiner mehr an ihn. Man hätte diesen politischen Sprechakt der europäischen Einheit viele Male tätigen können: zu Beginn der Bankenkrise 2008, als Angela Merkel die deutschen Spareinlagen sicherte, die europäischen Nachbarn inklusive Frankreich aber sich selbst überließ; oder 2009/ 2010, als die Frage von Eurobonds diskutiert und sofort von Deutschland verworfen wurde;oder jetzt, wo die gemeinsame Einlagensicherung in der Bankenunion noch aussteht, genauso wie die europäische Arbeitslosenversicherung. Stattdessen hat man durch fünf lange Eurokrisenjahre nur gesagt, dass beim Geld die europäische Freundschaft aufhört, man hat Europa in einen bösen Süden und einen guten Norden geteilt, in Gläubiger und Schuldner. Mit falscher Kommunikation hat das alle herzlich wenig zu tun, wohl aber mit fehlendem politischen Willen und vor allem mangelnder deutscher Beherztheit für das große Ganze, nämlich das europäische Projekt und seine strategische Bedeutung in Zeiten des globalen Paradigmenwechsels sattelfest zu machen. Wohlgemerkt waren es eher die deutschen Eliten – darunter viele alte Männer –die zu diesem politischen Sprechakt nicht fähig waren, während, wie jetzt eine Studie belegt, die Bevölkerung, auch in Deutschland, das Prinzip einer zivil, nicht kulturell begründeten europäischen Identität und damit die politisch institutionalisierte Idee der europäischen Gleichheit längst mehrheitlich akzeptiert hat.

Wunden in der europäischen Membran

Es ist also nicht falsch oder leidenschaftslos über Europa kommuniziert worden – im Gegenteil: So viel europäische Leidenschaft war wohl selten, wie z.B. bei den Bildern von Anti-Austeritäts-Demonstrationen in Griechenland – sondern die politische Debatte über Europa wurde offen und bewusst re-nationalisiert, nicht nur, aber eben auch in Deutschland. Falsch – oder ggf. sogar bewusst falsch gesteuert? – an der Kommunikation war in diesem Sinne allenfalls die bis heute erstaunliche Tatsache, dass eine Bankenkrise in der öffentlichen Wahrnehmung in eine Staatsschulden- und Eurokrise umgedeutet werden konnte, um eine fragwürdige Sparpolitik zu rechtfertigen: Hier hat die Kommunikation gerade nicht versagt, im Gegenteil. Sie hat Deutschland – gegen eindeutige Zahlen, die, wie Siegfried Schieder in der Zeitschrift Leviathan zuletzt eindrucksvoll belegte, eine ganz andere Geschichte erzählen – die sprichwörtlich sagenhafte Opferrolle eines europäischen Großzahlmeisters angedichtet, die fast schon märtyrertauglich ist. Die wohlfeile Umdeutung der Wissensordnung im Foucault’schen Sinn von Bankenkrise in Schuldenkrise ist eher ein Bravourstück gelungener (Falsch-)Kommunikation, und an der Renitenz dieser Erzählung wird sich Europa – oder das, was post-krise davon übrig bleibt – wohl noch lange abarbeiten müssen: Die Erzählung hat tiefe Wunden gerissen in der europäischen Membran.

Weil das Versprechen der alten Männer zu lange und vor allem im entscheidenden Krisenmoment nicht eingelöst wurde, ist der Post-Krisendiskurs in zwei Teile zerbrochen: ein versprenkeltes „mehr Europa“- Lager, das sich die guten alten Tage zurückwünscht, auch in der Kommunikation. Und ein „weniger Europa“-Lager, das derzeit europaweit erfolgreich auf Stimmenfang geht. Ganz egal, wie viel Kommunikations-Euros ausgegeben werden: Wo Europa weder klar noch überzeugend ist, mutet Kommunikation über Europa eher wie eine blutlose Strategie an, dem Papst einen Büstenhalter zu verkaufen.

Doch die vielgescholtenen europäischen Bürger sind schlauer, denn sie lassen sich nicht verdummen mit Bürokratiegelabere und Subsidiaritätsgebrabbel. Sie sehen, wie der Maidan allein gelassen wurde und Putin die EU aufmischt, wie die USA Europa ausspionieren; sie sehen, wie die Menschenrechte an Europas Südgrenze mit Füßen getreten und damit angesichts des Flüchtlingsdramas jene europäischen Werte eingeäschert werden, auf denen der Fels Europa gebaut wurde, der momentan zur Festung mutiert. Sie sehen, wie zugelassen wird, die Demokratie in Ungarn auszuhebeln, weil vor allem Frau Merkel einem Parteigenossen nicht weh tun will; sie sehen, wie die Großindustrie in Europa Steuern hinterzieht, die Banken die EU erpressen und die Arbeitseinkommen in Europa durch eine der Demokratie fast enthobenen Wirtschaftsordnung gleichsam systematisch geschmälert werden. Und sie sehen, dass – ganz egal ob Syrien, IS oder Ebola – Europa eben nicht geeint in der internationalen Arena auftritt. Dieses europäische Volk hat Recht, sich nicht mehr von Kommunikation verdummen zu lassen, von einem Europa, das sich selbst und seine einheitliche Zukunft nicht ernst nimmt.

Der europäische Selbstbetrug der Vereinigten Staaten

Was die alten Männer – bei aller Nachkriegsleistung für das europäische Friedensprojekt, die hier nicht ignoriert werden soll – jetzt endlich kapieren müssten, ist, dass sie nichts mehr zu sagen haben und das sie das neue Europa nicht (mehr) verstehen. Zuhören wäre wichtig! Das heutige Europa, das sind zum einen die populistischen Kräfte, die auch deswegen hervorkommen konnten, weil Europa – und auch das ist die Hinterlassenschaft von alten Männern – sich mangels politischer Einheit, einer dysfunktionalen Demokratie, fehlender europäischer Staatsbürgerschaft und eines angemessenen EU-Budgets den sozialen Fragen immer noch nicht wirksam zuwenden kann, weil Marktordnung und Demokratie in Europa immer noch weitgehend entkoppelt sind, weil die wohlfahrtstaatliche Komponente auf europäischer Ebene bewusst durchbrochen wurde und die wirtschaftliche Realität in Europa daher von Technokratie und Lobbys getrieben ist. Und weil niemand daran spürbar etwas ändern will. Wo das europäische Projekt nicht klar ist, weil die europäische Politik nicht klar mit Macht besetzt ist – letztlich wird in Brüssel viel reguliert, aber nichts wirklich entschieden, vor allem, wenn die (großen) Nationalstaaten dagegen sind – und die europäische Polit-Sprache in Belanglosigkeit verschwimmt, ist der Ruf nach besserer Kommunikation über Europa kaum mehr als ein verzweifelter Hilferuf. Dem liegt das Eingeständnis zugrunde, dass viele alte Männer sich ihren europäischen Selbstbetrug der Vereinigten Staaten schöngeredet haben: Aber jetzt ist der europäische Kaiser nackt.und der Traum von diesem Projekt-Europa, dieser Finalität, sowieso ausgeträumt!

Zum zweiten müsste von den alten Männern verstanden werden, dass ihre Zeit vorbei ist und damit ihre Kommunikationsmethoden überholt sind. Wenn Europa überhaupt noch eine Chance hat, dann weil es heute eine Erasmus-Jugendgibt (zugegebenermaßen ein Verdienst von Kohl und Co.), die sich die Dynamik des Internets zunutze macht und gerade dabei ist, bottom-up und über Grassroot-Movements, über soziale Bewegungen und innovative Demokratieprojekte eben jenes Europa zu schaffen, von dem die alten Männern nur geredet haben (sollten sie sich denn hoffentlich gegen die Wilders, Luckes und LePens und ihre oft jugendlichen Anhänger behaupten können): transnational, egalitär, republikanisch, bürgerschaftlich, partizipativ, solidarisch, demokratisch, regional und konsequent postnational. Eine Generation, die eine politisch institutionalisierte Idee der europäischen Gleichheit in Europa verficht! Damit hat Europa längst eine zivile Identität und eine Story, die in den Couloirs von Brüssel indes vergeblich gesucht wird, wo eine (alternde, männlich dominierte) EU-Elite noch in einem Korsett aus national strukturierten Denkschemata und Machtverhältnissen steckt.

Europa wird heute „von Unten“ zusammengehalten

Dieser europäische Hypertext, diese europäischen Kriechströme, wie Karl Schlögel sie nennt, sind schon längst da und sie allein halten und kleben Europa derzeit zusammen. Diese neue europäische Erzählung ist keine große, unitarische Meistererzählung mehr, kein politisches Großprojekt der einigen europäischen Föderation. Sondern es ist die Verknotung von vielen kleinen europäischen Alltagsgeschichten, die Verknotung der Geschichten von Erasmus-Studenten mit denen von europäischen Wanderarbeitern, kurz, der Geschichten einer neuen Generation europäischer Bürger, denen die verquaste und unglaubwürdige europäische Rhetorik der alten Männer ziemlich egal ist. Es ist darum an der Zeit, dass diese wie ein alter Zopf abgeschnitten wird!

Den Anhängern der alten Kommunikationsweise sei auf den Weg gegeben, dass wenn Europa überhaupt noch eine Chance hat, dann in der Erkenntnis, dass die Flüchtlinge die (neue) Avantgarde Europas sind, weil sie die EU in ihrem Wesensgehalt treffen; dass Conchita Wurst vielleicht mehr für die europäische Integration getan hat, als Millionen von Sonntagsreden, hat sie doch in mächtiger Bildersprache eben das gezeigt, was wahrscheinlich in China, Russland und vielleicht auch in den USA so nicht möglich wäre: In Europa darf man sein, wie man ist. Genau hier hat Europa wieder die Chance, Avantgarde zu werden und zwar für eine offene Weltbürgergesellschaft im 21. Jahrhundert! Und dass Europa gerade deshalb lebt, weil, ganz ohne Kommunikation und das Zutun von Oben, eine neue Generation den europäischen Kontinent von unten zusammenwebt und so der europäischen Idee neues Leben einhaucht, während ein verstaubtes EU-System gerade in sich zusammenfällt.

 

Ulrike Guérot beschäftigt sich zur Zeit als Gastwissenschaftlerin am Wissenschaftszentrum Berlin mit Generationendynamiken in der EU. Die hier veröffentlichte Meinung ist die persönliche der Autorin. Sie antwortet damit auf den am 14. November veröffentlichten Beitrag „Die alten Männer und Europa“ von Peter Ruhenstroth-Bauer.

Carta wird die Debatte in den nächsten Wochen fortsetzen.

 

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