#Medienalltag

Der Schrecken der Vollendung

von , 26.11.08

Auf den ersten Blick ist ein digitaler Marktplatz wie Ebay ein Segen für jeden Sammler. Dinge, denen man zuvor mühsam und aufwendig hinterhersuchen mußte, lassen sich nun zielgerichtet, schnell und weltweit finden. In dem Komfort und der Geschwindigkeit aber liegt eine Gefahr, nämlich dass der Spaß am Sammeln abnimmt. Nicht umsonst bezeichnet das Sammeln eine Tätigkeit und keinen Zustand.

Eine Sammlung besteht nicht nur aus den Dingen, die gesammelt werden. Sie ist ein unsichtbares Gefühlsgewächs. Es gibt bei Sammlern sehr unterschiedliche Vorstellungen von Perfektion. Für die einen ist es jener neuwertige Erhaltungszustand der Sammlerstücke, die im Englischen Mint Condition heißt. Und dann gibt es die Sammler, die aus einem bestimmten Bereich irgendwann einmal alles haben möchten. Eine vollständige Sammlung.

Ich kenne jemanden, der alte Eisenbahnmodelle sammelt, davon aber nur einen ganz speziellen historischen Ausschnitt, nämlich die deutsche Kaiserzeit. Sein Ehrgeiz geht dahin, einmal alle derartigen Modelle dazu zu besitzen. Was wird in dem Moment geschehen, in dem er den letzten Waggon, der noch gefehlt hat, in seine Glasvitrine stellen wird?

Wird er in einen leisen Glückszustand geraten? Ein kurzes Glück, vielleicht. Dann aber droht der Schrecken der Vollendung. Die Sammlung ist vollständig, nichts wird mehr geschehen. Sie ist ausgesammelt. Die Sehnsucht, die den Sammler stets antreibt und bewegt, ist verklungen; es gibt nichts mehr, wonach man streben könnte, alles ist nun da. Man fragt sich, was das eigentlich Schöne ist: das Sammeln, das Fahnden, Suchen, Ersteigern und Erbeuten, oder die Sammlung selbst – etwas, das man später auch mal verkaufen oder hinterlassen kann. Eine komplette, kleine Welt.

Manchmal endet der Versuch, solche kleinen Welten einer nächsten Generation zu übergeben, in Melancholie. Im Fall einer Briefmarkensammlung mit Spezialgebieten zum Beispiel, die ein Vater in Jahren ersammelt und zur Vollständigkeit geführt hat – ob bei Dreiecksmarken oder Raumfahrtmarken – und die dann ein Sohn erbt, dem Briefmarken leider überhaupt nichts sagen. Oder aber er ist ratlos, was er tun soll, denn zu sammeln gibt es im Falle der Vollständigkeit ja nichts mehr. Was noch bliebe, wäre, die abgeschlossene Sammlung zu hüten. Sich so etwas als Traditionspflege und freiwillige Pflicht aufzuerlegen, ist ehrenvoll. Aber richtigen Sammlerspaß macht es nicht.

Digital forcierte Sammler, die den Schrecken der Vollständigkeit vermeiden möchten, sind deshalb gut beraten, ihr Sammelgebiet offen zu halten. Einer meiner Freunde, der Platten sammelt, erweitert seine Suchliste ständig und erhält sich so das Sammlersehnsuchtspotential frisch. Ein anderer Freund hat den Durchfluss an Dingen zu seinem Beruf gemacht. Er hat einen kleinen Laden, in dem er Dinge aus den sechziger Jahren verkauft. Er mag die Sachen, manchmal stellt er sich eine besonders hübsche Tütenlampe eine Weile in die Wohnung. Irgendwann aber landet sie in seinem Laden und er verkauft sie. Neue Dinge kommen nach. Für ihn heißt sammeln, mit den Dingen in Berührung zu kommen und nicht unbedingt, sie behalten zu müssen. Was er sammelt, sind schöne Begegnungen mit schönen Dingen.

Peter Glasers Netzkolumne erscheint regelmäßig in der Stuttgarter Zeitung und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors auf CARTA veröffentlicht.

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