#Der kommende Aufstand

Der kommende Aufstand: Ein immens französisches Buch

von , 29.11.10

Ich lese den Text wie ein Drehbuch. Kein Film kann so schnell sein wie der innere Monolog, der Dir aus diesem Text entgegen springt. Er ist böse, witzig, surreal. Er rückt der Welt auf den Leib wie ein Irrer, der den ärztlichen Befund seiner Verrücktheit als Lizenz begrüßt. Undressed to spill over. Überschwappen. Endlich frei dafür auszubrechen. Aus den Routinen, der Langeweile, den fixen Ideen.

Ich sehe die Bilder einer fünfzig Jahre alten Neuen Welle. Funken der Revolte. Die Spottlust in den Augen des jungen Alain Delon. Themrocs Aufstand in Claude Faraldos Film. Die Poesie der Filme von Chantal Akerman. Das Internationale Forum des Jungen Films könnte eine Filmreihe der 2011 Berlinale den Bildern dieses Pamphlets widmen. Das Bildertürmer-Special.


Hochgeladen von HarpoMarxiste. – Komplette Serien und ganze Episoden online.

“Der kommende Aufstand” ist ein immens französisches Buch. Der Betonverhau des deutschen Vorwortes könnte teutonischer kaum sein. Auf den frankophonen Leser wirkt die grobmotorische Vorwort-Prosa wie eine Zwangsjacke. Ist sie erst einmal abgelegt, tobt der Text durch die Synapsen, erregt in einer anderen Qualität. Das Vorwort zwingt die Erregung in einen Zustand, der ihr nur von Ferne ähnlich sieht. Wie eine Verzerrung. Grimassen. Gefäßverschlüsse. Detritus aus postprotestantisch ungelüfteten Mandelhöhlen.

Der Text steht in einer Tradition, die von Lautréamonts Gesängen des Maldoror über Marinettis “Futuristisches Manifest“, die Surrealisten, Georges Bataille, die Situationistische Internationale bis in die Nachwehen der Mairevolte von 1968 reicht. Die Autoren kennen ihre Heroen, beherrschen den Stil und Gestus der Revolte. In Brooklyn würden sie die Traumfabrik des 21. Jahrhunderts gründen. Über Fleisch-Animationen brüten, dreidimensionale Mangas, die Dir ins Gesicht springen und Deine Träume beseelen.

Aber sie sind offenbar in Frankreich. Irgendwo auf dem Land. Ich kenne ihren Ton, ihre Syntax, ihre Lieder. Ihre Vorgänger aus den 80er Jahren kamen aus den bourgeoisen Familien zwischen Sorbonne, Nanterre, Rive Gauche und PSU. Die neue Generation schnallt eine frische Blutkonserve an den ausgelaugten Körper. Soweit ihre Anhänger noch bei Facebook sind, gehören sie zu den über 865.000 Fans von “La Haine”, vier mal so viel Mitglieder wie die UMP (Sarkozys Partei “Union Pour un Mouvement Populaire”). Sie sehen und fühlen den miesen Hass als Leitmotiv der Epoche, fühlen sich ergriffen von dem Quelltext eines einenden Hasses. Ihre Paradoxie ersetzt, was Ralf Dahrendorf Ligaturen genannt hat. Ihre Ligatur des Hasses hält nichts mehr zusammen – bis auf ihr Bild von dieser Welt.

Was sie, noch, nicht sehen ist die frappierende Ähnlichkeit – mit sich selbst, mit ihren Vorgängern, mit ihren Nachfolgern. Gäbe es diesen Text nicht, hätte ich als Sarkozys Kardinal Mazarin ihn von einem wilden Klosterbruder aufschreiben und heimlich verbreiten, die Knotenpunkte und IP-Adressen der Downloads säuberlich registrieren lassen. Vorkehrungen der Macht für die Gegenrevolte.

„Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg. Das ist nicht die geringste ihrer Tugenden.(11) (…) Gesellschaftlichkeit besteht heute aus tausend kleinen Nischen, aus tausend kleinen Unterschlüpfen, in denen man sich warm hält. Wo es immer besser ist als draußen in der großen Kälte. Wo alles falsch ist, weil alles nur ein Vorwand ist, um sich aufzuwärmen. Wo nichts entstehen kann, weil man dort taub wird beim gemeinsamen Schlottern. Diese Gesellschaft wird bald nur noch durch die Spannung zwischen allen sozialen Atomen in Richtung einer illusorischen Heilung zusammengehalten. Sie ist ein Werk, das seine Kraft aus einem gigantischen Staudamm von Tränen zieht, der ständig kurz vor dem Überlaufen ist.“(16)

Die Melodie, der Tonfall, die Bilder dieses Textes sind nicht analytisch. Sie treffen Dich ungebremst in den Solarplexus. Du krümmst Dich vor der Evidenz. Du gehst auf die Knie vor den erhabenen Bildern. Wo gibt es Eintrittskarten? In welchem Kino?

Deshalb sind Versuche auch müßig, den Text durch die Mühle einer geistesgeschichtlichen Segregation zu drehen. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Oder umgekehrt. Wer sucht, der findet. Dieser Blick verfehlt etwas. Er legt einen begrenzten Bildausschnitt unter das Mikroskop. Spannend wird die Analyse erst, wenn die Leser diesen Text als Resonanzraum auf eine Welt am Rand zur nächsten Katastrophe zu lesen beginnen.

„Der kommende Aufstand“ ist die französische Antwort auf Cormac McCarthys Roman „The Road“. Beide, McCarthy und die Pamphletisten, sprechen von der Apokalypse. Vom Überleben in den Resten der Welt, wie wir sie kannten.

Aus diesem Blickwinkel spricht der Text nicht von einer Revolte, sondern von einem Arrangement.

Crosspost.

Siehe auch die Feuilleton-Debatte in der Carta-Netzlese

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.