von Jonas Schaible, 20.8.15
Im Mai dieses Jahres veröffentlichte das unbekannte Anzeigenblättchen “OWL am Sonntag” eine Kolumne seiner freien Mitarbeiterin Barbara Eggert, die darin fragenden Leser_innen Ratschläge erteilt. In diesem Fall wollte ein Mann wissen, ob es nicht zu verstörend für ihre kleinen Töchter sei, sie auf eine Hochzeit eines schwulen Paares mitzunehmen. Die Empfehlung der Kolumnistin: Die Kleinen am besten zu Hause lassen.
Wenige Tage später veröffentlichte der Redaktionsleiter der Zeitung zwei ungelenke Erklärungen, in der er gleichzeitig die Verantwortung für die Veröffentlichung des homophoben Textes übernahm und der Autorin die Schuld zuschob. Kurz darauf verkündete sie das Ende der Zusammenarbeit. Eggert war als Kolumnistin abgesetzt.
Im Dezember 2013 stieg die bis dahin völlig unbekannte PR-Managerin Justin Sacco in ein Flugzeug nach Südafrika. Der letzte Tweet, den sie an ihre damals 170 Follower schickte lautete „Fliege nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein Aids. Mache nur Spaß. Bin weiß.“ Dann vergingen für sie zwölf Stunden ohne Netz. Derweile explodierte die Empörung auf Twitter, Sacco wurde zum weltweiten Trending Topic. Nutzer_innen fragten: #hasjustinelandedyet? Als der Flieger in Kapstadt aufsetzte, war sie bereits von ihrer Agentur entlassen worden.
Anfang 2013 empörte sich die Publizistin Adria Richards auf einer Tech-Konferenz über sexistische Witze zweier Männer hinter ihr. Sie schoss ein Foto und veröffentlichte es über Twitter. Einer der Männer trug ein Namensschild. Sein Arbeitgeber wurde aufmerksam – und entließ ihn. Aber auch Richards wurde Opfer der Aufmerksamkeit, die über sie herinbrach: Das Unternehmen, bei dem sie arbeitete, feuerte sie kurz darauf.
Alle Fälle, und es gibt mehr dieser Art, sind zunächst einmal beispielhaft für das Phänomen, das Bernhard Pörksen und Hanne Detel den entfesselten Skandal genannt haben1. In allen Fällen waren es nicht klassische Medien, sondern Nutzer_innen sozialer Medien – vor allem Twitter -, die eine Normverletzung als solche benannt und der öffentlichen Kritik zugänglich gemacht haben. Und es sind diese sozialen Medien, die als Katalysator wirkten. Zeitungen und Online-Medien kamen erst später als notwendige Verstärker hinzu.
Ich glaube aber, dass an diesen Fällen etwas Neues sichtbar wird: Der entfesselte Skandal schlägt mittlerweile regelmäßig unkontrolliert aus – mit Konsequenzen, die von den Skandalisierenden nicht nur unintendiert waren, sondern womöglich sogar abgelehnt werden.
Jedenfalls geht es mir so, deshalb ist das hier nicht nur ein analytischer, sondern auch ein persönlicher Text.
Nun ist es generell so, sagen Pörksen und Detel, dass der entfesselte im Gegensatz zum klassischen Skandal ganz neue Opfer fordert. Weil Relevanzentscheidungen nicht mehr nur von wenigen, an tradierte Selektionsnormen gewöhnten Gatekeepern getroffen werden, weil stattdessen das empörte Publikum beeinflusst, was wann skandalisiert wird, können sich plötzlich auch Äußerungen und Handlungen völlig Unbekannter zu einem Skandal auswachsen; und weil Aufzeichnungsgeräte allgegenwärtig sind (und allzu oft die Protagonisten des Skandals sogar selbst diejenigen Beweisstücke in die Welt bringen, die ihnen dann zum Verhängnis werden) geschieht das auch regelhaftig.
Geht man allerdings die Fallstudien durch, an denen Pörksen und Detel ihr Konzept entwickeln, zeigt sich ein interessantes Muster: Es gibt zum einen Fälle, in denen üblicherweise als relevant geltende, meist politische Vorfälle skandalisiert werden und bei denen große Einigkeit herrschen dürfte, dass Skandalisierung und Folgen wünschenswert oder doch nötig sind (Abu Ghraib, Collateral Murder, aber auch Guttenbergs Plagiat oder Nestlés Verwendung vom Palmöl). Und es gibt Fälle, in denen Anlass und Wirkung völlig auseinanderfallen, in denen das Netz in verleumderischer Absicht als Pranger genutzt wird oder in denen gar der entfesselte Mob “Jagd auf Menschenfleisch” macht.
Was alle Fälle eint, ist, dass die Initiator_innen und Treiber_innen des Skandals ihn auch wirklich wollen und dass sie die Folgen für die Opfer mindestens billigend in Kauf nehmen, wenn nicht gar dezidiert einfordern – sei es aus böser Absicht und Lust an der Demütigung oder aus Überzeugung der politisch-gesellschaftlichen Notwendigkeit ihrer Kritik.
Der Guttenplag-Schwarm billigte den Rücktritt des Ministers, weil er einen Lügner und Fälscher nicht in der Regierung sehen wollte; die Macher von Prangerseiten wollen die Demütigung des Opfers, um private Rachegelüste zu stillen; die Enthüller der Washingtonienne wollten sie aus bloßer Sensationsgier ebenso öffentlich bloßstellen wie diejenigen, die Anthony Weiners indiskrete Twitter-Fotos verbreiteten; Matt Drudge wollte den politischen Skandal, als er Bill Clintons Affäre mit Monika Lewinsky öffentlich machte. Und auch die Jäger_innen der chinesischen Studentin, die doch nur zwischen Han-Chines_innen und Tibeter_innen vermitteln wollte, verfolgten die junge Frau aus Kalkül.
Wenn Anlass und Wirkung auseinanderfallen
Doch was, wenn eine Aussage aus Sicht der Skandal-Initiator_innen und der Massen auf Facebook, Twitter und Instagram, die erst flächendeckende Empörung wahrnehmbar machen, zwar aus politischen Gründen problematisiert werden muss, aber gleichzeitig Anlass und mögliche Wirkung auseinanderzufallen drohen?
Ganz konkret: Wer immer den Tweet geteilt hat, der die homophobe Westfalenblatt-Kolumne angriff (ich gehöre dazu), war überzeugt davon, dass Homophobie (und allgemein LGBTIQ*-Feindlichkeit) allgegenwärtig, tief in der Gesellschaft verwurzelt, problematisch und zu bekämpfen ist. Dasselbe gilt für den Rassismus des Flugzeug-Tweet und den Sexismus der Tech-Konferenz-Teilnehmer.
Diese Probleme sind real, sie lassen sich weder durch schüchternes Bitten noch launige Mahnungen aus der Welt schaffen. Sie müssen politisch bekämpft werden und wer sie reproduziert, muss damit leben, dass er_sie sich in den Augen anderer unmöglich macht. Es gibt kein Recht darauf, andere herabzuwürdigen und unbehelligt zu bleiben, klar.
Immer noch ist es ja so, dass sexistische, lgbtiq*-phobe, rassistische und andere gruppenfeindliche Aussagen und Handlungen (ab jetzt: -*ismen) weitgehend akzeptiert sind, jedenfalls solange sie nicht offen zur Gewalt aufrufen. Veränderbar, wenn überhaupt, ist dieser Zustand nur durch kontinuierliche Kritik und langsame Wandlung von Denk-, Sprech- und Handlungsgewohnheiten. Aus der Perspektive der Skandaltreiber ist es also nur logisch (sogar: geboten), über etablierte (#aufschrei, #pinkstinks, #notmy…, #ichkaufdasnicht) oder spontan entstehende Hashtags Kritik zu formulieren. Es ist sogar eine tolle, neue Möglichkeit der politischen Einflussnahme.
Gleichzeitig empfanden einige Kritiker_innen, ich gehöre dazu, Unwohlsein darüber, dass Justine Sacco, Barbara Eggert oder der Konferenz-Teilnehmer innerhalb kürzester Zeit ihre Jobs verloren. Vor allem Eggert, deren Text nicht live in ein Mikrofon gesprochen oder in die Tastatur des Smartphones getippt, sondern sogar noch von einer Redaktion bearbeitet wurde, (die sie dann fallen ließ), erschien manchen als Bauernopfer zur Besänftigung des heiligen Netz-Zorns.
Paradoxerweise ist es nämlich so, dass zwar -*ismen aller Art immer noch weit verbreitet und allzu oft auch sozial akzeptiert sind, dass zugleich aber eine kleine mobilisierungstarke Gruppe von Social-Media-Nutzer_innen erstens systematisch solche -*ismen anprangert und damit zweitens ab und an sogar Erfolg hat, was auch heißt, dass sich in unregelmäßiger Regelmäßigkeit solche Kritik zu größeren Skandalen auswächst. Welche das sind, ist zu Beginn nicht abzusehen. Der entfesselte Skandal ist nicht kalkulierbar.
Die neue Skandal-Routine: Empörung – Berichte – Entlassung?
Trotzdem scheint sich eine gewisse Routine einzuspielen. In sozialen Medien entwickelt sich – immer noch selten in Anbetracht der Allgegenwart der Phänomene, aber doch längst zyklisch – Empörung über -*istische Aussagen; klassische (Online-)Medien haben sich darauf eingestellt, über solche Empörung zu berichten und sie damit zu verstärken.
Zugleich hat sich eine Form des Skandalmanagements (oder: der Überforderung mit Skandalmanagement) herausgebildet, die darin besteht, dass die jeweiligen Arbeitsstellen der Skandalprotagonisten, die zu öffentlicher Distanzierung gedrängt werden, schnell mit beruflichen Konsequenzen reagieren, weil sie das Gefühl haben, ihnen drohe andernfalls untragbarer Reputationsverlust. Denn freilich plagen keineswegs alle, die an der Skandalisierung mitwirken, die hier artikulierten Skrupel; einige fordern immer den symbolischen Kopf der Delinquent_innen.
So schlägt alltägliche Gleichgültigkeit periodisch um in gebündelte Empörung. Die Folge sind unvorhergesehene und oftmals auch unerwünschte Wirkungsspitzen: Sanktionseruptionen, die sich in Einzelfällen entladen, die bei aller Kritikwürdigkeit doch nur pars pro toto für systemtische, für strukturelle Missstände stehen.
Wir beobachten also ein Zusammentreffen von:
- struktureller, alltäglicher Ungerechtigkeit und Diskriminierung
- periodischer Mobilisierungsfähigkeit von Empörung in Einzelfällen
- verfestigter Angst der Öffentlichkeitsabteilungen vor der eingespielten Skandalisierungsmacht der sozialen und alten Medien
Die Folge ist in einigen Fällen erwünschte scharfe Kritik, gewollte Aufmerksamkeit für -*ismen, notwendige Markierung von Dissidenz – in anderen aber, vor allem wenn 3) dazu kommt, eine übertribunalisierte symbolische Bestrafung Einzelner für Aussagen oder Handlungen, die wiewohl problematisch und kritikwürdig, nicht derart feindlich sind, dass vernichtende Sanktionierung notwendigerweise an die Stelle von harscher Kritik treten muss.
“Selbst schuld!” führt nicht sehr weit
Man kann hier ein achselzuckendes “selbst schuld!” vertreten, schließlich ist das Leben nicht immer angenehm, und die Skandal-Opfer kommen überdies meist aus eher privilegierten Gruppen. Aber es ist kaum zu übersehen, dass unter den Bedingungen des entfesselten Skandals vergleichsweise unbedeutende Personen (also keine Funktionsträger) für vergleichsweise weit verbreitete Aussagen oder Handlungen (also: strukturelle und unzählig oft in Einzelfällen repräsentierte Probleme) von der Skandalisierung in einer Heftigkeit getroffen werden, die selbst den Vergleich mit politischen und ökonomischen Großskandalen nicht scheuen muss.
Solche Wirkungsspitzen gehören zum Wesen des entfesselten Skandals. Aber sie sind in anderen Fällen kein gleichermaßen großes ethisches Problem: Wenn politische Funktionsträger_innen unerwartet hart von Skandalen getroffen werden, lässt sich das mit der notwendigen Verantwortlichkeit in repräsentativen demokratischen Systemen einigermaßen rechtfertigen – zumal es jedenfalls idealtypisch Menschen in ihren politischen Rollen trifft, nicht Privatpersonen. (Und wessen Motiv Rache, Demütigung oder Bloßstellung ist – wer etwa Prangerseiten betreibt – , der_die hält sich mit Fragen nach Verhältnismäßigkeit und Klugheit ohnehin nicht lange auf.)
Wenn aber Ziel der Kritik nicht persönliche Schmähung, sondern die Veränderung gesellschaftlicher Zustände, und wenn gleichzeitig das Subjekt der Kritik eines der neuen Opfer ist, also: keine Institution und kein politische_r Funktionsträger_in – dann erwachsen aus der vorgestellten Diagnose mehrere Fragen.
Was tun?
Erstens: Welche Folgen für den_die Kritisierte_n sind angemessen, vertretbar, verhältnismäßig? Wie viel Milde sollte bei aller Unverrückbarkeit der Kritik walten? Welche Härte im Urteil ist zu unversöhnlich?
Und, je nachdem zu welchem Ergebnis man gelangt: Wie muss Kritik also formuliert sein? Welche Formen, welcher Ausdruck von Empörung und auch Zorn ist welchem Ziel dienlich und welche Ausdrucksformen machen eine unbeabsichtigte Wirkungsspitze wahrscheinlicher?
Zweitens: Welche Folgen sollten diese Überlegungen aus politischer Sicht haben?
Denn natürlich ist das Unken und Raunen über die vermeintliche Macht der Feminist_innen und Gutmenschen für grundfalsch; das linksliberalrotgrünfeministischpluralistische Meinungskartell und der Totalitarismus der “Political Correctnes” sind Schimären.
Trotzdem scheint pluralistisch und menschenfreundlich motivierte Kritik in wenigen, aber mittlerweile doch einigen Einzelfällen unkontrollierte und überharte Folgen zu zeitigen – was (davon abgesehen, dass ich es persönlich ablehne) auch politische Fragen aufwirft.
Sicher, eine Folge der Sanktionsausbrüche könnte sein, dass sich langfristig wirksame Tabus etablieren. Und auch die können ihre Berechtigung haben. Aber ich habe doch erhebliche Zweifel, ob nicht reaktionärer Überdruss die positiven Effekte solcher Kritik überdeckt. Solche gleichsam rituellen Bestrafungen sind schließlich dazu geeignet, die Anhänger_innen von Meinungskartell-Schimären, aber genauso all die Indifferenten in ihrem Glauben an die geifernde PC-Polizei zu bestärken. Und im gleichen Maße weniger geeignet, einen Reflexionsprozess anzustoßen.
Was aber heißt das alles?
Was tun?
Kritisiere Aussagen, nicht Personen!
Ich habe, ad hoc, zwei bescheidene Vorschläge, an die jedenfalls ich mich zu halten versuche.
Erstens, das habe ich im Zusammenhang mit der Antisemitismusdebatte um Jakob Augstein schon einmal ausführlich dargestellt: Urteile über Gesagtes und Getanes fällen, nicht über Personen. Wer sich selbst (womöglich gerechtfertigt) nicht als überzeugten -*Isten empfindet, wird alle Anwürfe, die ihn so bezeichnen, zurückweisen (und zwar nachvollziehbarerweise). In unserem Denken, das von einer ungeteilten Identität ausgeht, wird solche Abwehr von Vorwürfen nahegelegt. Wenn wir uns im Allgemeinen nicht als …-*ist_in empfinden, werden wir solcher Kritik gegenüber eher wenig aufgeschlossen sein.
Ich habe jedenfalls auch im Alltag häufig die Erfahrung gemacht, dass man mit behutsam vorgetragener Kritik, die die Selbstwahrnehmung von Menschen in Rechnung stellt, durchaus Reflexionsprozesse anstoßen kann – wohingegen man mit vehementen Angriffen, die behaupten, das wahre Wesen der Person besser zu kennen als sie selbst, regelmäßig gar nichts erreicht. In Übrigen geht es ja auch gar nicht um die Personen, sondern um Konzepte, Strukturen, Praktiken, die über sie hinausweisen.
Wähle aus, was du skandalisierst
Zweitens, das ist eine neuere und recht simple Überlegung: Skandalisiere (und das heißt schon: retweete) nur in Ausnahmefällen Aussagen von Privatpersonen, jedenfalls solange in der Gesamtschau öffentlichen Aussagen keine ideologische Agenda erkennbar ist. Auch wenn es sich im Moment des Retweets nicht so anfühlen mag: Twitter ist ein öffentlicher, potentiell weltöffentlicher Publikationskanal. Damit geht Verantwortung einher.
Es gibt genügend -*ismen, die sich bekämpfen und anprangern lassen – von Unternehmen, von Politiker_innen und einflussreichen Medienmenschen, von in vollem Bewusstsein handelnden ideologischen Überzeugungstätern. Nicht jeder unachtsame unmögliche Tweet muss verbreitet werden.
Wie praktikabel das ist, werde ich sehen. Und vielleicht beizeiten einmal Bilanz ziehen.
1) Ich war damals als studentische Hilfskraft an dem Buch beteiligt.
Der Text ist zuerst hier erschienen.
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