von Max Steinbeis, 12.9.13
Es kommt nicht oft vor, dass ein Akt der Modeschöpfung die Verfassungsrechtslandschaft verändert. Der Burkini hat das geschafft, wie das heutige Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum koedukativen Schwimmunterricht beweist.
In dem Fall geht es wieder einmal um eine muslimische Schülerin, die eine Befreiung vom Schwimmunterricht beantragt hatte, um sich nicht im Badeanzug zeigen und keine Jungs in Badehose sehen zu müssen. Ihr Grundrecht auf Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG kollidiert aber mit dem staatlichen Erziehungsauftrag aus Art. 7 I GG: Der erlaubt dem Staat, eine Schulpflicht einzuführen und durchzusetzen und dabei festzulegen, was in der Schule passiert – auch gegen den Willen von Schülern und Eltern.
Das gilt im Prinzip auch für den Sport- und Schwimmunterricht, wie das BVerwG 1993 entschied – aber im Konflikt mit der Glaubensfreiheit muss man eine Abwägung vornehmen. Was der Staat tun kann, um die Glaubensfreiheit zu schonen, das muss er tun – und, so das BVerwG damals säuerlich, wenn er halt unbedingt koedukativen Sportunterricht durchsetzen wolle, dann müsse er der muslimischen Schülerin eben eine Befreiung von demselben gewähren. Der Schülerin jedenfalls sei nicht zuzumuten, verhüllt zu turnen.
Zwanzig Jahre später dreht sich jetzt in Leipzig offenbar der Wind. Es gibt bisher nur die Pressemitteilung, das Urteil ist noch nicht online. Aber wenn ich die richtig lese, dann ist ein maßgeblicher Grund dafür, das die Klägerin des heute entschiedenen Verfahrens ins Becken muss, die Tatsache, dass es mittlerweile den Burkini gibt: den Ganzkörperbadeanzug für die moderne Muslima. Den zu tragen, so das BVerwG, sei zumutbar.
Den Konflikt nicht auf prinzipieller, sondern auf modischer Ebene aufzulösen, das gefällt mir sehr gut.
Unter dem Zwang der Schulpflicht
Mehr Schwierigkeiten habe ich mit einem anderen Punkt. Anders als 1993 zeigt das BVerwG auch keine Geduld mehr gegenüber dem Argument, im Sport- bzw. Schwimmunterricht werde man mit dem Anblick knapp bekleideter Jungs behelligt. Die Glaubensfreiheit gebe keinen Anspruch darauf, in der Schule von “Verhaltensgewohnheiten Dritter” verschont zu bleiben, “die außerhalb der Schule an vielen Orten bzw. zu bestimmten Jahreszeiten im Alltag verbreitet sind”. Die “gesellschaftliche Realität” der allgegenwärtigen Nacktheit brauche bei der Unterrichtsgestaltung “nicht ausgeblendet” zu werden, nur weil sie “im Lichte individueller religiöser Vorstellungen als anstößig empfunden werden” mag.
Das klingt ja schön liberal und modern und aufgeschlossen. Aber (vorausgesetzt, die Pressemitteilung gibt das nicht verkürzt wieder) ist es das auch? Da habe ich Zweifel.
Was in dieser Argumentation überhaupt nicht vorkommt: Wir haben es hier mit einer Pflicht zu tun, die der Staat dem Mädchen und ihren Eltern auferlegt und mit Zwang durchsetzt. Sie muss in die Schule, und sie muss im Rahmen des Schwimmunterrichts ins Becken, ob es ihr passt oder nicht. Das erlaubt das Grundgesetz dem Staat, aber nicht, wenn er sie damit auf vermeidbare Weise in religiöse Gewissensnöte stürzt. Das darf er nicht.
Mal unterstellt, der Glaube des Mädchens verbietet ihr den Anblick von Jungs in Badehose: Das kann man prüde finden, doof, unmodern und sexistisch. Aber Art. 4 GG garantiert ihr, dass der Staat diese religiöse Verpflichtung nicht einfach wegschnipsen kann.
Was anderes tut das BVerwG, wenn es sagt, da draußen wimmelt es doch sowieso von Halbnackten, also soll sich das Mädel mal nicht so anstellen? Was sie da draußen zu sehen bekommt oder nicht, hat mit ihrer Religionsfreiheit überhaupt nichts zu tun. Wenn sie keine Nackten sehen will, soll sie nicht ins Freibad gehen. Das ist ihr Problem.
Aber drinnen im Schulschwimmbecken, da ist das nicht allein ihr Problem. Da ist sie, weil der Staat sie dazu zwingt. Da ist es das Problem des Staates.
Wenn ich die Pressemitteilung richtig verstehe, dann spielt dieser Unterschied keine Rolle. Ich kann nicht erkennen, was daran so furchtbar liberal sein soll.
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