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Demokratie, Recht, Freiheit – Legitimität zwischen Deutschland und Amerika

von , 1.11.13

Die meisten Menschen in Deutschland verstehen sich heute als Demokraten. Sie gehen zur Wahl oder lassen es mit der Begründung bleiben, dass ihnen zwei Kreuzchen alle vier Jahre nicht demokratisch genug sind. Auch Recht und Gesetz als zentrale Institutionen der gesellschaftlichen Ordnung genießen breite Anerkennung. Außerdem möchte niemand entrechtet oder rechtlos sein, daher nehmen Deutsche gerne ihre garantierten Freiheiten in Anspruch, auch wenn es manchmal daran hapert, dieselben auch anderen Menschen zu anderen Zwecken zuzugestehen.

 

Theorie des demokratischen Rechtsstaats: Deutschland 1992–2013

Jürgen Habermas hat in seiner Rechtsphilosophie unter dem Titel Faktizität und Geltung 1992 argumentiert, dass die posttraditionalen Begründungen von Demokratie, Recht, Freiheit und sogar Sozialstaatlichkeit sich systematisch wechselseitig voraussetzen. Keines dieser Elemente kann ohne die anderen stabil begründet werden. Aus diesem Begründungsproblem folgt beim praktischen Bestehen von Defiziten in der Verwirklichung dieser Ideale ein Mangel in der Geltung von Normen, aus dem sich prekäre Bedingungen für die Durchsetzung von Recht und dessen soziale Integrationsfunktion ergeben. Kranken Staat und Gesellschaft grundsätzlich an diesem Problem, zerfallen sie in bloße Gewaltverhältnisse.

In der gegenwärtigen Überwachungskrise wird dies daran deutlich, dass sich Individuen fragen, warum sie gesellschaftliche oder rechtliche Normen einhalten sollten, wenn diese nicht durch flächendeckende Überwachung und gewaltsame Durchsetzung abgesichert sind. Solcher Zerfall von Rechtsgeltung erfordert sodann die endlose Aufblähung der Überwachungs- und Durchsetzungsapparate: Wenn kein Autofahrer die Geschwindigkeitsbegrenzung einhält, wo er nicht dazu gezwungen wird, ist die Totalüberwachung aller Fahrzeuge notwendig, um die Ordnung des Straßenverkehrs zu gewährleisten. Aber warum sollte überhaupt jemand nur so schnell fahren, wie das Tempolimit vorschreibt, wenn das nicht jederzeit überwacht wird?

Wenn diese Frage nicht per se absurd erscheint, deutet das darauf hin, dass in unserer Gesellschaft ein Problem in dieser Hinsicht besteht. Nach Habermas kann das Recht in posttraditionalen Gesellschaften eine solche Bindungswirkung (ohne ständige Überwachung) entfalten, wenn die Rechtsnormen den Bürgern inhaltlich angemessen (vernünftig) erscheinen, und sich die Adressaten der Rechtsnormen zugleich formal als ihre gleichberechtigten Autoren verstehen können. Um diese Bedingungen zu erfüllen, werden Demokratie, Recht, Freiheit und Sozialstaatlichkeit benötigt. Der massive Ausbau staatlicher Überwachungskapazitäten muss uns daher auch deshalb Sorgen machen, weil er geeignet ist, diese Institutionen zu ersetzen.
 

Zeit-Titel KW 44, Foto: Wolfgang Michal

Zeit-Titel KW 44, Foto: Wolfgang Michal

 

Überwachungsstaat an der Front: Deutschland 1945–1990

Irritierend an der Überwachungskrise ist unter anderem, dass sie nicht aus dem Reich des Bösen herüberschwappt, wie man sich das im Kalten Krieg vorgestellt hätte. Vielmehr geht sie erstens von den USA als der Supermacht aus, die gerade Demokratie, Recht und Freiheit zu verkörpern beansprucht. Zweitens ist die Überwachung nicht neu, sondern eine ständige Größe im Nachkriegsdeutschland, in dessen westlichem Teil sie eben von diesen USA zugleich mit Demokratie, Recht und Freiheit installiert und kontinuierlich betrieben, wenn nicht gar ausgebaut wurde.

Der Historiker Josef Foschepoth hat mit Überwachtes Deutschland 2012 die zeithistorische Vorgeschichte zu den Snowden-Enthüllungen vorgelegt und den Zusammenhang von alliierten und bundesrepublikanischen Überwachungsmaßnahmen 1949–1989 analysiert. (Überblick über Presserezensionen; zwei Fachrezensionen.)

Zwei zusammenhängende Ziele sind für die Einrichtung großräumiger Überwachungsmaßnahmen in der frühen Bundesrepublik gut nachvollziehbar: Die Überwindung des Nationalsozialismus erforderte ab dem Einmarsch alliierter Truppen die Überwachung rechter Umtriebe (in Form von Presse- und Postzensur) im Verbund mit den Reeducation-Maßnahmen zur Verankerung von Demokratie, Recht und Freiheit in Deutschland.

Diesen Ausnahmezustand der ersten Nachkriegszeit ergänzte und überlagerte die beginnende Blockkonfrontation und verstetigte die Bedürfnisse zur Überwachung möglicher Bedrohungen von links – ironischerweise unter begeisterter Mitwirkung antikommunistischer Altnazis, die den Kalten Krieg teilweise als Fortsetzung des nationalsozialistischen Kriegs gegen die Sowjetunion in neuer Bündniskonstellation ansahen. Insofern gelang es der BRD sogar, Altnazis in die Verteidigung der neuen “wehrhaften Demokratie” gegen das konstante Feindbild Kommunismus einzubeziehen.

 

Transatlantische Transfers: Deutschland – USA – Deutschland 1933–1968

Doch davon abgesehen, war es eben nicht der Totalitarismus, der die großflächigen Überwachungsmaßnahmen in der BRD hervorbrachte, sondern der Antitotalitarismus. Die USA selbst hatten bis zum Zweiten Weltkrieg gar keinen echten Geheimdienst; ihr Motto in den 1930er-Jahren lautete vielmehr “gentlemen don’t read each other’s mail”.

Der erste übergreifende US-Nachrichtendienst und CIA-Vorläufer war 1942 das Office of Strategic Services (OSS), das sich weniger mit Überwachung beschäftigte, als es den zuvor isolationistischen USA die bis dahin “unbekannten Kontinente” Europa und Asien als Kriegsschauplätze strategisch erschloss und zentral auch an den Nachkriegsplanungen für Mitteleuropa beteiligt war.

Die Implantation des demokratischen Rechtsstaats in Deutschland und Österreich bereitete das OSS unter Beteiligung zahlreicher deutschsprachiger Emigranten vor, darunter etwa der Philosoph Herbert Marcuse, der Politologe Franz Neumann und der Historiker Hajo Holborn, die in der Nachkriegszeit auch das US-Außenministerium und die Besatzungsbehörden in Deutschlandfragen berieten. Zur Schülergeneration dieser um 1900 geborenen Emigranten gehörten die prägenden bundesrepublikanischen Intellektuellen der Geburtsjahrgänge um 1930. In den 1950er und 1960er Jahren schwammen sich viele von ihnen in Auseinandersetzung mit Amerika frei von der Enge der deutschen Denktraditionen, die die Adenauerzeit dominierten.

Besonders die in die USA emigrierten Hitler-Flüchtlinge ermöglichten dem akademischen Nachwuchs in der Bundesrepublik Einsicht in Alternativen zum autoritären Staats- und Gesellschaftsverständnis, das trotz zweier Weltkriege und über Systembrüche hinweg mit erstaunlichen Kontinuitäten aus dem Kaiserreich in die Nachkriegszeit transferiert worden war. Der transatlantische Professoren- und Studierendenaustausch nahm ungekannte Ausmaße an.

Bezeichnend für die enge – ideelle, nicht institutionelle – Anlehnung junger Westdeutscher an amerikanische Einflüsse ist etwa die Verbindung von Jürgen Habermas (* 1929) zu Herbert Marcuse (* 1898). In der Bundesrepublik vertrat vor allem diese im Nationalsozialismus aufgewachsene Generation die Hinwendung zu Demokratisierung und Liberalisierung nach westlichen Vorbildern, wie sie mit dem Jahr 1968 verbunden ist.*

 

Janusgesichtiges Epochenjahr: USA/Deutschland 1968

Wohl kein anderes Jahr der neueren deutschen Geschichte ist in seiner Bedeutung und Bewertung so umstritten wie 1968. Nicht ein singuläres Ereignis bildet seine Signatur, sondern der allgegenwärtige Protest. Seine Ambivalenz ist unübersehbar: Proteste orientierten sich an den USA, nahmen Themen und Aktionsformen dortiger Proteste auf. Dennoch galten und gelten sie vielfach als antiamerikanisch. Das ist jedoch ein Kurzschluss.

Die implizite Forderung lautete: Amerika soll ein Vorbild sein, damit wir Amerika nacheifern können! Die Befreiung vom NS-Staat 1945 sollte mit der Befreiung von der Last der deutschen Vergangenheit wiederholt werden, indem man sich an Amerika orientierte. Das versuchten ganz verschiedene Gruppierungen in Deutschland auf ihre eigene Weise umzusetzen, von den Hippies bis zu Helmut Kohl. Und wenn heute ein Aufschrei durchs Land geht, weil Barack Obama das Handy von Angela Merkel überwachen ließ, besagt das auch, dass wir die ungekrönte Königin Europas gerne genauso cool und souverän hätten, wie der Präsident Amerikas wirkt.

Diese Souveränitätskrise 2013 trotz der mehrfachen Betonung bundesrepublikanischer Souveränität 1955, 1968 und 1991 gehört mit zum Komplex des gemeinsamen Scheiterns von Demokratie, Recht, Freiheit und Sozialstaatlichkeit in den Grenzen des Nationalstaats. Selbst bei uneingeschränktem Vorliegen dieser Elemente könnte ein Staat keine Legitimität aus ihnen schöpfen, wenn er sie nicht in den eigenen Grenzen garantierte. Wer nicht souverän ist, kann aber nichts garantieren.

Die Beseitigung von Grundrechten und Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, die Josef Foschepoth insbesondere am G10-Gesetz der Großen Koalition 1968 festmacht (zweiteiliger Vortrag), schränkt Demokratie, Recht und Freiheit und damit die Normgeltung seither in dem Maße ein, in dem sie den Staat wehrhaft machen, ihn vor seinen Bürgern schützen soll. Die Bundesrepublik hat laut Foschepoth ihren freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter zumindest in diesem Bereich der staatlichen Überwachung im Jahr 1968 verloren – eingetauscht gegen eine vermeintliche Souveränität.

 

Gemeinsame Zukunft: Deutschland/USA 2013

Mit dieser Scheinsouveränität kann niemand etwas anfangen. Sie taugt ebenso wenig zur Stabilisierung der Normgeltung wie Scheindemokratie, Scheinrechtsstaat und Scheinfreiheit. “The Handyüberwachung Disaster“, wie The New York Times es nannte, gefährde die transatlantische Zusammenarbeit, die heute notwendiger sei denn je. Derweil kündigt Die ZEIT den USA die Liebe auf und titelt “Goodbye, Freunde!

Zwischenstaatlich scheinen die Konzepte Demokratie, Recht und Freiheit ohnehin nicht zu existieren, wenn Menschenrechte und internationale Abkommen keinerlei Bindungswirkung für staatliches Handeln – insbesondere der USA – entfalten. Zwischen Staaten herrschen demnach bloße Gewaltverhältnisse.

Alle Versuche, diesem Problem zu entfliehen, sind bislang gescheitert. Die Liebe zu Amerika aufzukündigen, ist sicher auch keine Lösung, erst recht nicht für Transatlantiker wie Helmut Schmidt und Josef Joffe. Die rufen in der ZEIT zwar nach einer realistischen Grundlage der deutsch-amerikanischen Beziehungen, drohen dabei aber grafisch mit einer Trennung vom Geliebten, die sie unmöglich ernst meinen können. Wahrscheinlich sind sie nur beleidigt, dass das nichts Exklusives ist mit den USA. Die überwachen ja alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Deshalb finde ich es an der Zeit, die Beziehung zu legitimieren:
 

Liebe Amis!

Bitte heiratet uns endlich! Privilegierte Partnerschaft finden wir doof, das können wir mit allen haben. Nur mit Euch wollen wir die Ehe eingehen. Wir haben unsere Angelegenheiten soweit geregelt, nun wollen wir von ganzem Herzen Euer 51. Bundesstaat werden.

Wenn Ihr nicht wollt, dass wir sie mit in die Ehe bringen, lassen wir auch das mit der EU sein. Die sind eh nicht so cool wie Ihr und werden nie so richtige Vereinigte Staaten von Europa. Aber wir können zusammen dann echt mal Demokratie, Recht und Freiheit souverän genießen, und das mit der Sozialstaatlichkeit, das kriegen wir gemeinsam auch noch hin.

In Liebe
Eure Germans


* Ich untersuche in meinem laufenden Promotionsprojekt die Wirkung transatlantischer Gastprofessoren auf die deutschsprachige Geschichtswissenschaft.

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