von Frank Stauss, 15.1.15
Irgendwann in den 1980er Jahren entstand ein vielfach bemühter und am Ende auch etwas überstrapazierter Slogan der Umweltbewegung: „Wir benehmen uns, als ob wir eine zweite Welt im Kofferraum hätten.“
Heute ist es angebracht zu sagen: „Wir benehmen uns, als ob wir eine zweite Demokratie im Kofferraum hätten.“ Die Verachtung des Staates, von Politikern, Institutionen und Parteien ist bei weitem kein Phänomen der PEGIDA. Diese Verachtung zieht sich durch unsere Sprache und Debattenkultur – nicht nur im feigen Rückzugsraum anonymer Netzkommentare.
Vom „gutbürgerlichen“ Milieu bis zur linksautonomen Szene finden sich immer wieder grobe Vereinfachungen und Diffamierungen mit Verhetzungscharakter. Da geht es um „Die da oben“ (als ob die sich da selbst installiert hätten und nicht gewählt wurden), um „Die Politiker“ (sind die wirklich alle so schrecklich – und werden die nicht auch gewählt?) „Die Reichen“ (Wo beginnt das, wo hört das auf? Und warum nicht gleich: „Die reichen Juden“, woher der Vorwurf ja eigentlich mal kam?), „Die Parteien“ (diese bestehen zu 95% aus engagierten, unbezahlten Menschen) und natürlich um „Die Medien“. Einbezogen werden aber häufig auch staatliche Verfassungsorgane, Parlamente, Richter, Sicherheitsbehörden etc. Grundsätzlich sind „Die“ dabei immer inkompetent, korrupt, verachtenswert, böse oder alles zusammen. Die Wütenden machen sich selbst immer gerne besonders klein („wir da unten“) oder besonders groß („die dummen und ungebildeten Politiker, Journalisten“ usw.)
Einer klaren Menschenverachtung wird in Foren noch häufig widersprochen, Staatsverachtung ist hingegen in nahezu allen Kreisen gesellschaftsfähig. Staatsverachtung in einer Demokratie ist aber nicht weit entfernt von Demokratieverachtung. Denn der Staat ist ja nichts anderes als ein organisiertes Gemeinwesen – in Demokratien, auf demokratischem Fundament, mit funktionierenden, sich gegenseitig kontrollierenden Organen, einer freien Presse und freien Bürgern, die sich nur einem fügen müssen: dem demokratischen Mehrheitsentscheid. Dies ist der ultimative Test für jeden mündigen Bürger. Und zwar vor allem dann, wenn demokratische Wahlen Mehrheiten ergeben, die einem persönlich nicht passen. Nach aktuellen Umfragen kommen die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD zusammen nah an die 70%. Addiert man Grüne und Linke hinzu, so erreichen die im Bundestag vertretenen Parteien rund 90% Zustimmung – und zwar bei allen Befragten, inklusive der Nichtwähler, die nach allen Erkenntnissen der Wahlforschung eben nicht automatisch zum Protestpotenzial gezählt werden dürfen. Seit der Bundestagswahl 2013 hat sich also so gut wie nichts verändert. Das kann man mögen oder nicht. Es ist so. Wer Demokratie wirklich innerlich respektiert, der muss damit klarkommen, dass er unter Umständen ein Leben lang wählen geht – und ein Leben lang bei den Verlierern ist. Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin als Sozialdemokrat in Baden-Württemberg aufgewachsen.
Eine Demokratie muss aushalten, dass ihre Repräsentanten und ihre Institutionen kritisiert und kontrolliert werden – sie kann auf Dauer nicht aushalten, dass diese Kritik in einer Mischung aus Diffamierung, Verschwörungstheorien oder Sündenbockrhetorik zu einem Dauerbeschuss ausartet. Denn dieser Dauerbeschuss bleibt nicht ohne Folgen und findet am Ende dort einen Resonanzboden, wo man ihn am wenigsten haben möchte.
Deutschland ist heute eine stabile, weltweit respektierte und auch wehrhafte Demokratie. Eine Selbstverständlichkeit ist diese Staatsform deswegen aber noch lange nicht. Auf deutschem Boden sind Unfreiheit und Diktatur der historische Normalfall und Demokratie die Ausnahme. Dies sollte sich jeder auch bezüglich seines eigenen Verhaltens immer vor Augen führen. Die Demokratie ist eine schützenswerte Minderheit unter den Staatsformen der Deutschen.
Bedroht wird die Demokratie nicht nur von klassischen Anhängern des Totalitarismus, sondern auch durch Egozentrik und Hybris. 2013 gipfelte dies in einem Aufruf im SPIEGEL zum Wahlboykott, da der Gastautor von 34 wählbaren Parteien seine eigenen Vorstellungen nicht 1:1 zum Ankreuzen vorgesetzt bekam. Die bequeme Vorstellung eines Paschas, mit 5-Sterne-Service-Anspruch an die Demokratie. Aber natürlich auch eine Selbstüberhöhung und Verachtung gegenüber den 73% Wählerinnen und Wählern, die dann offenbar alle nur dummes Zeug wählten. Zu Ende gedacht, führt diese Haltung zu einem Stände- oder Klassenwahlrecht. Bürger mit meiner Meinung bekommen dann drei Stimmen, die anderen nur eine. Mit Demokratie hat das herzlich wenig zu tun, aber mit Elitendiktatur.
Der Grundsatz einer wahrhaften Demokratie beruht auf freien und gleichen Wahlen. Und „gleich“ bedeutet: eine Stimme für jeden und jede. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass Wahlen in Deutschland nicht frei und gleich wären. Wer das Ergebnis von freien und gleichen Wahlen aber nicht respektiert, betrachtet sich selbst als Übermensch. Diese Grundeinstellung ist kein Exklusivrecht der PEGIDAs, sondern findet sich auch in anderen gesellschaftlichen Gruppierungen. Aus dieser Grundeinstellung nährt sich die größte Gefahr für unsere Demokratie: die Verachtung von Mehrheitsentscheiden.
Die politische Debatte – vor allem im Netz – aber auch in anderen Medien ist in den letzten Jahren schärfer und polemischer geworden. Skandalisierungen bringen Klicks und Auflage, Differenzierungen weniger. Beschädigt bleibt am Ende unser Gemeinwesen zurück. Besonders in Zeiten zunehmender Individualisierung ist es wichtig, immer wieder klar zu betonen, dass die Demokratie nie die Diktatur des einzelnen Willens sein kann, sondern nur die kollektive Vergabe von Macht auf Zeit. Halten wir aber nur noch unsere eigene Meinung für die einzig legitime, laufen wir Gefahr, immer mehr Staatsverächter heranzuziehen. Diese marschieren am Ende nicht nur durch Dresden, sondern begründen aus dieser Verachtung heraus Anschläge auf staatliche Institutionen, Polizisten, Richter, Politiker und andere. Weil der Staat der Feind ist oder Dinge nicht so regelt, wie man es gerne hätte, nimmt man das selbst in die Hand. So geschehen in Oklahoma (McVeigh), Oslo (Breivik) und auch in Deutschland (NSU).
Es ist Zeit, unsere Haltung gegenüber diesem Land und seiner demokratischen Gesellschaftsordnung zu überdenken. Hierzu gehört auch, zu betonen, dass die Gemeinschaft nie in der Lage sein wird, jedes individuelle Problem und jede Unzufriedenheit lösen zu können. Die Gemeinschaft kann nie Ersatz sein für Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortung – auch nicht im persönlichen Scheitern. Sie kann nur Hilfe leisten und gute Rahmenbedingungen schaffen. Das macht Deutschland heute so gut, wie noch nie in seiner Geschichte – und dennoch nicht perfekt.
Dieses Land stetig zu verbessern, bleibt Auftrag für alle seine Bürgerinnen und Bürger – nicht nur für die Politiker. Hierzu gehört die Benennung von Problemen und Defiziten. Sonst gäbe es ja keinen Fortschritt. Aber die Anerkennung, dass Deutschland heute ein besseres Land ist als je zuvor, macht wesentlich bessere Laune, um am Ende Probleme auch lösen zu können. Diese Anerkennung ist auch eine Respektsbekundung für fast 70 bzw. 26 Jahre stabile Demokratie und die Generationen von Deutschen, die daran mitgewirkt haben. Eine ermutigende Erfolgsgeschichte. Sorgen wir dafür, dass wieder mehr Menschen Freude an der Gestaltung der Zukunft bekommen. Konstruktiv und engagiert an einem besseren Land zu arbeiten – was kann eigentlich befriedigender sein? Wo auf der Welt gibt es bessere Voraussetzungen dafür? Und was kann ein besserer Gegenpol sein zu den destruktiven Griesgramen, die für ein paar Wochen ihre fruchtlosen, energiefressenden Bahnen durch Dresden zogen? Empört Euch jetzt nicht nur über PEGIDA & Co. Engagiert Euch für das demokratische Deutschland.
Dieser Text erschien zeitgleich auch auf frank-stauss.de. Er ist der zweite Teil von „Nach PEGIDAs Ende“.