#onezerosociety

Das Zero-One-Game: Politik als Spiel

Ein Teil der Leute glaubt nichts mehr von dem, was so drastisch kolportiert wird. Auch nicht die Erzählungen von der drohenden Klimakatastrophe, die als ein Superlativ unter vielen wahrgenommen werden kann. Ein anderer Teil ergeht sich in Endzeitfantasien.

von , 11.9.20

Politik ist eine ernste Sache. Es geht um Geld, Macht und Ressourcen. Gegenwärtig, und das ist kulturgeschichtlich neu, steht sogar die Existenz selbst auf dem Spiel, also die Frage, ob und wie lange Menschen noch auf diesem Planeten leben können. Gleichzeitig allerdings mutiert im digitalen Zeitalter Politik mehr und mehr zum Spiel. Zeichen ohne Bedeutung treiben ihr Unwesen.

»Wer so viel testet«, agitierte der US-Präsident Donald Trump im Sommer 2020 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bezug auf die Corona-Pandemie, »wird mehr Fälle finden. Deshalb habe ich meinen Leuten gesagt, dass sie langsamer testen sollen.« Was nicht als Zahl kolportiert werden kann, existiert folglich nicht oder hat zumindest keine Relevanz. Nun ist diese Selbstermächtigung des Königs nicht neu. Trump ist der restlos narzisstisch entfesselte Gestalter seines Universums. Gleichzeitig jedoch verkörpert er einen Zeitgeist, eine politische Kultur, die einen gehörigen Abstand zwischen politisch nutzbare Zeichen und die Wirklichkeit gebracht hat.

Während allerdings bei unzähligen Tweets und Behauptungen seiner Hoheit noch Streit entbrennen konnte, während noch debattiert wurde, was wirklich war, ist Trump den Weg restloser Simulation diesmal zu Ende gegangen. Er macht keinen Hehl daraus, dass politisch nützliche Zahlen von der Zählung und nicht von der Wirklichkeit abhängen. An genau diesem Punkt ergibt es keinen Sinn mehr, Trumps Aussagen mit irgendeiner Wirklichkeit abzugleichen. Er hat sie kassiert. 

Spätestens mit Trump ist das politische Geschäft in weiten Teilen in die mediale Echtzeit eingestiegen, es hat sich digitalisiert. Die Zero-One-Society als technische Struktur und Kultur greift um sich. Eigenwillig gewichtet, verdreht oder gelogen wurde zwar schon immer. Das ist gewissermaßen die zweite Natur der Politik. Gegenwärtig allerdings müssen sich Lüge und Erfindung nicht mehr verstecken; selbst Andreas Scheuer (CDU) ist im Juli 2020 immer noch im Amt. Sie entfalten ihre Wirkung und werden im Hochgeschwindigkeitsgeschäft des Medialen, also der Informationsgesellschaft, umgehend verstoffwechselt. Ihr Status als Verdrehung oder erfundene Behauptung geht in der Masse der Fiktionalisierungen unter. Eine Geschichte jagt die nächste, und was relevant wird, entscheidet kaum mehr die Wirklichkeit. Es ist machtpolitisch nicht mehr relevant, was stimmt und was nicht. »Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte [oder] des Begriffs«, schrieb der französische Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard schon in den 1980er Jahren. »Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung« also »eines Hyperrealen.« Im Raum digitaler Politik scheint die Wirklichkeit ihr Vetorecht verloren zu haben.

Wir kennen das wüste Behaupten und wilde Übertreiben auch aus anderen Zusammenhängen: Nach Ausschreitungen in Stuttgart übertrumpften sich politische Akteure mit Superlativen, von »Zivilisationsbruch« oder »Bundeskristallnacht« war die Rede. Die Gewalt gegen die Polizei erreiche immer neue Höchststände, glaubt man den Polizeigewerkschaften und einigen Innenministern. Für den medialen Spin und das Gemüt einiger Polizeigranden überlegte man sogar, eine Journalistin zu verklagen, die sich im Ton vergriffen hatte. Zwar war allen Beteiligten klar, dass der Vorgang nur zur Irritation der Öffentlichkeit gut war, so lächerlich wäre die Klage gewesen. Aber es hat funktioniert: Einige Zeit sprachen alle vom Horst und seinem Versuch, die taz mundtot zu machen. 

Offenkundig geht es jeweils nicht darum, die Ereignisse einzuordnen oder aufzuarbeiten, die richtigen Fragen zu stellen und aus Fehlern zu lernen oder gar künftig Dinge anders zu machen. Stattdessen wird ein genau genommen fast beliebiger Anlass dazu genutzt, immer drastischere Begriffe und Bilder aufzufahren, um weiter Aufmerksamkeit zu generieren. Das geneigte Publikum wird es schon goutieren.  

Diese Schlacht um Aufregung und die Inflation der Superlative ist Teil eines Gamification-Prozesses, wie ihn Arne Vogelgesang unter dem Titel »Let’s play Info-Krieg« 2019 beim Chaos Computer Club präzise erläuterte. Ihm ging es eher um tatsächliche Gamer und rechte Spinner. Politik allgemein allerdings mutiert vielerorts zum Spiel digitaler Zeichen, woraus ein ganz neues Set an Fragen erwächst: Wer kann das eigene Narrativ breit streuen und über kurz oder lang in den Rang einer mindestens gefühlten Wahrheit heben? Wer klappert am lautesten, findet reißerische Worte und zwingt daher alle anderen, auf den eigenen Spin zu reagieren? Trump, ohne Zweifel Weltmeister in diesem Spiel, verlor erst an Boden, als die Realität des Virus ihm übel mitspielte.

Ein Beispiel: Seit längerem tobt ein verbitterter Deutungskampf darum, ob die Institution Polizei strukturell rassistisch und über das Maß militarisiert ist. Gleichzeitig taucht die berechtigte Frage auf, ob die Exekutive auf der Straße überhaupt noch zu kontrollieren ist. Oder ist sie, wie vermeintliche Zahlen das Bundesministeriums des Inneren nahelegen wollen, zunehmend Opfer immer heftiger werdender Angriffe? Diese Frage lässt sich durchaus entscheiden, aber polizeinahe Akteure lassen nichts unversucht, um die eigenen Reihen zum Opfer zu stilisieren. Und weil die mediale Zirkulation von Nachrichten Belastbarkeit zur Nebensache degradiert hat, zirkulieren falsche Superlative. Der Ton ist gesetzt und die Gegenseite in Zugzwang. Diese Runde geht an die Apologeten einer vermeintlich unfehlbaren Polizei, der Info-Krieg oder das digitale Spiel der Zeichen nimmt seinen Lauf und koppelt sich von der Wirklichkeit ab.

Anders als bei tatsächlichen Computerspielen wie Valorant oder Fortnight wirkt dieses Spiel mit der politischen Öffentlichkeit jedoch zurück auf die Realität. Nach einer Runde folgt nicht einfach die nächste und alle beginnen wieder am gleichen Punkt. Wenn Baudrillard von hyperreal spricht, meint das nicht losgelöst, unverbunden oder abgekoppelt. Das Game ist nicht einfach simulativ, verdoppelt die Welt oder schafft eine neue. Vielmehr lassen sich Rückwirkungen beschreiben, reale Effekte also, die aus einem überhitzten Mediengeschäft kommen. Die Beispiele türmen sich: Das Klima ist der Politik enteilt, nicht zuletzt weil es Markradikalen und notorisch Reaktionären in Teilen gelungen ist, die Erzählung zu verbreiten, den Klimawandel gäbe es gar nicht; die demokratische Kontrolle der Polizei wird als unsinniges oder gar umstürzlerisches Misstrauen verunglimpft (als wäre blindes Vertrauen in die Staatsmacht jemals demokratisch oder gar liberal gewesen.) Auch hier haben Offensiven im Info-Krieg ihren Anteil.

All das hat Erosionsprozesse zur Folge. Ein Teil der Leute glaubt nichts mehr von dem, was so drastisch kolportiert wird. Auch nicht die Erzählungen von der drohenden Klimakatastrophe, die als ein Superlativ unter vielen wahrgenommen werden kann. Ein anderer Teil ergeht sich in Endzeitfantasien. Die Frage ist ja, was nach dem Superlativ noch kommen soll. Und der altbekannte Bestätigungsfehler treibt seltsame Blüten, weil aus dem Überangebot an »Informationen« alle das heraussuchen können, was ins je eigene politische Korsett passt. Daher ist es vielleicht ratsam, einen Realitycheck neuen Typs zu entwerfen. Vielleicht sollten wir uns häufiger Gedanken machen, welche Aktion, welche öffentliche Kommunikation reale Effekte hat? Was zahlt dagegen auf den Info-Krieg ein? Wo ist digitales Gegenfeuer wichtig? Schließlich ist nicht jede Runde im digitalen Gefecht unnütz. Der Blick auf die Wirklichkeit sollte jedoch nicht noch mehr unter die Räder kommen.



Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Reihe #onezerosociety. Darin gehen wir in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut den Formen, Möglichkeiten und Grenzen einer bestehenden und kommenden »digitalen Zivilgesellschaft« nach.



Weitere Beiträge in der Reihe #onezerosociety:

Johanna Seibt: »Mit Robotern leben lernen«
Nicolas Friederici: »Towards a fair European platform economy«
Natascha Strobl: »Stochastischer Terrorismus«
Daniel-Pascal Zorn: »Eine Geschichte aus zwei Städten«

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