Selbstverständlich sehnen wir uns alle nach der Rückkehr in eine politische Normalität, in der wir unsere Freiheitsrechte uneingeschränkt verwirklichen können. Weil es lange versäumt wurde, sollte die Öffnung von einem differenzierten Dialog über unser Verständnis von Freiheit komplementiert werden.
von Lena Mannhardt, 23.2.22
Voller Vorfreude werfen wir in diesen Tagen mit dem Begriff »Normalität« um uns und können den deutschen »Freedom-Day« kaum erwarten. Auf dem Weg dahin werden hier und da rechte Haken in Richtung Rechtsstaat ausgeteilt. Unterdessen tut sich die Politik schwer, im Rahmen der Pandemie ihren Daseinszweck zu sehen. Abhilfe verspricht die Endemie.
Angestoßen von den Pionieren im Norden führt auch Deutschland eine Debatte über die Rückkehr in die »Normalität«. Eine naive Deutung vermutet dahinter, den Wunsch den Status-quo vor der Coronapandemie wiederherzustellen. Das ist selbstverständlich nicht möglich und nicht in jedem Fall wünschenswert. Insbesondere im Berufsalltag scheint die Digitalisierung einen nachhaltigen Schub erhalten zu haben. Ein Großteil der Unternehmen will während der Pandemie eingeführte Maßnahmen, wie digitale Kollaborationstools, die Einstellung von und Beratung durch Digitalexperten sowie digitale Dokumente und Signaturen, beibehalten. Abgesehen davon wurde mit den Impfstoffen von Biontech/Pfizer und Moderna die mRNA-Technologie erstmals breit angewendet. Von den gesammelten Daten wird in Zukunft vor allem die Krebsbehandlung profitieren. Was verbirgt sich also hinter dem Ruf nach Normalität?
Sucht man nach Synonymen für »normal«, stößt man auf Begriffe wie »alltäglich«, »gängig« oder »herkömmlich«. Normalität steht also im Zusammenhang mit einem Empfinden der Regelhaftigkeit und an etwas, das regelmäßig auftritt, gewöhnen wir uns. So ist an Normalität unmittelbar das Gefühl von Berechenbarkeit und Kontrolle geknüpft. Doch so wie sich unser Alltag ändert, ist auch unsere Normalität im Wandel. Stellt sich nur die Frage, wie oft wir etwas machen müssen, bis es normal wird? Im Internet kursieren hierzu viele Zahlen: Laut des schweizerischen Gottlieb Duttweiler Institute kann sich eine Gewohnheit bereits ab 66 Wiederholungen bilden. Dennoch weigern sich zahlreiche Menschen, das Tragen einer Maske im Supermarkt als normal anzuerkennen. Darauf hat der Literaturwissenschaftler Jürgen Link, der sich im Rahmen seiner Forschung eingehend mit Normalismus beschäftigt hat, eine Antwort: »So lange die Krise akut ist, haben wir Denormalisierung, Verlust von Normalität, das ist keine Änderung der Normalität, was sich ändert, ist die Realität. Aber eine neue Realität heißt noch längst keine neue Normalität.« Über ein bloßes Gefühl hinaus, sei die Idee der Normalität in der Wissensgesellschaft auch in statistischen Verteilungen zu finden, so Link.
Hat man etwa die sogenannte Normalverteilung der Statistik im Hinterkopf, scheint Normalität ein Phänomen der Zweidrittelmehrheit und der Mitte zu sein. Nicht ohne Grund bedient sich die Politik gerne dieses bodenständig und bescheiden anmutenden Bildes. Als Volkspartei der Mitte erhebt die CDU den Anspruch, die Mehrheit der Gesellschaft zu repräsentieren, denn – zurück zur Gauß’schen Verteilung – die streut sich schließlich um den Mittelwert. Mit der durch die CDU vorgegebenen Leitkultur als Mittelwert, wird außerdem offenbar, inwiefern die Vorstellung eines Standards oder von Normalität auch der Ein- und Ausgrenzung dient. So will die CDU in Niedersachsen das Integrationsgesetz ändern und Migrant:innen in Zukunft per Vertrag dazu verpflichten, sich der deutschen Leitkultur zu beugen. Gleichermaßen zog die AfD 2021 mit dem politischen Slogan »Deutschland. Aber normal.« in den Wahlkampf. Ebenso wie der CDU ging es auch der AfD darum, eigene Positionen zu normalisieren und abweichende Standpunkte als nicht normal zu brandmarken. Wenn Alice Weidel also von der Rückkehr in die Normalität spricht, spielen sich vor ihrem inneren Auge mit hoher Wahrscheinlichkeit völlig andere Szenen ab als bei Janine Wissler. Während die AfD beim Gedanken an den Alltag vor Corona idyllische Szenen lachender Familien mit Vorgarten, Gartenzwergen und Zäunen motiviert, verweist die Linke eher auf gesellschaftliche Ungleichheiten wie die Marginalisierung der Frau als wirtschaftliche Akteurin. Unterm Strich ist Normalität ein normatives Konstrukt, das spezifische Sollens-Vorstellungen beinhaltet. Im Rahmen der öffentlichen Debatte über die Rückkehr zur Normalität beziehen sich diese Sollens-Vorstellungen vor allem auf die politische Ebene und die Realisierung der Freiheitsrechte von Bürger:innen.
Das ist legitim und berücksichtigt, so wie es Christian Dürr von der FDP ausdrückt, folgendes: »Der selbstverständliche verfassungsrechtliche Normalzustand ist, dass es keine Freiheitseinschränkungen in Deutschland gibt.« Jedoch verbirgt sich hinter einigen der Rufe nach dem Erlass der Eindämmungsmaßnahmen ein vereinfachtes Verständnis von bürgerlicher Freiheit. Eine libertäre Auffassung von Freiheit, die, während sie nach der Maximierung individueller Freiheit strebt, jeden Beschnitt dieser als autoritär empfindet. Das zeigt nicht zuletzt der Vorwurf der »Coronadiktatur«, womit sein Urheber einen politischen Coup gelandet hat. Schließlich ist das Unwort seither zum geflügelten Begriff und der Munition sich radikalisierender Gegner:innen der Coronapolitik geworden. Vereinfacht ist diese radikal libertäre Idee der Freiheit, weil sie verkennt, dass Freiheit und Sicherheit, Individuum und Gesellschaft auch im Normalzustand austariert werden. Im Ausnahmezustand wird das Spannungsverhältnis nur derart offenbar, dass es Tausende mobilisiert. Aus eben diesem Grund schreckt ein Großteil der Politiker:innen vor dem Begriff des »Freedom Day« zurück. Schließlich könnte er suggerieren, dass vor dem Erlass aller Maßnahmen Unfreiheit geherrscht hätte. So kam mit den Eindämmungsmaßnahmen auch ein neues, wenn jedoch simplifiziertes, Bewusstsein für die eigenen bürgerlichen Freiheiten. Zudem führte der Ausnahmezustand der Pandemie zu einem Bruch der Regelhaftigkeit des Alltags und für viele Menschen einem Kontrollverlust. Im Vorher-Nachher-Vergleich lassen sich noch einige andere Dichotome bilden: Normalzustand versus Ausnahmezustand, Normalität versus Denormalisierung, Freiheit versus Unfreiheit, Demokratie versus Diktatur, Regelhaftigkeit versus Irregularität, Vorhersagbarkeit versus Unvorhersagbarkeit, Gewissheit versus Ungewissheit. Letztlich gehört in diese Reihe auch die Polarität von Endemie und Pandemie, wobei letztere in der öffentlichen Debatte an dem katastrophalen, erstere dem harmlosen Ende des Spektrums verortet wird.
Aus der diskursiven Kopplung von Endemie und Normalität, Freiheit, Regelhaftigkeit und Vorhersagbarkeit geht die Endemie als verheißungsvolle Alternative zum denormalen Trott der Coronapandemie hervor. Jakob Simmank drückt es in ZEIT ONLINE so aus: »Wie so viele Begriffe in dieser Pandemie ist das Wort »Endemie« zu einer Projektionsfläche geworden. Es steht für die Hoffnung darauf, dass das Leben bald wieder genauso (gut) sein wird wie vor der Pandemie (…).« Die Forderung nach der Rückkehr zur Normalität oder dem Erlass aller im Zusammenhang mit Corona stehenden Restriktionen wird mit der Entwicklung der Inzidenz- und Hospitalisierungsrate begründet. Hieraus soll auch die Umdeklarierung der Coronapandemie zur Endemie resultieren, was für die Politik sowie Bevölkerung ein Befreiungsschlag wäre. So sinniert Markus Söder auf Twitter zuversichtlich darüber, dass Corona endemisch werde: »Nach zwei Jahren mit #Corona wünschen wir uns alle Hoffnung: Wir können in der #Omikron-Wand eine Tür öffnen und vielleicht den Weg von der Pandemie in die Endemie gehen.« Ironischerweise hat sich gerade Markus Söder lange als der, der auf Nummer sicher geht, vermarktet und sich in Bayern für besonders strenge Maßnahmen eingesetzt. Allerdings ist der bayerische Ministerpräsident fürs Hakenschlagen bekannt.
Doch was bedeutet es, Corona eine endemische Krankheit zu nennen? Obgleich es zur Definition des Konzeptes »Endemie«, wie im theoretischen Diskurs üblich, durchaus kontroverse Debatten gibt, kann man sich dennoch auf einige populäre Charakteristika einigen. Laut dem Robert Koch-Institut folgende: »Ständiges (zeitlich unbegrenztes) Vorkommen einer Krankheit oder eines Erregers in einem bestimmten Gebiet oder einer bestimmten Bevölkerung.« Als endemisch kann ein Virus also dann gewertet werden, wenn es sich in einer bestimmten Region oder Bevölkerung einnistet. Salopp ausgedrückt, sind endemische Viren hier, um zu bleiben. Ein bekanntes Mitglied im Club der endemischen Krankheiten ist die Grippe. Wir Deutschen kennen sie und leben mit ihr, vor allem während der Grippesaison. Wie ein fester Bestandteil der jährlichen Festlichkeiten rollt zum Jahreswechsel eine Grippewelle durch Deutschland. Weltweit hatten von 2019 auf 2020 circa 38 Millionen Menschen Grippesymptome, bei 22 Millionen von ihnen hatte die Krankheit einen fatalen Verlauf. Im Vergleich hierzu die Malaria: Auch sie gilt als endemisch, fordert global pro Jahr jedoch insgesamt über 600 Millionen Opfer ein. Eine Mitgliedschaft im Club der endemischen Krankheiten steht also in keiner Verbindung zur Gefährlichkeit eines Virus oder einer Krankheit. Ebenso wenig ist der Übergang von einer Pandemie – oder im nationalen Kontext einer Epidemie – zur Endemie ein Indikator für Fortschritt. Schließlich findet man im epidemiologischen Fachwörterbuch des RKI zum Tatbestand einer Epidemie, dass diese »zeitlich und räumlich begrenzt« sei, während eine Endemie zeitlich entgrenzt sein soll.
Selbstverständlich sehnen wir uns alle nach der Rückkehr in eine politische Normalität, in der wir unsere Freiheitsrechte uneingeschränkt verwirklichen können. Weil es lange versäumt wurde, sollte die Öffnung von einem differenzierten Dialog über unser Verständnis von Freiheit komplementiert werden. Anstelle des haltlosen Vorwurfs einer Diktatur, geht wohl eher der Befund, die Politik der vergangenen zwei Jahre sei technokratisch gewesen, in die richtige Richtung. Jüngstes Beispiel: Die Übertragung politischer Entscheidungsgewalt an das Paul-Ehrlich-Institut und Robert Koch-Institut in der Frage des Impf- und Genesenennachweises. Prompt verkürzte das RKI die Gültigkeit des letzteren für alle Ungeimpften auf drei Monate und weitete damit den Geltungsbereich der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen aus. Verständlicherweise wurde das scharf kritisiert, unter anderem auch vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestags, der diesen Schritt in einem Gutachten für verfassungswidrig hält. Nach reichlichem Getöse hat sich das Bundesgesundheitsministerium dann dazu entschieden, die an RKI und PEI übertragene Entscheidungsgewalt wieder ins eigene Haus zu holen. So wie hier im Kleinen geschehen, sollte sich die Politik wieder ein Stück weit emanzipieren und lernen, zwischen Sachfragen und Wertefragen zu unterscheiden. Ob das momentane Infektionsgeschehen eher eine Endemie oder Epidemie ist, ist eine Sachfrage, die gerne den Wissenschaften überlassen werden kann und nicht mit falschen und trügerischen Hoffnungen aufgeladen werden sollte. Mit der Debatte über die Rückkehr zur Normalität zeichnet sich ein Silberstreifen am Horizont ab. Nicht nur, weil wir das Wochenende bald wieder in der Bar einläuten oder mit Tausenden von Fans im Stadion sitzen können, sondern auch, weil die »Normalität« eine Menge an Wertefragen aufwirft und der Politik so die Chance auf ein waschechtes Comeback bietet.